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Das erzählen Flüchtlinge, die bei mir Deutschkurse belegen

In Europa kennen wir die Kriege in Syrien, Irak und Afghanistan nur aus den Nachrichten. Flüchtlinge, denen ich Deutsch beibringe, erzählen mir, wie es dort wirklich ist.

Symbolbild: Syrische Kinder in der Schule | Autor: DFID - UK Department for International Development | CC 2.0

Neulich war ich mit einem Freund in einem Pub zwei Bierchen trinken. Er hatte einen alten Schulkollegen dabei. Adrettes blaues Polohemd, schneidig blonde Kurzhaarfrisur, gute Figur und irgendeinen Job, der ihm mit seinen Pi mal Daumen 25 Jahren mehr Kohle einbringt, als einem in diesem Alter gut tut—das bemitleidenswerte Schicksal eines WU-Absolventen eben.

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Während des Gesprächs stellte sich dann heraus, dass er Mitglied irgendeiner Burschenschaft ist und die völlig zufällige Tatsache, auf einem der paradiesischsten, friedlichsten Fleckchen der Erde geboren zu sein, damit gleichsetzt, besser als jene Menschen zu sein, die dieses Glück eben nicht hatten.

Irgendwann hat er mich gefragt, was ich denn so beruflich mache. Ich habe ihm erklärt, dass ich Ausländern Deutsch beibringe und das auch sehr erfüllend finde. Er wollte wissen, woher die denn so kommen. Meine Schülerinnen und Schüler sind großteils aus Syrien und Afghanistan, was er mit „Also Eselficker" kommentierte.

Außerdem meinte er, dass es sauleiwand wäre, wie sich die dort unten gegenseitig abschlachten. Diese Aussagen haben mich ehrlicherweise komplett überfordert. Er wollte dann skeptisch wissen, ob sie denn gut wären und ich habe ihm erklärt, dass es wie in jeder anderen Klasse einige gibt, die sehr gut sind, andere, die eher nicht so gut sind und ein breites Mittelfeld, das je nach Tagesverfassung und Thema motivierter oder ruhiger ist. Als ich kurz darauf los musste, gab er mir noch mit, dass ich auf die Eselficker gut aufpassen solle.

Ich unterrichte noch nicht lange. Was ich einerseits in der Klasse erlebe und andererseits in den letzten Wochen an rechter, unreflektierter und menschenverachtender Hetze beobachtet habe, beschäftigt mich jedoch weit über den Unterricht hinaus und macht mich äußerst betroffen.

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Da wird von Vergasen und Erschießen gesprochen, die Leute jubeln über aufgestellte Stacheldrähte und fürchten sich generell furchtbar vor … ja, vor was eigentlich? Der Obengenannte fürchtet sich beispielsweise davor, dass die Afrikaner im Jahr 2050 Europa überrennen werden.

Ein Poster über die toten Flüchtlinge auf der A4

Andere glauben, dass in Syrien irgendwelche bösen CIA-Agenten herumlaufen und Syrern die 12.000 Dollar in die Hand drücken, damit sie sich die Reise nach Österreich leisten können, um Europa auf geopolitischer Ebene zu manipulieren und dann ist da noch immer diese ewige Angst, dass alle Frauen Kopftücher tragen müssen und die Scharia in Wien eingeführt wird.

Zurück in der Klasse: Da ist beispielsweise Diana. Sie hat in Syrien Jus studiert, trägt kein Kopftuch und erzählt, dass in Damaskus Kirchen und Moscheen nebeneinander stehen (oder standen?) und sie auch viele christliche Freunde hatte.

Das war vor dem Krieg. Sie ist schockiert darüber, dass wir hier mit dem Islam nur Terror und Kopftücher verbinden und nicht Werte wie Respekt und Gastfreundschaft. Da ist Ahmed. Sein Vater hatte in Syrien zwei Geschäfte. Seine Familie hatte zwei Häuser und zwei Autos. Ob man von Wirtschaftsflüchtlingen sprechen kann, wenn Haus und Geschäft vom Bürgerkrieg in Schutt und Asche verwandelt wurden?

Neben ihm sitzt Amir. Auch er dürfte aus der gehobenen Mittelschicht kommen. Letztens hat er mir auf seinem Smartphone ein Foto von einem Trümmerhaufen gezeigt. Bei genauerem Hinsehen sieht man eine zerstörte Tastatur im Schutt stecken. Er sieht mich ernst an und sagt: „Das war mein Computer-Tisch." Klingt nicht so dramatisch. Man muss sich schon bewusst machen, dass ich diese Zeilen schreibe, weil mein Computer samt Tisch zwar auch unter einer Staubschicht versinkt, die aber nichts mit Bomben zu tun hat, sondern mit meinem luxuriösen Unwillen zu putzen.

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Omar, ein eher zurückhaltender Schüler, erzählt, dass er und ein Freund zwei Tage nichts gegessen und getrunken hatten, als sie in Österreich aufgegriffen wurden. Sie wussten nicht, wo sie waren, weil sie sich in Österreich nicht auskannten. Omar spricht fast kein Englisch, weshalb sein Freund Passanten fragte, wo es einen Supermarkt gebe. Von diesen wurden sie direkt zur Polizei geleitet

Beide—ohne Pass—fürchteten sich, da sie nicht wussten, was sie von der österreichischen Polizei zu erwarten hatten. Sie bekamen zu ihrer Freude jedoch zunächst Brot und Käse, bevor sie nach Traiskirchen geschickt wurden. In Traiskirchen waren fast alle meiner Schülerinnen und Schüler, wobei sie sich alle positiv darüber äußern. Zu ihrer Zeit war die Lage noch nicht so problematisch und betroffen verfolgen sie nun in unseren Gratiszeitungen, wie sich die Situation zuspitzt. Das muss man den Schundblättern lassen: Sie sind so simpel geschrieben, dass man sie nach nur zwei Monaten Deutschkurs schon ganz gut versteht.

Omar fragt mich: „Ist die österreichische Polizei gut oder böse?" Ich antworte, dass die Polizei meinen persönlichen Erfahrungen nach gut ist, erzähle davon, dass ich einmal im Supermarkt live dabei war, als ein Mann mit Schusswaffe Geld abheben wollte und berichte, dass der Mann nicht mal bis zur Tür gekommen ist, weil bereits drei Polizei-Autos auf ihn warteten. Ich zeige ihnen aber in der Pause auf meinem Smartphone auch das Video, das Falter und VICE kürzlich veröffentlicht haben. Es kostet sie ein müdes Lächeln.

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Mir wird mit den Worten „Syrische Polizei" ein Smartphone vorgehalten. Das Video wurde offenbar von Soldaten gefilmt. Mir ist nicht klar, ob in Syrien Militär und Polizei gleichzusetzen sind, weil ich ehrlicherweise generell relativ wenig über Syrien weiß. In meinem europäischen Weltbild war es bisher eben eines dieser Wüsten-Länder, wo im Namen Gottes herumgeballert wird und Menschen sterben. Allerdings erzählen meine Schüler, dass auch in Syrien mittlerweile keiner mehr weiß, wie viele Parteien in die Kämpfe verwickelt sind.

In dem Video sind mehrere Soldaten, die offenbar Demonstranten festgenommen haben und sie, ähnlich wie in dem österreichischen Video, an die Wand drücken. Die Soldaten grinsen in die Kamera, zücken Messer und hauen sie den Männern in den Rücken. Zunächst sind es nur kleine Schnitte, mit zunehmender Dauer des Videos werden die Stiche aber intensiver. Es wird über den Rücken geschnitten, in die Seite gestochen und nach einiger Zeit und immer mehr Blut, sinkt der Mann auf die Knie. Die Männer stechen ihm mehrmals ins Genick, bis er auf die Seite fällt. Blutüberströmt liegt er in den Trümmern und zuckt noch leicht. Die Soldaten beenden sein Leid schließlich mit einem gewaltigen Stein aus dem Trümmerhaufen, den sie ihm auf den Schädel schmettern.

Für uns bedeutet Syrien, Irak oder Afghanistan zwei Minuten Krieg im Newsflash—und dann bitte die Fußball-Ergebnisse und das Wetter.

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Dieses Video war der grausame Höhepunkt. Bilder von zerstörten Häusern, abgeschossenen Raketen oder zerfetzten Kleinkindkörpern haben sie mir schon öfter gezeigt. Es sind Bilder des Grauens und des Leides. Der Krieg ist nicht wie in Call of Duty. Es geht weder um fetzige Action noch sportlichen Ehrgeiz. Es herrscht Chaos und Gewalt. Ein Schüler erzählt, dass der Geheimdienst auch vor Kindern nicht zurückschreckt und diese foltert. Wenn man als Mann zwischen 18 und 35 Jahren an einer der zahlreichen Straßensperren erwischt wird, heißt es: ab zum Militär. Dass man dieses Schicksal verständlicherweise vermeiden möchte, sollte sich Vernunftbegabten spätestens nach dem beschriebenen Video erschließen. Leider mangelt es einigen in Österreich aber an dieser Vernunft.

Nun sollte man natürlich auch kritisch an diese Fotos und Videos herangehen. Wir wissen nicht, ob sie tatsächlich aus diesem Krieg stammen. Rein theoretisch könnte das Video ja auch gefälscht sein. Letzten Endes ist es aber völlig egal, ob die Bilder der zerfetzten Kinderkörper aus Syrien, Afghanistan, Vietnam oder sonst wo stammen und ob das Video nun echt ist oder nicht. Diese Dinge passieren und zu glauben, es wäre nicht so, ist naiv. Ein totes Kind ist ein totes Kind und im Krieg gibt es Tote, Verwundete, Vermisste, Gefolterte.

Dieser Wiener Arzt behandelt unversicherte Flüchtlinge - gratis.

Wir in Österreich wissen das oder sollten es wissen, auch wenn die meisten von uns den Krieg nicht mehr selbst erlebt haben. Der Punkt ist: Wir wissen es, wollen aber nicht genau darüber nachdenken, was das für die Betroffenen bedeutet. Für uns bedeutet Syrien, Irak oder Afghanistan zwei Minuten Krieg im Newsflash—und dann bitte die Fußball-Ergebnisse und das Wetter.

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Ich mag meine Schülerinnen und Schüler, will aber auch nicht leugnen, dass es kulturbedingte Differenzen gibt. Beispielsweise fallen gelegentlich homophobe Äußerungen und auch von Israel halten sie pauschal wenig. Es ist nicht immer einfach, solche Situationen zu entschärfen und ihnen klarzumachen, dass wir hier mehr von Frieden und Toleranz halten. Und mit „wir" meine ich an dieser Stelle „mich", denn ich bin mir relativ sicher, dass der eingangs erwähnte Burschenschaftler bei diesen Themen ziemlich auf ihrer Wellenlänge ist. Wir Europäer stehen sicherlich kulturellen und logistischen Herausforderungen gegenüber. Stacheldrähte, Abschieben und Hetzen können aber nicht die Lösung sein. Ich bin schockiert, was für ein völlig unbegründeter Hass diesen Menschen entgegenschlägt.

Es kotzt mich mittlerweile regelrecht an, wenn ich Hass-Kommentare im Netz lese oder mir die FPÖ von einem Plakat entgegenlächelt. Der Gedanke, mit was für grausamen, unreflektierten Menschen ich mir dieses hübsche Land teilen muss, widert mich an. Mich ekelt die Vorstellung, dass sie von „unserer Kultur" reden und sich herausnehmen, für das ganze Land zu sprechen, obwohl ich mich—und glücklicherweise der größere Teil der Bevölkerung—definitiv nicht dieser kleinen, engstirnigen Kultur des Hasses zugehörig fühle.

Als aufgeklärter Mensch fand ich diesen brodelnden Zorn immer schon bedenklich, so richtig gekratzt hat er mich aber nicht. Hat mich ja auch nie direkt betroffen. Wie unendlich grausam, absurd und falsch diese Wut auf Unschuldige allerdings ist, wurde mir erst durch die Arbeit mit diesen jungen Menschen bewusst. Menschen, deren Familien über die ganze Welt verteilt sind, wenn sie denn noch Familien haben. Menschen, die ihren Alltag aufgegeben haben, weil sie in ihrer Heimat Gefahr laufen, den nächsten Tag nicht mehr zu erleben. Menschen, die mich nach Damaskus einladen, weil sie mir ihre Stadt zeigen wollen, dann, wenn der Krieg vorbei ist. Sie beten zu Gott, dass das so in ein, zwei Jahren sein wird, denn jeder Krieg muss auch einmal aufhören, wie sie sagen.

Glücklicherweise gibt es mehr als den Hass, der in den letzten Wochen in den Medien war. An diesem Wochenende haben viele Menschen in diesem Land bewiesen, dass nicht nur Angst und rechter Zorn regieren. Sie haben mir den Glauben an Österreich und meine Mitmenschen zurückgegeben. Sie haben gezeigt, dass es hier auch Empathie, Trost und Hilfsbereitschaft gibt.

Diese Taten sind es, die ich eigentlich von Europäerinnen und Europäern erwarte. Denn wie mein Schüler Saib richtig erklärt: „Wir haben in Afghanistan seit 30 Jahren diese Scheiße. Alles kaputt und Krieg. Dabei sind Menschen Menschen—egal wo sie sind."

*Alle Namen sind geändert.