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Geile Wurst: Der ESC war ein Marathon aus Schmerz, Unglauben und der ganz großen Überraschung

Uns gehen wirklich langsam die bescheuerte Wurst-Wortspiele aus. Wir haben uns trotzdem den ESC gegeben.

Europa—ein stolzer, facettenreicher Kontinent mit durchwachsener Geschichte. Trotz zwei Weltkriegen und aktuellen politischen Spannungen wollen wir uns tief im Inneren aber doch alle in den Armen liegen und wie könnte man das besser ausdrücken als mit einem Abend, an dem sich alle verrückt anziehen und ihr aktuelle Single trällern? Gar nicht, deswegen bin ich stolz sagen zu dürfen, dass wir uns unser halbes Leben freigenommen haben, um den diesjährigen Eurovision Song Contest für euch zu gucken. Vorhang auf, für die…

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…Pre-Show in Hamburg. Offensichtlich wurde die halbe Reeperbahn abgesperrt, semi-betrunkene Menschen vor der Bühne zusammengetrieben und Barbara Schöneberger aus ihrer Gebärmaschinen-Vorrichtung befreit, um all den ARD-Zuschauern da draußen zu zeigen, wie glamourös und frisch die Öffentlich-Rechtlichen wirklich sein können. Natürlich ist die wandelnde Nasennebenhöhlenentzündung Jan Delay auch dabei.

Was viele nicht wissen: Wenn Adel Tawil nass wird, verwandelt er sich in Heino.

Damit dem Publikum bei all den spektakulären Auftritten der Leute, die schon beim Echo am Start waren, nicht langweilig wird, schaltet die Regie zum offiziellen Fanclub unserer ESC-Kandidatin Elaiza. Es sind exakt sieben Leute. Immerhin.

Und hier haben wir sie, den Stolz unserer Nation—zumindest für heute. Schnell wird im Einspieler noch mal auf ihre polnisch-ukrainischen Wurzeln verwiesen, um schon vor der Performance ein paar Stimmen aus dem Ausland abgreifen zu können. Während Elaiza wie ein Igel auf LSD bereits erste Impressionen aus der Veranstaltungshalle in Kopenhagen wiedergibt, zucken ihre Bandkollegen besorgniserregend vor sich hin. Haben sie eine besonders rhythmische Art von Tinnitus? Hat Elaizas Blazer einen Anfall ausgelöst?

Ex-Kandidatin Michelle darf ihren einen großen Hit „Wenn Liebe Lebt“ performen und das Publikum ist sich offensichtlich unsicher, warum es nicht einfach in der Kneipe geblieben ist, statt dem sympathischen Mann vom Fernsehen ins Verderben zu folgen.

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Anscheinend werden die Punkte nicht mehr ausschließlich vom Publikum, sondern zu 50 % auch von einer nationalen Jury entschieden. Wer sind hierzulande die relevantesten Vertreter der Musikbranche, denen man so eine wichtige Aufgabe zumuten könnte? Richtig: Sido, der Manager von Tim Bendzko und Jennifer Rostock.

Pastorin Annette Behnken Wennigsen leitet ihr quälend langes Wort zum Sonntag mit „Is it weit or is it wong?“ ein und bezeichnet den Eurovision Song Contest als „Spiel, das unsere Sehnsucht nach einer besseren Welt ausdrückt“. Anschließend gibt es noch einen Auftritt von Helene Fischer, die deutsche Antwort auf Jesus und schon…

…lediglich 45 Minuten nach dem Beginn der Übertragung, beginnt er dann auch endlich: der ESC 2014 aus Kopenhagen, Dänemark. 26 Kandidaten kämpfen um den Prestige-trächtigen Award, der absolut die falsche Größe hat, um ihn in einer Vitrine aufzubewahren. Werden wir die Spannung ertragen können? Der anwesende Hund ist eingeschlafen, meine Screenshot-Assistentin bereits außerordentlich betrunken.

Nachdem in einem kurzen Introfilm mehrere Leute aus Hubschraubern gesprungen sind, um fancy Stunts mit Motorrädern zu machen, schwenkt die Kamera zum Kill Bill-Soundtrack ein erstes Mal durch die Veranstaltungshalle und landet schließlich auf dem dänischen Moderatorenteam. Ich spreche jetzt einfach mal aus, was alle denken: Der Rechte ist heiß und sieht aus, als hätte er mit diesem Abend innerlich bereits abgeschlossen.

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Der Wettbewerb startet mit Ruslana aus der Ukraine, die über die komplette Länge ihres Songs „Tick-Tock“ einen Mann im Hamsterrad anschreit. Ein popkultureller Kommentar zur aktuellen politischen Situation in ihrer Heimat? Keine Ahnung. Wie der Off-Sprecher verrät, hat die Dame mit dem eher dünnen Stimmchen zwei Bachelor-Abschlüsse, darunter auch einen in Gesang. Ach hätte sie doch noch den Master drangehängt.

Weißrusslands Vertreter Teo legt die Flagge seines Landes aus Eishockey-Pucks und performt anschließend eine Robin Thicke-Parodie allererster Güte. „Cheesecake“? Warum nicht.

Weil sich anscheinend jeder Teilnehmer im Vorfeld ein kleines Kunstprojekt überlegen musste, lädt Aserbaidschans First Lady Dilara Kazimova zum fröhlichen Basteln mit Transparentfolie. Ihre Ballade „Start A Fire“ finde nicht nur ich, sondern auch der deutsche Kommentator langweilig, der es sich im Allgemeinen scheinbar zur Aufgabe gemacht hat, jeden einzelnen Kandidaten zu hassen. Ich glaube, ich liebe ihn.

Island schickt die Hipster-Powerrangers „mit einem Song, der für Toleranz gegenüber Stotterern wirbt“ (O-Ton ARD). Sie haben die besten Anzüge, auf der Bildschirmwand hinter ihnen spielt jemand Candy Crush Saga und McFitti im Strampelanzug ist auch dabei. Pollapönk mit „No Prejudice“ kriegen schon jetzt 12 Punkte von mir.

Wer vom Moderator schon mit „seine Gesangsbegabung hatte er lange verdrängt“ angekündigt wird, kann eigentlich nur verlieren. Carl Espen aus Norwegen sieht über die komplette Länge von „Silent Storm“ aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Allerdings bleibt unklar, ob es an dem vielen Bühnennebel oder seinen Ärmelaufschlagen in blauem Tarnmuster liegt. Bisher alles in allem der traurigste Auftritt.

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Das rumänische Duo hat in der Vergangenheit schon mal verloren, versucht es jetzt aber nochmal und fährt dabei die ganz großen Geschütze auf. Paula Seling und Ovi stehen vor schlechten Greenscreens, werden von einer Ecke der Bühne auf die andere gezaubert und tragen mit „Miracle“ den bis dato wohl furchtbarsten Song vor. Mein persönliches Highlight: das runde Klavier.

Aram Mp3 tritt mit „Not Alone“ für Rumänien an und jagt mir eiskalte Schauer über den Rücken. Das gruseligste Lächeln seit dem Koks-Skandal um Naddel, ein weit wehender Mantel vor einer Animation, die aussieht wie das Auge von Sauron und einen Blick, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt: Wenn er Punkte bekommt, dann weil die Leute ANGST vor ihm haben. Fun Fact: Auf diesem Bild verspeist Aram gerade seine Mutter.

Sergej Ćetković ist der erste, der mit „Moj svijet" einen Song in seiner Landessprache performt und auch sonst mag es der Mann aus Montenegro eher klassisch. Mit seiner Rollschuh-Ballerina und einem Bühnenbild, das direkt aus den Albträumen jedes Grafikdesigners zu stammen scheint, hat er sich direkt in mein Herz gesungen.

Donatan und Cleo haben mit „My Słowianie - We Are Slavic" einen echten Youtubehit gelandet und auch live hat das polnische Duo aus Produzent und Künstlerin alles, was das Internet mag. Absurde Kostüme, beschissene Rap-Parts direkt aus der Eurotrash-Ära und jede Menge Titten. Eine Frage bleibt aber: Hat Lady Sovereign auch gegen Bushido ausgesagt oder warum ist sie in ein derart fragwürdiges Zeugenschutzprogramm geraten?

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Freaky Fortune und Risky Kidd gehen für Griechenland ins Rennen und wäre ich Angela Merkel, würde ich nach „Rise Up“ sämtliche EU-Rettungsschirme kommentarlos wieder zuklappen. Ich wittere eine baldige Zusammenarbeit mit Prince Kay One.

Conchita Wurst, die Shirley Bassey mit Bart, hat nicht nur den besten Namen, sondern mit „Rise Like A Phoenix“ auch einen der mit Abstand besten Songs am Start. Kein Wunder, schließlich auch der Sohn von Rolf „Die Motherfucking Vogelhochzeit“ Zuckowski Teil des Songwriter-Teams gewesen. 10 Punkte nach Österreich von mir.

Elaiza macht Deutschland-Bonbons, „Is It Right?“ ist ein okayer Song und der Auftritt ist sowohl farblos als auch insgesamt sehr lahmarschig. Das Publikum befindet sich also vollkommen zu Recht im Wachkoma—vielleicht hätte man den Kontrabass zur Seite stellen und ein bisschen BRD-Kamelle in die Menge werfen sollen. Ich muss an Barbara Schöneberger denken, die wahrscheinlich immer noch im Regen sitzt und ihr Leben hasst. Noch 14 Teilnehmer.

Oh, hey there…

Schweden schickt mit „Undo“-Sängerin Sanna Nielsen eine echte MILF ins Rennen…

…während Twin Twin uns ihren Song „Moustache“ verzweifelt als die französische Antwort auf „I’m Sexy And I Know It“ verkaufen wollen. Er ist furchtbar.

Die russischen Tolmachevy Sisters performen zu ihrem eingängigen 0815-Popsong „Shine“ derweil als fleischgewordenes Spiegelkabinett.

Emma Marrone tritt mit „La mia città“ für Italien an und ist alles, was Fergie jemals sein wollte. Ein echter Poprock-Cäsar.

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Tinkara Kovač aus Slowenien versucht bereits seit den 90er Jahren beim Eurovision Song Contest teilzunehmen. Das ist glaube ich das traurigste, was ich jemals gehört habe—ihren Song „Spet (Round And Round)“ miteinbegriffen.

Softengine musste die finnische Flagge vor dem Auftritt mit einer Motorsäge aus einem vereisten See schneiden und hat es überraschenderweise trotzdem mit allen Gliedmaßen nach Kopenhagen geschafft. Ihr Song „Something Better“ ist auch ganz ok und so präsentiert sich die Schüler-Boyband insgesamt als eine solide Mischung aus The Killers und One Direction für die Generation „Glee“.

Eine nasse, leichtbekleidete Spanierin? Mehr braucht es für den Sieg wahrscheinlich gar nicht. Ihre Power-Ballade „Dancing In The Rain“ hätte sich Ruth Lorenzo also auch sparen können.

Nach so viel klatschnassem Sexappeal pfeift und violiniert sich der Schweizer Sebalter überaus öde durch seinen Song „Hunter Of Stars“…

…um anschließend für den deutlich schwermütigeren András Kállay-Saunders aus Ungarn Platz zu machen, der mit „Running“ eines der besseren Stücke des Abends abliefert.

Auftritt Malta. Ich sitze hier seit zweieinhalb Stunden, habe bisher 22 semi-aufregende Performances gesehen und kämpfe seit mehreren Minuten mit dem Korken der Weinflasche, nur um dann eine Amish-Version von Mumford & Sons präsentiert zu bekommen? Nehmt euer „Coming Home“ und geht, Firelight! Ihr habt euch den falschen Moment ausgesucht.

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Beim Auftritt von Basim, dem dänischen Bruno Mars, erleiden mehrere der Backgroundtänzer zu seinem „Cliché Love Song“ einen epileptischen Anfall. Die Schrecksekunde wird vom Publikum aber souverän weggeklatscht.

Wenn The Common Linnets aus den Niederlanden mit „Calm After The Storm“ das Country-Genre wiederbeleben möchten, warum haben sie dann verdammt nochmal kein Pferd auf der Bühne?!

Weil es in San Marino nur eine einzige Sängerin gibt, tritt Valentina Monetta zum dritten Mal in Folge an und präsentiert in diesem Jahr ihren Song „Maybe“. Eine Ballade voller schmerzlicher Hoffnung, die… MOMENT MAL! Trägt sie das Titanic-Herz um den Hals? Hat sie Rose von der zerbrochenen Schiffstür ins kalte Nass gestoßen? Was passiert hier?

Letzter Auftritt. Gott sei Dank. Molly Smitten-Downes geht mit ihrer Ethno-Hymne „Children Of The Universe“ für Großbritannien ins Rennen und verwirrt dabei etwas mit einer Art indischem Game of Thrones-Outfit. Ich sehe sie auf Platz 3.

Der deutsche Kommentator ist mittlerweile offensichtlich komplett betrunken und ebenso erleichtert darüber wie ich, dass jetzt endlich zum Voting übergegangen wird. Die Zuschauer konnten zwar bereits seit Beginn der Show für ihren Favoriten abstimmen, werden jetzt aber nochmals in insgesamt drei Schnelldurchläufen darauf hingewiesen. Weil die Ergebnis-Ermittlung seine Zeit braucht, muss mit abstrusen Einspielern und NOCH MEHR Auftritten aber auch noch ordentlich Zeit geschunden werden.

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Gegen Ende dieser Neuinterpretation von „Freude Schöner Götterfunken“ wird es so aussehen, als wollten sich die Künstler mit Stahlseilen erhängen. Niemand schreitet ein.

Das singende Moderatorenteam bringt spielend Astronauten, Uni-Professoren, Tischtennis und Jesus unter einen Hut und beendet den Videogewordenen Pilz-Trip mit dieser Einstellung.

Nach nur dreieinhalb Stunden voller Spiel, Spaß und Spannung werden nun endlich die Punkte verteilt. Dankenswerterweise wurde die Vergabe pro Land auf die jeweiligen Top 3 gekürzt—bei 39 Nationen ein Gnadenakt allererster Güte. Ich erspare euch die Einzelheiten und präsentiere stattdessen die schönsten Auslands-Korrespondenten.

Es ist vollbracht: Mit unglaublichen 290 Punkten (und somit ganzen 52 Punkten vor den zweitplatzierten Niederlanden) holt Conchita Wurst das Ding vollkommen verdient nach Österreich! Bleibt zu hoffen, dass sie im Vorfeld keine Wetten a la „Wenn ich gewinne, rasiere ich mir den Bart“ abgeschlossen hat. Ansonsten: Wenn „Rise Like A Phoenix“ nicht in die engere Auswahl für den nächsten Bond-Titelsong kommt, wird das Internet wahrscheinlich vor Empörung implodieren. #ProWurst

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