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Beth Macy: Sie gehörten für den Großteil der 1920er und 1930er zu den größten sogenannten "Sideshows" des Ringling Bros. and Barnum & Bailey Circus. Damals war dieser Zirkus der König aller Zirkusse in den USA—zu einer Zeit, als der Zirkus die beliebteste Form der Unterhaltung darstellte. Nach Heilig Abend war der Tag, an dem der Zirkus in die Stadt kam, der wichtigste des Jahres. Es bildeten sich schon große Zuschauergruppen, wen die Zirkuszüge frühmorgens ihre Fracht entluden, selbst wenn diese Zuschauer sich gar kein Ticket für die eigentliche Vorstellung leisten konnten.Die Gebrüder Muse traten vor Mitgliedern des britischen Königshauses und bei ausverkauften Shows im Madison Square Garden auf. Manchmal gab es Schlagzeilen über sie in der New York Times. Zu Anfang ihrer Teenagerjahre wurden sie als reine "Ausstellungsstücke" in kleineren Wanderzirkussen herumgezeigt; ihre milchig-weiße Haut und ihre blauen Augen waren Attraktion genug. Nach ein paar Jahren gaben ihre Manager ihnen Instrumente als Requisiten, doch der Witz ging nach hinten los. Es stellte sich heraus, dass die Muse-Brüder die Fähigkeit besaßen, Lieder nach einmaligem Anhören auf so gut wie jedem Instrument zu spielen, ob Xylophon, Saxophon oder Mandoline.
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Das erste Mal, dass ich Nancy Saunders fragte, ob ich eine Geschichte über ihre berühmten Großonkel schreiben dürfe, sagte sie mir (und vielen Anderen mit demselben Anliegen), ich solle mich verziehen. Zehn Jahre später, als Willie Muse starb, ließ sie mich und einen Kollegen eine Artikelreihe für eine Zeitung schreiben, doch sie erzählte uns nicht viel.Der Schlüssel zum Erfolg war sanfte Hartnäckigkeit und immer wieder nachfragen. Wie [der Pulitzer-Gewinner] Robert Caro sagte: "Zeit ist gleich Wahrheit." Es braucht Zeit, um eine Beziehung zu Gesprächspartnern aufzubauen und ihr Vertrauen zu gewinnen. In der heutigen hypermobilen Gesellschaft geht das verloren, glaube ich. Ich bin ein Einhorn des Journalismus. Ich lebe schon seit langer Zeit in derselben mittelgroßen Stadt und diese Sesshaftigkeit hat es mir ermöglicht, zwei Bücher mit wirklich tiefgreifender Recherche zu schreiben.Kannst du mir etwas über die Mutter der Muse-Brüder und ihren Kampf um ihre Söhne erzählen?
Sie ist die stille Heldin hier—eine schwarze Hausangestellte, während der strengsten Zeit der Rassentrennung, die nicht lesen und schreiben konnte und in einer Stadt lebte, deren Polizeichef der Gründer und Anführer des Ku-Klux-Klan war. Sie bot nicht nur ihm die Stirn, sondern auch den mächtigen Anwälten des Ringling-Zirkus [als sie erfolgreich darum kämpfte, ihre Söhne aus dem Zirkus zu holen]. Stell dir nur ihren Mut vor. Sie hätte gelyncht werden können. Wenn sie damals schon ein paar Jahrzehnte lang gegen diese mächtigen Institutionen ankam und immer wieder Systeme überwand, die errichtet wurden, um ihr alle Rechte zu verweigern, dann stell dir nur mal vor, wie sie heute wäre. Man sollte ihr zu Ehren eine Statue aufstellen. Sie sagte den Mächtigen die Wahrheit ins Gesicht und war ein totaler Badass.
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Wie behandelten die Zirkusbetreiber die Gebrüder Muse? Wurde ihr Leben mit zunehmende Ruhm einfacher?"So viele weiße Menschen wollen nicht über Hautfarbe sprechen. Viele berufen sich darauf, dass die Sklaverei schließlich mehr als 100 Jahre her sei und sie nichts damit zu tun gehabt hätten."
Sie konnten beide nicht lesen und schreiben, weil man ihnen nie ermöglicht hatte, zur Schule zu gehen, also gibt es auch keine Briefe, denen man das entnehmen könnte. Sie sagten ihren Verwandten, die ersten Jahre in diversen Shows seien traumatisch gewesen. Man hielt sie gefangen und hatte ihnen erzählt, ihre Mutter sei tot. Wir wissen auch, dass sie in den Medien ständig verspottet wurden. Dass sie Opfer des Menschenhandels waren, stand auch damals außer Frage.Als ihre Mutter sie zurückbekam und eine Abfindung vom Zirkus erhielt, war es ihre Entscheidung, nach Hause zurückzukehren, doch die Wahl war eine komplizierte. Was war besser: in einer 48-Quadratmeter-Hütte ohne fließend Wasser zusammengepfercht leben—und dabei noch angestarrt und verspottet werden—, oder ein Leben auf Achse mit dem Zirkus, der zu diesem Zeitpunkt das einzige Zuhause darstellte, an das sie sich erinnern konnten? Ihr Leben verbesserte sich, als man sie bezahlte und ihnen erlaubte, ihre Mutter zu besuchen. An den Fotos erkennt man deutlich, dass sie ab dieser Zeit glücklicher waren.
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Die dreifache Großnichte der Brüder, Erika Turner, erzählt gegen Ende des Buchs eine gute Anekdote von 2015. Sie saß in einem Psychologiekurs in ihrer Highschool, in Baltimore gab es Aufstände aufgrund von Freddie Grays Tod in Polizeigewahrsam. Ihre größtenteils weißen, vorstädtischen Klassenkameraden verurteilten die Plünderei, während sie versuchte zu erklären, dass diese Ereignisse nicht einfach so passieren, sondern sich aus Jahrhunderten der systematischen Ausbeutung und der Vorurteile entwickelt haben.So viele weiße Menschen wollen nicht über Hautfarbe sprechen; das ist schließlich unangenehm. Viele berufen sich darauf, dass die Sklaverei schließlich mehr als 100 Jahre her sei und sie nichts damit zu tun gehabt hätten. Doch die Elemente dieser Geschichten, von Rassentrennung über Bürgerrechte bis hin zur Masseninhaftierung, machen einen zentralen Bestandteil des Lebens in den heutigen USA aus. Ich führe zwei Beispiele an: das einer älteren Frau, die auch heute noch erschaudert, wenn sie sich an die Papageien erinnert, die ihr auf dem Schulweg rassistische Beleidigungen zukrächzten; und das einer Farmpächterin, die ihr Mittagessen durchs Fenster gereicht bekam und auch bei schlechtem Wetter gezwungen war, draußen zu essen, weil es eine Regel gab, die besagte "Keine Nigger im Haus".Der Rassismus war tief verwurzelt und so viel schädlicher als das [am häufigsten genannte Beispiel] mit den separaten Trinkbrunnen. Obwohl ich drei Jahrzehnte lang fast nur über unterdrückte Bevölkerungsgruppen geschrieben habe, musste ich auch einsehen, dass ich nicht wusste, wie brutal es wirklich war. Es gab im ganzen Land rassistische Comic-Strips in den Zeitungen, wie etwa Hambone's Meditations. Die meisten Weißen sahen Schwarze als Untermenschen an. Dazu gehören auch die meisten unserer weißen [amerikanischen] Vorfahren, von denen einige von der systematischen Ausbeutung der schwarzen Unterklasse profitierten. Um das aufzuarbeiten, müssen wir es erst einmal eingestehen.In dem Buch geht es vordergründig um die Ausbeutung der Muse-Brüder, aber in Wirklichkeit handelt die Geschichte auch von größeren Konzepten wie Liebe.
Die Zirkus-Show mag der Aufhänger für die Geschichte sein, aber es ist tatsächlich ein Buch über geschichtliche Auslöschung und darüber, wie schwarze Familiengeschichte von weiß dominierten Institutionen systematisch unterdrückt wird. Im Kern handelt Truevine von den Prüfungen zweier schwarzer Frauen, die um Gerechtigkeit für ihre Familie kämpfen. Nicht nur die Mutter Harriet, sondern auch ihre Urenkelin Nancy, die die größte Firma der Stadt verklagte, als Willie Muse später im Leben misshandelt wurde.Nancy war damit aufgewachsen, dass weiße wie schwarze Menschen sie aufgrund ihrer Onkel verspotteten, und hatte schon früh eine sehr zähe Fassade entwickelt. Ihre Verwandten nennen sie liebevoll "the Warden" [dt. die Aufseherin, die Wächterin]. Nach 25 Jahren hat sie mich endlich diese Geschichte erzählen lassen—nicht so sehr für ihre Familie, sondern weil sie meint, dass die Menschen lernen müssen, ihre Unterschiede gegenseitig zu akzeptieren. Außerdem war sie der Meinung, dass ihr Onkel Willie, der nie interviewt wurde, es verdient hatte, wenigstens einmal das letzte Wort zu haben.