Menschen

Mein Vater, der Serienmörder

Nach seiner Verhaftung ergaben viele komische Augenblicke aus meiner Kindheit plötzlich Sinn.
Melissa Moore als Kind mit ihrem Vater Keith Hunter Jesperson
Alle Bilder mit freundlicher Genehmigung von Melissa Moore

Dieser Text ist ein Ausschnitt von einer Folge 'Extremes' – einem VICE-Podcast, den es exklusiv auf Spotify gibt. Die ganze Folge kannst du hier hören.

Achtung: Dieser Artikel enthält explizite Schilderungen von Gewalt.

Ich werde den Tag nie vergessen. Es war im März 1995. Ich war gerade aus der Schule gekommen, als meine Mutter mich und meine Geschwister zu sich rief. "Euer Vater ist im Gefängnis", sagte sie. "Weswegen?", fragte mein Bruder. "Wegen Mordes", sagte sie.

Anzeige

Meine Knie wurden weich. Ich ging in mein Zimmer, legte mich aufs Bett und weinte. Mein Herz raste, während ich versuchte, das irgendwie in meinen Kopf zu kriegen. Hatte er einen anderen Mann getötet? Aus Versehen? In einem Kampf? Nein, das fühlte sich nicht nach etwas an, das er tun würde. Er besaß auch keine Pistole. Ich konnte mir also nicht vorstellen, wie er jemanden erschießt. Aber dann dachte ich daran, wie er jemanden erwürgt. Das war kein Problem. Aus irgendeinem Grund konnte ich mir bildlich vorstellen, wie er eine Frau erwürgt.


VICE-Video: Die Geschichte des "Cleveland Stranglers" und seiner vergessenen Opfer


Viel Informationen hatten wir nicht. Meine Mutter hatte uns nicht viel erzählt. Um uns zu schützen, wie sie später sagte. Ich bin also in die Bibliothek gegangen, um wenigstens etwas mehr zu erfahren. Wie sich herausstellte, war mein Vater nicht nur wegen eines Mordes im Gefängnis. Mein Vater war im Gefängnis, weil er acht Frauen ermordet hatte.

Danach war meine Welt eine andere. Ich musste meine ganzen Erinnerungen überprüfen, damit die Vergangenheit irgendeinen Sinn ergab. Das war hart. Aber es war nicht so hart, wie wieder von vorn anzufangen. Nicht so hart wie der Heilungsprozess, wie die Akzeptanz und der Wiederaufbau.

Melissa Moore als Kind auf dem Schoß ihrer Mutter, daneben ihr Bruder und ihr Vater

Ich wurde in Yakima, Washington, geboren – einem staubigen, ländlichen Fleck. Dort hatte ich viel Platz, um zu wachsen, und generell eine tolle Kindheit. Ich war das älteste von drei Kindern und mein Vater war ein unglaublicher Mann. Er war knapp 2 Meter groß und wog um die 120 Kilo. Er überragte alle. Für mich war er fast wie ein Gott. Wenn er einen Raum betrat, spürte man unweigerlich seine Gegenwart.

Anzeige

Mein Vater hatte zwei Seiten, die extrem gegensätzlich waren. An der Oberfläche war er ein fröhlicher, charismatischer Mann, aber dann war da noch etwas darunter. Irgendetwas passte nicht richtig.

Eines Tages zum Beispiel arbeitete mein Vater auf dem Feld. Er hatte nicht bemerkt, dass mein Bruder eine streunende Katze gefunden hatte und sie streichelte. Mir war sie sofort aufgefallen wegen des schwarzen Fells, das in der Sonne glänzte. Wir waren jung, ich etwa sechs und mein Bruder fünf. Plötzlich war es, als würde die Sonne sich verdunkeln. Vater stand vor uns: "Was habt ihr denn da?"

Ich bemerkte, wie mein Bruder sich vor die Katze stellte, sie zu beschützen versuchte. Aber mein Vater schnappte sie sich, setzte sie auf seinen Schoß und begann sie zu streicheln. Plötzlich fing er an, sie mit seinen riesigen Händen zu würgen. Die Katze kämpfte um ihr Leben, attackierte ihn mit ihren Klauen. Mein Vater genoss das richtig. Ich erinnere mich noch an das Lächeln in seinem Gesicht. Und ich erinnere mich an das Blut, das aus seinen Unterarmen kam. Das schien ihn aber nicht zu stören. Er machte unbeirrt weiter, bis die Katze plötzlich schlaff wurde.


Die ganze Geschichte kannst du hier im Podcast hören:


Ich hatte eigentlich ein idyllisches Leben. Ich besuchte die Grundschule und auch sonst fühlte sich alles normal an. Umso überraschter war ich, als meine Mutter eines Sommers, kurz nach meinem Geburtstag, verkündete, dass wir weggehen würden. Als wir zu meiner Mutter ins Auto stiegen, sagte sie: "Euer Vater will uns nicht mehr. Er und ich werden uns scheiden lassen und wir ziehen zu Oma."

Anzeige

1990 war die Scheidung dann offiziell. Von hier an ging es für meinen Vater bergab, wie ich später erfahren sollte. Er hatte keinen Job. Eines Abends lernte er die 23-jährige Taunja Bennett in einer Bar kennen. Sie spielten zusammen Billard und er lud sie zu sich nach Hause ein. Dort wies sie allerdings seine Avancen zurück. Er wurde daraufhin wütend und ging auf sie los. Er schlug sie so brutal, dass die Ermittler später Zähne in verschiedenen Ecken des Hauses fanden.

Meine Mutter wusste von alledem nichts. Rückblickend hatten wir Glück, dass wir uns von ihm ferngehalten haben.

1995 wurde mein Vater verhaftet. Es hatte seine langjährige Freundin ermordet, die 41 Jahre alte Julie Winningham. Sie war nach meiner Mutter seine feste Partnerin geworden. Ich ging nie zu seinem Prozess. Wir wurden abgeschirmt und mussten nicht aussagen. Als er schließlich all die anderen Morde gestand, wurde mir klar, dass er für den Rest seines Lebens im Gefängnis bleiben würde.

Das alles veränderte radikal, wie ich mich selbst sah. Aufmerksam beobachtete ich, wie andere auf die Nachricht von meinem Vater reagierten. Als ich nach seiner Verhaftung zur High School ging, sagten die Eltern einiger Freundinnen ihnen, dass sie sich von mir fernhalten sollten. Ich fühlte mich schuldig, weil ich seine Tochter war. Irgendetwas konnte mit mir nicht stimmen. Es war verwirrend. Es veränderte, wie ich mich selbst als Person sah – bis spät in mein Erwachsenenalter.

Anzeige
Die Autorin als Kind in einem weißen Kleid mit ihrer kleinen Schwester und ihren Eltern

Später bekam ich selbst Kinder. Ich sprach mit ihnen nie über das, was geschehen war, bis meine Tochter Aspen eines Tages aus dem Kindergarten kam: "Alle haben einen Papa, aber wo ist dein Papa?" Ich sagte ihr, dass er in Salem sei. Das war der Ort, an dem sich das Gefängnis befindet. Sie war klein und die Antwort genügte ihr. Erstmal. Ich musste mir überlegen, was ich ihr sage, wenn sie älter ist.

Das war der Wendepunkt. Ich begriff, dass ich nichts mit der Sache zu tun hatte. Es gab nichts, was ich tun konnte, um die armen Frauen wieder zurückzubringen, nichts, was ich ihren Angehörigen sagen konnte, um ihnen den Schmerz zu nehmen. Ich hatte keine Wahl. Entweder musste ich die Vergangenheit akzeptieren oder weiterleben, als wäre ich menschlicher Abschaum. Letzteres war keine Option.

Alle Menschen, die Traumata erlebt haben, stehen vor dem gleichen Gefühl: Wenn wir uns unserem Schmerz stellen, werden wir in diesen dunklen Abgrund abtauchen und nie wieder herauskommen. Aber eine Therapie ist wundervoll und nichts, wovor man Angst haben muss. Du wirst nicht ins Loch fallen und nie wieder herausfinden. Wenn du dich dem Trauma stellst, wird dir bewusster, was den Schmerz verursacht. Du verstehst es dann besser.

Meine Kinder sind jetzt Teenager und ich habe viel um die Ohren. Ich denke selten an die Vergangenheit. Ich bin glücklich. Nur manchmal schleicht sich diese Idee in meinen Kopf: Soll ich meinen Vater im Gefängnis besuchen? Es sind Jahrzehnte vergangen, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben. Wenn ich mich bei ihm melde, bedeutet das dann, dass er gewonnen hat? Heißt das, dass er am Ende bekommt, was er will? Ich weiß es nicht.

Mein Vater hat sich nie entschuldigt. Er sei ein guter Vater gewesen, hat er gesagt, abgesehen von seinen "acht Fehleinschätzungen". So nennt er die Morde: "Fehleinschätzungen".

Ich habe nicht das Gefühl, dass die Familien der Opfer jemals ihren Frieden finden werden. Ich glaube nicht, dass es jemals wahre Gerechtigkeit geben wird. Ich bin nur dankbar, dass er jetzt an einem Ort ist, an dem er niemandem mehr wehtun kann.

Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.