„You German Gringos ...“—Genetikk und ihr neues Albumcover kurz vor dem Shitstorm

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„You German Gringos ...“—Genetikk und ihr neues Albumcover kurz vor dem Shitstorm

Genetikk zeigen auf dem Cover ihres neuen Albums zwei brasilianische Ghetto-Kinder mit MGs. Und müssen ordentlich Kritik einstecken.

Foto: Screenshot von YouTube aus dem Video „GENETIKK - Peng Peng (Official HD Video)" von Selfmade Records 

Es ist schon eine verrückte Welt, in der wir leben … Ein Gang durch die Gassen des beschaulichen Rio de Janeiro, da wo Fuchs und Hase sich „Gute Nacht" sagen und man sich in Ruhe auf die Weihnachtszeit vorbereitet. Idylle und Sozialstaat, das größte Problem sind die öffentlich sichtbaren Trinker auf dem Rathausplatz. Die Häuser mit Stuck verziert, die Bäckerin grüßt die Kunden mit Vornamen. Hallo, Clemens. Grüß Gott, Monika. Doch unter der heilen Oberfläche, gedeiht offenbar eine Parallelwelt, dreckig und hart. Wer sich auskennt, weiß wo der örtliche Grasdealer wohnt, die Mutter warnte schon immer vor dem Besuch des Rotlichtbezirks, da kann man schon mal übers Ohr gehauen werden. Check yourself before you wreck yourself!

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Knapp 9.550 Kilometer entfernt: In den Streets von Saarbrücken ist niemand mehr safe. Gangs und Drogen beherrschen die Straßen der saarländischen Favelas, eine korrupte Polizei gängelt die Bewohner zusätzlich. Der zivile Krieg um Geld und Macht, unter dem hauptsächlich die arme Bevölkerung leidet, gehört zum Alltag. Die Schwächsten in diesem Spiel sind die Kinder, oftmals schon mit zehn Jahren in Drogenhandel verwickelt, es ist leichter an eine Waffe zu kommen als ein Lebkuchenherz oder gebrannte Mandeln. Doch trotz der Armut und dem Elend, haben sich die Menschen eine positive Einstellung erhalten. Das gehört zur Folklore dazu. Was für eine grandiose Kulisse, um seine künstlerischen Ambitionen zu verwirklichen. Tolle Idee!

Irgendwo mittendrin: Genetikk. Die Band, bestehend aus den beiden Frontmännern Karuzo und Sikk, sowie einigen weiteren Musikern und Produzenten im Hintergrund, muss sich zur Zeit den Vorwurf gefallen lassen, mit dem Cover ihres neuen Albums bewusst auf Favela-Ästhetik und die Kommerzialisierung des zivilen Krieges in Brasilien zu setzen. Zu sehen sind zwei offensichtlich brasilianische Kinder mit Sturmmaske und Maschinengewehr. Die Vermutung, man wolle einen optischen Zusammenhang zwischen den beiden, ebenfalls maskierten Hauptakteuren herstellen, liegt zumindest nah.

Auffällig ist, dass viele der kritischen Kommentare von Menschen aus Brasilien stammen. Tenor: „Stop apropriating other people's real struggles for marketing."

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Der Vorwurf, der durchs Netz geistert: Zwei Wohlstandskinder, die aus ihrer Komfortzone heraus das Elend der Bevölkerung nutzen, um sich selber marketingtechnisch gut zu positionieren. Auch in ihrem letzten Video „Peng Peng" setzten Genetikk schon auf die visuelle Strahlkraft der „Unterdrückten". Indianer kämpfen mit ihren primitiven Waffen gegen einen überdimensionalen Panzer. Gelenkt wird dieser von den rappenden Maskenmännern. Einer der Apachen findet eine Cola-Dose, wenn jetzt eine Träne aus seinen Augen rinnen würde, man wäre nicht überrascht. Und auch das FUKK-Cover spielt wieder mit der relativ künstlichen Erzeugung des „Wir gegen Die"-Gefühls. Inwieweit das mit der Lebensrealität der Band oder auch nur ihren Inhalten zu tun hat, ist im Rap eigentlich eine überflüssige Frage. Überhöhung gehört zum Standardrepertoire, niemand vermutet in Kollegah einen adligen Königssproß, wenn er sich in seinem Video auf einen Thron setzt.

Die Frage ist, ob man sich in diesem Fall einer Elends-Ästhetik bedient, um die eigenen künstlerischen „Visionen" (von denen Genetikk laut eigener Aussage ja ziemlich viele haben) zu verkaufen. Und wer besitzt eigentlich die Deutungshoheit der Frage „Wer darf das und wer nicht?" Oder um es anders zu sagen: Wann ist man abgefuckt genug, um sich mit derlei fremden Federn zu schmücken? Karuzo hat schon immer betont, dass die Grenzregion und das nahe liegende Frankreich ein ziemlich hartes Pflaster waren. „Wer wirklich prekäre Verhältnisse sehen will, der soll an diesen Ort kommen" sagte er einst während der Fahrt mit einem Reporter durch eine französische Gemeinde. „Es ist Hochsommer, und in der drückenden Nachmittagssonne der französischen Stadt Behren vermengt sich Lethargie mit Resignation zu einer beinahe greifbaren Melange der Hoffnungslosigkeit" so beschrieb es der WELT-Autor Dennis Sand damals. Schade, dass die deutsche Ausgabe der Vanity Fair pleite gegangen ist, da suchte man händeringend nach solchen Bildern. Die Visualisierung eines solchen Satzes endet dann zwangsläufig in der momentan kritisierten Ghetto-Romantik auf dem Genetikk-Cover.

Ist der Vorwurf also nun falsch oder richtig? „You German Gringos appropriating an image of a real fucking war in my hometown Rio to promote your fucking sexist and violence apologizing album - it's a shame!" Ja. Ist richtig. Aber ist die künstlerische Auseinandersetzung mit derlei Themen verboten? Nein. Natürlich nicht. Und der künstlerische Aspekt ist vorhanden. Bedeutungsschwanger wie eh und je zwar, aber dennoch. Sehr klein, kaum erkennbar ist ein Satz unter dem Bild der beiden Jungs aus der Favela zu erkennen. „Today, 9 out of 10 Kids prefer guns to Crayon" steht dort. 9 von 10 Kindern bevorzugen Waffen, statt Wachsmalstifte.

Da ist er wieder, der Hauch Gesellschaftskritik, der Genetikk schon immer umweht. Leider kam man bisher nie über oberflächliche Floskeln in den Texten oder allgemeingültige Bilder in den Videos hinaus, ein Fundament dieser Ästhetik existiert nicht oder ist nicht zu erkennen. Saarbrücken ist nicht Rio de Janeiro. Und ein Indianer, der eine Cola-Dose anstarrt ist auch noch keine Konsumkritik. Nicht in Zeiten von Millionenumsätzen mit Che-Guevara-Shirts.

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