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Vergesst Nirvana, Pearl Jam waren die einflussreichste Band der 90er

Man sagt, Nirvana haben die die Rockmusik für immer verändert, aber tief in unseren Herzen wissen wir, dass es Eddie Vedders Stimme war, die die 90er prägte.

Vor ein paar Jahren habe ich Tom Delonge bei einer Angels & Airwaves Show interviewt. Er gab sich wirklich große Mühe, mir weißzumachen, dass er schon immer von der 70er Mod-Szene beeinflusst war, von der Band The Jam und dem esoterischen Symbolismus des Okkultismus. Ja, das hat er alles wirklich so gesagt. Ich musste mich unglaublich zusammenreißen, um nicht einfach zu antworten: „Ääähm, nein! Du bist der Pimmelwitze-Typ von blink-182, BRO! Du bist mit NOFX aufgewachsen und wir alle wissen das.“

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Tom wollte offensichtlich einfach cooler rüberkommen als er eigentlich ist—was total OK ist. Ich will in Interviews auch immer cool klingen. Und er wollte so klingen, als wäre er cool auf die Welt gekommen. Was ebenfalls verständlich ist. Ich habe blöderweise nur schon genug Neugeborene gesehen, um zu wissen, dass wir alle bescheuert und langweilig auf die Welt kommen und dass der Weg zum Coolsein ein langer und beschwerlicher ist. Es ist doch überhaupt nichts Schlimmes daran, nicht cool auf die Welt gekommen zu sein, oder? Genau. Aber OK, ich versuche mal auf den Punkt zu kommen. Vergiss mal für eine Sekunde Tom Delong und den esoterischen Symbolismus wieder und lass mich dir eine ernstgemeinte Frage über musikalische Einflüsse stellen. Welche von beiden ist auf einer universalen Ebene die wichtigere Band: Pearl Jam oder Nirvana?

Wenn du wie so ziemlich jeder andere Mensch auf diesem Planeten tickst, dann ist bei dir gerade ein verächtliches und leicht mitleidiges Grinsen im Gesicht entstanden. „Was für eine bescheuerte Frage?!“ Ganz klar, Pearl Jam machen nette Musik, die Männer mittleren Alters gerne zum kiffen hören, aber Nirvana waren einfach DIE RETTER DES ROCK AND ROLL!!! Tja, nur glaube ich nicht, dass die Sache so einfach ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass es eine verdeckte Wahrheit in der kulturellen Spannung zwischen Nevermind und Ten gibt. Und ich werde sie aufdecken!

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Auch wenn beides ohne Zweifel bahnbrechende Alben waren, wirst du wahrscheinlich deine Probleme haben, einen Journalisten oder Musikkritiker zu finden, der behauptet, dass Ten auch nur ansatzweise so einflussreich war wie Nevermind, das nach landläufiger Meinung schließlich den hedonistischen Hairmetal der 80er ins Grab gebracht und Rock wieder zu einem akzeptablen Musikgenre gemacht hat. Ich für meinen Teil habe mich jedoch in letzter Zeit in hitzigen Diskussionen auf Partys wiedergefunden, in denen ich die Meinung vertrat, dass Nirvana die ganzen Lorbeeren geerntet aber Pearl Jam die ganze Arbeit gemacht hatten. Aber hey, es ist ja nicht so, dass ich noch nie im Unrecht war. Also habe ich mich hingesetzt und mir die Verkaufszahlen, Statistiken und Rohdaten angeschaut, um dieses Thema mit so etwas wie journalistischer Integrität (äh) anzugehen und eine auf harten Fakten basierende, komplett objektive und korrekte Entscheidung zu dieser wichtigen Frage zu treffen, die vor allem die Sorte von Männern mittleren Alters um den Verstand bringt, die ihre Ehefrauen nerven und ihren Nachwuchs aufwecken, weil sie der Meinung sind, nach 20 Uhr im Keller noch ein „affengeiles Gitarrensolo“ hinlegen zu müssen.

Ich begab mich also auf Wikipedia und Billboard.com, um dort halbherzig das durchzuführen, was 2015 offensichtlich als Recherche durchgeht. Ich war mir sicher, dass die Zahlen meinem Bullshit-Bauchgefühl Recht geben würden: Dass Pearl Jam die Band ist, die den Einfluss ausgeübt hat und dass—wäre Kurt Cobain nicht so einen tragischen und poetischen Tod gestorben (inklusive der anschließenden Mythologisierung und Verschwörungstheorien)—Pearl Jam jetzt als die Band gelten würde, die Hairmetal ins Grab gebracht und Radiomusik für immer verändert hat, wohingegen Nirvana (zu Recht) als weitaus coolere Band mit signifikant geringerem kulturellen Einfluss gelten würde.

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Um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen: Ich finde Pearl Jam und Nirvana beide ganz gut, aber ich bin jetzt auch kein großer Fan von ihnen. Ich kann bei „In Bloom“ oder „Black“ ziemlich gut mitsingen, aber ich habe nie ein Album von einer der Bands besessen—und habe auch nicht vor, das noch zu ändern. Während ich mich also an meine Nachforschungen machte, ließ ich meine High-School-Zeit Revue passieren und erinnerte mich an die Allgegenwärtigkeit von Pearl Jam, die dem Außenseiterstatus von Nirvana etwas entgegenstand. Ich brauchte jetzt nur noch auf Billboard zu gehen, wo mir die Zahlen ganz klar zeigen würden, dass Pearl Jam damals die beliebtere Band war und BOOM! Ich würde diesen Artikel dem Musikjournalismus als solchen in den Hintern stecken, wo er auch hingehört, und das wär’s gewesen. Nun, nicht so schnell, mein Lieber.

Beide Alben erschienen etwa, als das Schuljahr 91/92 begann, und keine der beiden Veröffentlichungen legte sofort einen raketengleichen Start hin. Tatsächlich passierte gar nicht mal so viel bis Anfang 1992, als Nevermind den damals beliebten R’n’B-Sänger Michael Jackson vom ersten Platz der amerikanischen Billboardcharts verdrängte. 92 hindurch sollte Nevermind die Position an der Spitze der Charts noch öfter verlieren und wiedergewinnen—je nachdem, wie erfolgreich die einzelnen Singles waren. Dazu gehörten „Smells Like Teen Spirit“, „Lithium“, „In Bloom“ (bei dem ich ziemlich gut mitsingen kann, wir erinnern uns!) und … ähm … ach, stimmt: „Come As You Are“. Nevermind konnte sich zwar 1992 in den USA nicht ganz so gut auf der Nummer eins halten wie Ropin’ the Wind von Garth Brooks, aber nichtsdestotrotz machte sich das Album ganz gut. 1999 wurde Nevermind sogar mit einer Diamantenen Schallplatte (10 MILLIONEN VERKAUFTE KOPIEN!) ausgezeichnet, „veränderte die Welt“ und—auch das darf hier nicht vergessen werden—wurde zum begehrten Objekt für all diejenigen, die gerne auf legalem Weg ein Foto von einem Säuglingspenis erstehen wollten.

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Ten hat es im Gegensatz dazu nie auf die Nummer eins geschafft und sich damit (wie eine Band wie Pearl Jam das eben tut) für immer und ewig auf den undankbaren zweiten Platz des Grunge niedergelassen. Auch wenn es rückblickend so aussieht, als wäre jeder Song von Ten eine Single gewesen, wurden in der Realität nur „Alive“, „Jeremy“ und „Even Flow“ zu Hits. Hat Ten eine Diamantene Schallplatte bekommen? Natürlich. Aber erst vor Kurzem (und damit ziemlich traurig), nämlich 2013. Wie viele Fotos von Babypenissen hat Ten zu bieten? Null. Stattdessen hatte man sich beim Coverdesign für einen Haufen unbeholfener Trottel mit lächerlichen Schuhen entschieden, die sich vor einem ausgesägten „Pearl Jam“-Schriftzug High-Fives geben. Damit ist das Coverdesign in so ziemlich jeder Hinsicht langweiliger und weniger gruselig als das von Nevermind. Und auch was die nackten Zahlen anging, sah es in diesem direkten Vergleich nach Spiel-Satz und Sieg für unsere Jungs aus Aberdeen aus.

DA WÄRE NUR NOCH EINE SACHE!

Hast du in den letzten 24 Jahren irgendwann mal Rockmusik im Radio oder gar einen Rocksender gehört? Hast du das? Hast du vielleicht sogar jemals in diesem Zeitraum einen Countrysender gehört? Solltest du eine dieser Fragen mit „ja“ beantworten, dann wirst du auch den nicht zu verleugnenden Einfluss von Pearl Jam gehört haben—und dir haben sich dabei die Fußnägel hochgerollt. Ich erinnere mich noch, wie ich in jungen Jahren das Video zu Pearl Jams „Alive“ sah und mich vor allem Eddie Vedders Gesangsstil beeindruckte. „Heilige Scheiße! Ich habe noch nie jemanden zuvor so singen gehört!“, sagte ich. Im September 1992, gerade mal 13 Monate nachdem Ten veröffentlicht worden war, hauten die Stone Temple Pilots dann Core mit der Single „Sex Type Thing“ raus. Auch das Album schaffte es auf Platin (inzwischen achtfach) und das hatte nicht wenig damit zu tun, dass sich der vor Kurzem verstorbene Sänger Scott Weiland stark an Vedders Markenzeichen, diesem kehlig-schnarrenden Summen, „orientierte“. Und auch wenn sie die wohl prominenntesten Vertreter dieser Art waren, waren es bei Weitem nicht nur die STP, die sich bei dem Stil, den Eddie erfunden oder zumindest populär gemacht hatte, bedienten. So ziemlich jede Radio-Rock-Band, von Collective Soul bis Nickelback, sowie damals schon etablierte Acts wie METALLICA VERDAMMT NOCH MAL (!!!) sollten sich einen großen Fetzen von Eddie Vedders Flanellhemd abreißen und diesen bis heute an prominenter Stelle tragen. Mittlerweile, im Jahr 2015, hat Vedders Stimme und Einfluss verschiedene Genres transzendiert und ist zum Standardrepertoire einfallsloser Retortenrockbands geworden. Für eine Band, die immer nur die besten Intentionen gehabt zu haben schien und die es trotz des ganzen grauenvollen Mülls, den sie unabsichtlich in die Welt gesetzt hat, geschafft hat, ein überraschend hohes Level an Würde und Fansupport aufrecht zu halten, ist das schon ein nicht zu verleugnendes Erbe.

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Aber wer klingt wie Kurt? Die Antwortet darauf lautet: „So ziemlich niemand.“ Die Wahrheit ist nämlich die, dass Nirvana im Großen und Ganzen eine zu eigensinnige Band war, um sie zu imitieren oder sich von ihr inspirieren zu lassen. Klar, irgendwelche Leute behaupten ständig von Nirvana beeinflusst worden zu sein. Das machen sie aber auch nur, um cool dazustehen. Die harten Fakten sagen allerdings etwas anderes. Die wohl bekanntesten Nirvana-Imitatoren, Bush, versuchten geradezu verzweifelt in Cobains Fußstapfen zu treten, klangen am Ende dann aber auch nur einfach wie … nun, wie Bush. Gavin Rossdales Kehle gab einfach nicht diesen gebrochenen, heiseren und in gewisser Weise unglaublich intimen Klang her, der charakteristisch für Kurts Gesang war. Tatsächlich hörte er sich am Ende—so sehr er auch versuchte, Cobain nachzuäffen—viel mehr wie ein anderer Grunge-Sänger aus der Nirvana-Ära an. Du weißt schon, dieses tiefe, raunende, höchst affektierte Timbre, das seine volle Wirkung entfaltet, wenn man ein langgezogenes „yeeeeeaaaaah“ von sich gibt. Wenn du Nirvana als deinen Haupteinfluss angibst, aber das sonst niemand raushört, dann bescheißt du dich nur selber, um dich cooler zu fühlen, Gavin. Wie alle anderen auch, hast du versucht, dich von Nirvana beeinflussen zu lassen, und dann gemerkt, dass Pearl Jam viel einfach nachzumachen sind. Keine Angst, du bist nicht allein.

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Ja, Eddie Vedder wird das hier verdammt noch mal lieben. Sein Beitrag ist einfach nicht von der Hand zu weisen. Er nahm dieses Knurren von Buzzo von den Melvins und verwandelte es in etwas Kommerzielles und Neuartiges (die Melvins, auch das sollte hier nicht unerwähnt bleiben, waren eine von Kurt Cobains Lieblingsbands) und veränderte dadurch den Sound moderner … ähm … „bodenständiger“ Rockmusik—zum Besseren oder Schlechteren (und seien wir mal ehrlich, es sieht da draußen nicht gerade schön aus). Cobain spielte gequälten, deformierten und höchst aggressiven Pop, der überall auf der Welt einen gewissen Nerv traf—und das aus gutem Grund—, aber er war auch irgendwie der einzige Typ, der das hinbekommen, bzw. überhaupt vernünftig versucht hat.

Pearl Jam werden jetzt nicht für immer und ewig unter den Bus des Rockdiskurses geworfen werden. Bis heute touren sie durch die Welt und spielen vor riesigen Publikums Massen, in die sich Eddie gelegentlich auch noch mit seinem runzligen aber immer noch ausgesprochen hübschen Körper wirft. Nirvana werden allerdings ziemlich sicher ihren Platz als die offizielle „Coole Band der 90er“ in den Geschichtsbüchern des Rocks für immer und ewig beibehalten—und wir alle haben dazu beigetragen. Du hast dir Nevermind gekauft, weil du tief in deinem Innersten wusstest, dass die Platte cool und wichtig war. Aber was den Classic-Rock liebenden alten Sack in dir angeht, wusstest du bis zu diesem furchtbaren Tag im April 1994, dass du insgeheim Pearl Jam viel lieber magst. Und du hast versucht, wie Eddie Vedder zu singen, als du alleine warst. Ja, das hast du, du verdammter Lügner!

Brendan Kelly spielt in The Lawrence Arms—einer Band, die stark von Temple of the Dog beeinflusst ist. Folgt ihm bei Twitter—@badsandwich

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