Ein junger Mann mit Bart und Turban hält ein Smartphone hoch, die Taliban benutzen verstärkt Social Media und Messenger Apps wie WhatsApp
Foto: WAKIL KOHSAR, via Getty Images
Tech

Wie Social Media den Taliban half, Afghanistan zu erobern

Die Islamisten nutzen moderne Technologien zu ihrem Vorteil, fortschrittlicher sind sie deswegen nicht.
Gavin Butler
Melbourne, AU

Ein Foto, das vergangenen Dienstag in Kabul aufgenommen wurde, hielt einen surrealen Augenblick fest: Zwei Taliban arrangieren die weiße Flagge der Terrororganisation für die anstehende Pressekonferenz, einer von ihnen trägt etwas, das wie eine Apple Watch aussieht.

Kurz darauf tritt zum ersten Mal Taliban-Sprecher Zabihulllah Mujahid vor die Kameras. Vor den versammelten Journalistinnen und Journalisten und einem Haufen Mikros spricht er von Frieden und Vergebung. Jedem sei verziehen. Am Ende der Konferenz stellt sich der Sprecher noch über 20 Minuten lang den Fragen der Anwesenden. Zum Abschluss kündigt er an, dass solche Pressekonferenzen im islamischen Emirat Afghanistan, wie die Taliban das Land jetzt nennen, in der Zukunft die Regel sein würden.

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Der Auftritt wirkte ganz anders als die technikfeindlichen Taliban der alten Tage. Als die Extremisten von 1996 bis 2001 zum ersten Mal Afghanistan regierten, waren die meisten elektronischen Geräte verboten. Sie galten als unvereinbar mit der islamischen Doktrin. Der damalige Taliban-Anführer Mohammed Omar war bekannt dafür, sich nicht fotografieren zu lassen. Taliban gingen von Tür zu Tür, suchten Fernsehgeräte und zerstörten sie. Der Besitz eines Videoplayers wurde mit öffentlicher Auspeitschung bestraft.

Die Islamisten, die heute die Straßen von Kabul kontrollieren, tweeten aus der afghanischen Hauptstadt, senden WhatsApp-Nachrichten an Journalisten und machen Straßenumfragen. Die Taliban 2.0 haben sich mit der Moderne angefreundet – jedenfalls technologisch. Sie nutzen moderne Kommunikationswege für politische Zwecke und um zu kontrollieren, wie sie wahrgenommen werden.

"Sie haben eindeutig die Kunst der PR gemeistert und wissen, wie sie ihre Botschaft an die Öffentlichkeit bringen", sagt Raffaelo Pantucci von der britischen Forschungseinrichtung Royal United Services Institute. Sein Spezialgebiet sind dschihadistische Gruppen und Terrororganisationen. "Sie haben eine Social-Media-Präsenz, sie wissen, wie wertvoll es ist, ihre Botschaft zu veröffentlichen, und sind auch noch ziemlich geschickt darin. Was das angeht, haben sie große Fortschritte gemacht."

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Die Tage der in Höhlen aufgezeichneten Videoansprachen sind vorbei. Heute verbreiten die Taliban ihre Botschaft wie alle anderen: über Websites, Pressesprecher, Twitter-Accounts, Facebook-Seiten und vor allem WhatsApp.

Die Messenger-App dürfte eine erhebliche Rolle bei der schnellen Eroberung des Landes gespielt haben. Die Terrormiliz nutzt WhatsApp als direkten Draht zu den Menschen. Mithilfe einer geschickten PR-Propaganda-Kampagne konnten die Terroristen die Afghanen dazu bringen, ihre Waffen niederzulegen. Sie überzeugten die Bevölkerung davon, zu allem entschlossen, aber auch großherzig zu sein; unbezähmbar, aber gnädig gegenüber denjenigen, die sich widerstandslos ergeben. Wo das allein nicht reichte, wurden Polizisten und Offiziere für eine kampflose Kapitulation bezahlt.

Ob die Terrormiliz mit reiner Waffengewalt so erfolgreich gewesen wäre, ist fraglich. Mit Smartphones und Direktnachrichten bluffte sie sich zum Sieg und überzeugte Zivilisten und feindliche Soldaten davon, dass Widerstand zwecklos ist. 

Als die Taliban in den Dörfern, Städten und Außenposten eintrafen, war bereits alles arrangiert. Obwohl sie verhältnismäßig wenige waren, konnten sie ohne nennenswerte Gegenwehr schnell die Regierungsaufgaben übernehmen.

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Die Taliban etablierten per WhatsApp eine Art Bürgertelefon. Kurz nach der Eroberung Kabuls postete die islamistische Gruppierung auf Social Media eine Reihe von WhatsApp-Nummern für Beschwerden.

Das wäre vor 20 Jahren noch undenkbar gewesen. Internet, Smartphones und Dienste wie WhatsApp haben auch in Afghanistan die Kommunikation grundlegend verändert. Erst 2002, nach dem Einmarsch der USA, wurde das Internet ausgebaut. Heute nutzen es fast 20 Prozent der Bevölkerung regelmäßig.

Zwei Männer mit Bärten und Kopfbedeckungen arrangieren eine weiße Flagge mit arabischer Schrift

Man bemerke die moderne Uhr am Handgelenk des Taliban | Foto: Rahmat Gul, via AP

Die neuen Kommunikationskanäle sind extrem wichtig für die Taliban, um das neue Bild von den friedlichen und toleranten Islamisten in der Öffentlichkeit zu etablieren. "Sie sind viel besser darin, ihre Botschaft unter die Menschen zu kriegen und zu lenken", sagt Pantucci. "Sie verstehen besser, wie das Narrativ geformt wird und wie sie es selbst formen können."

Anders ausgedrückt: Die Taliban haben Social Media als effizientes und effektives Propagandawerkzeug entdeckt.

Die Internetpräsenz der Islamisten ist nicht auf eine Handvoll Social-Media-Manager und Sprecher limitiert. Rita Katz von der NGO Search for International Terrorist Entities, die die Online-Aktivitäten dschihadistischer Organisationen verfolgt, sagt zu VICE, dass die Online-Infrastruktur der Taliban so groß und komplex sei, dass man zwischendurch gar nicht merke, dass man gerade Taliban-Content ansehe. 

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"Alle Mitglieder und Unterstützer in Afghanistan sind potenzielle Ergänzungen zur Medienmaschine der Taliban: Fotografen, Filmer oder selbsternannte Journalisten, die positiv über die Gruppe berichten", sagt Katz. "Sie alle zusammen ergeben einen komplexen Apparatus, bei dem die Taliban gelernt haben, ihn geschickt einzusetzen. Die Gruppe weiß, wie man unterschiedliche Publikumsgruppen anspricht und die Features und Zensurregeln verschiedener Plattformen ausreizt."

Dabei ist die moderne Social-Media-Strategie der Taliban so ziemlich das Gegenteil von dem, was wir von anderen extremistischen Gruppen wie dem IS oder al-Qaida gewohnt sind. Der Islamische Staat war Vorreiter darin, mit seiner Propaganda ein weites, globales Publikum anzusprechen. Diese Propaganda bestand in erster Linie aus Panikmache: Sie schürte Hysterie und stärkte den Ruf des IS als akute Bedrohung. Man könnte diese Strategie als Online-Terrorismus bezeichnen.

Die modernen Taliban machen das Gegenteil. Noch immer streben die Islamisten ein unterdrückerisches und archaisches Regime an wie im Afghanistan der 90er Jahre. Auf den offiziellen Kanälen geben sich die Taliban heute aber friedliebend und versöhnlich.

"Die Taliban sind gerade im PR-Modus. Ihre Propaganda und Statements sind präzise darauf ausgerichtet, ihren Ruf in der internationalen Gemeinschaft zu stärken: Sie versprechen die Sicherheit von Regierungsmitarbeitenden, einen produktiven Austausch und ähnliches", sagt Katz. "Die Gruppe verwendet ihre Online-Maschinerie, um sich der Welt neu zu präsentieren. Dabei lassen sie sich auch nicht von den Widersprüchen zu ihrem eigenen Handeln ablenken."

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Diese "Absorption der Moderne", wie Pantucchi es nennt, sei allerdings keine bewusste Entscheidung innerhalb der Organisation gewesen.

"Ich glaube nicht, dass sie eine dramatische Änderung vollzogen haben", sagt Pantucchi. "Ich denke, sie haben sich lediglich an die Technologie angepasst wie der Rest von Afghanistan auch." Die verstärkte Präsenz der Taliban auf den in der Region meistverwendeten Apps – WhatsApp, Twitter und zu einem gewissen Grad auch Telegram – spiegele die Social-Media-Nutzung der Menschen in Afghanistan wider.

Ganz neu ist die Entwicklung auch nicht. Seit über zehn Jahren verwenden Mitglieder der Taliban Twitter, Facebook, YouTube und ihre eigene Website Voice of Jihad, um ihre ideologische Agenda zu verbreiten. 2019 sagte ein Taliban-Sprecher zur AFP: "Wir sind nicht gegen moderne Technologie. Sie ist momentan notwendig und die Verwendung widerspricht nicht der islamischen Scharia."

Bereits 2009 schrieb Forscher Gilles Dorronsoro vom Südasienprogramm der Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden in einem Bericht, dass die Organisation ihre Propaganda häufig über Handys verbreite und sowohl lokale als auch ausländische Medien beobachte. So habe der Taliban-Kommandeur Mullah Dadullah Akhund den Nachrichtensender Al Jazeera zu verschiedenen Anlässen eingeladen. Im Anschluss schnitten die Taliban seine Medienauftritte zu Propaganda-Clips zusammen, die ihn als heldenhafte Person darstellten.

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"In diesem Kontext wird die gängige Meinung, dass die Taliban als Fundamentalisten nicht offen für neue Technologien sind, auch durch ihre geschickte Nutzung moderner Medien zu Propagandazwecken entkräftet", heißt es in Dorronsoros Bericht.

In den vergangenen Tagen mehrten sich die Sorgen, dass die Taliban Technologie auch als Unterdrückungswerkzeug verwenden könnten. Der Terrormiliz ist ein Großteil der Ausrüstung in die Hände gefallen, die die westlichen und afghanischen Streitkräfte zurückgelassen haben, darunter auch biometrische Geräte des US-Militärs. Die Geräte, die Personen anhand von Iris-Scans und Fingerabdrücken aus einer biometrischen Datenbank identifizieren können, waren eigentlich dazu gedacht, um Terroristen aufzuspüren. Jetzt könnten sie den Taliban dabei helfen, Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Streitkräften zusammengearbeitet haben

Bislang ist aber noch unklar, ob die Taliban auch das technologische Know-how besitzen. Pantucci bezweifelt das jedenfalls: "Wenn du Gott weiß wie lange in einer Höhle in Helmand gelebt hast, wie sollst du dann wissen, wie man irgendein biometrisches System benutzt?"

Unterstützung könnten die Taliban dafür von ausländischen Regierungen oder Geheimdiensten bekommen – zum Beispiel aus Pakistan, sagt Pantucci. Die neue friedliche Fassade der Islamisten hat mittlerweile schon Risse bekommen. Die UN meldet aktuell schwere Menschenrechtsverletzungen aus Afghanistan.

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