Illustration mit einem Mann an Bord eines Schiffs, der auf ein stürmisches lila Meer hinausschaut, Jonathan ist seit acht Jahren abhängig von Codein.
ILLUSTRATION: BENJAMIN TEJERO
Drogen

Wie es ist, acht Jahre von Lean abhängig zu sein

Der Hustensirup ist für die Rapszene, was Heroin für die Rockmusik war. Hier berichtet Jonathan von seinem Alltag mit der Droge.
Lola Buscemi
Paris, FR
BT
illustriert von Benjamin Tejero

"Wenn ich meine Drogenkarriere als Metapher zusammenfassen müsste, wäre die vielleicht ein bisschen wie der Anime One Piece", sagt Jonathan. Er ist um die 30, Musiker und lebt in Belgien. In Wahrheit heißt Jonathan anders, aber er möchte seine Karriere nicht gefährden. "Ich bin mit meinen Kumpels auf einem Schiff. Wir entdecken etwas Neues: Codein. Wir befinden uns gemeinsam auf dieser Reise, bis die Crew einen Sturm heraufziehen sieht. Angesichts des bevorstehenden Unheils machen sich alle nacheinander aus dem Staub. Außer mir: dem einzigen Trottel, der noch auf dem Schiff ist."

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Jonathan fing 2015 mit Lean an, weil seine Lieblingskünstler den codeinhaltigen Hustensirup ständig in Songs, Videos und auf Social Media erwähnten. In Belgien ist Codein wie in Deutschland, Österreich und der Schweiz verschreibungspflichtig, aber ein Freund von ihm kam über seine spanische Großmutter an das Medikament und schmuggelte es im Flugzeug nach Belgien. "Wir haben es probiert und liebten es", sagt Jonathan. "Ich bin in der Hinsicht immer schon etwas extremer gewesen. Wenn ich etwas mag, übertreibe ich es tendenziell. Von diesem Augenblick an ist dann alles eskaliert."


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Bis dahin habe er sich niemals vorstellen können, dass er mal Probleme mit einem verschreibungspflichtigen Medikament haben würde. Jonathans Mutter gehört zu der Fraktion, die auf pflanzliche Heilmittel schwört und gegenüber klassischen Medikamenten sehr skeptisch eingestellt ist. Diese Einstellung habe auch auf ihn abgefärbt, sagt Jonathan. Selbst heute nehme er fast nie Medikamente, nur wenn es wirklich nicht anders geht. Aber seine Lieblingskünstler feierten damals Lean, das machte den Hustensaft cool.

"In der Anfangsphase nahmen wir Codein nur zum Spaß. Also vielleicht machte ich es damals schon etwas mehr als die anderen", sagt Jonathan. Es war auch eine wichtige Zeit in seiner Musikkarriere. Alle sechs Monate ging es auf Tour. Häufig habe er sich dann von den Veranstaltern Lean besorgen lassen. Wenn er bei der Konzertlocation ankam, stand das Zeug im Backstage schon für ihn bereit.

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"Weil ich Teil einer Gruppe war, musste ich nicht unbedingt viel reden", sagt Jonathan. "Ich konnte den anderen das Rampenlicht überlassen und selbst einfach high sein. Mir gefiel auch der geheimnisvolle Vibe, den ich damit ausstrahlte. Es hat einfach perfekt zusammengepasst."

Auch wenn Jonathan regelmäßig Lean nahm, bedeutete der Tourplan, dass er hin und wieder Pausen einlegen musste. "Codein ist nicht wie Gras, wo du dich am nächsten Tag noch ein bisschen matschig fühlst", sagt er. "Jede Dosis nimmt dir 48 Stunden deines Lebens. Wenn du das zusammenrechnest, ist das eine Menge Zeit, die man in einem Jahr verschwendet."

Eines Tages, als er für ein Festival in Montreal war, stieß seine Mutter auf Jonathans Instagram-Account, wo er häufig seinen Lean-Konsum zeigte. "Sie schickte mir eine Nachricht und sagte, dass sie sich wegen mir schäme. Das hat mich echt hart getroffen", sagt Jonathan. "Aber es hat mich nicht vom Konsum abgehalten. Ich habe es nur nicht länger auf Social Media gezeigt. Ich war einfach besessen von dem Zeug."

Im Laufe der folgenden zwei Jahre nahm Jonathans Abhängigkeit zu. "Ich konnte mich nicht mehr entspannen, wenn ich es nicht hatte", erinnert er sich. "Ich hatte körperliche Entzugserscheinungen und bin ständig hin und her gefahren, um das Zeug zu besorgen. Es wurde schnell zu einer Notwendigkeit, Teil meines Alltags." Jonathans Freunde und Familie machten sich Sorgen, aber weil er seine Karriere scheinbar unter Kontrolle hatte, habe niemand zu sehr darauf bestanden, dass er mit dem Zeug aufhört.

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"Es gab Zeiten, in denen ich zwei Wochen durch richtig viel genommen und dann abrupt damit aufgehört habe", sagt er. "Du hast so viel Endorphine, dass auf die Dosen eine depressive Phase folgt. Ich befand mich auf einer Art Achterbahn, aber ich konnte es ganz gut verstecken." Durch das Lean hat Jonathan auch große Erinnerungslücken. "Ich weiß meine Erinnerungen nicht mehr wirklich zu schätzen. Ich habe so viele verloren, dass ich einfach aufgegeben habe."

Auch wenn sein Konsum längst außer Kontrolle geraten war, habe er nicht ans Aufhören gedacht, sagt Jonathan. Das Leben auf Lean sei einfach zu gut gewesen. Niemand habe ihn direkt konfrontiert, aber die Leute entfernten sich langsam von ihm. "Lean hat mein Image zerstört. Ich bin eigentlich sehr diszipliniert, aber durch das Zeug habe ich viel versaut", sagt er. "Ich habe wegen Lean auch meine damalige Freundin verloren. Sie dachte, dass ich bald daran sterben würde, und wollte nicht mit so jemandem zusammen sein."

Und dann kam der Tag, an dem Jonathan keinen Hustensaft organisieren konnte. "Aber ein Kumpel hatte Pillen, Oxycodon", ein Opioid. "Also fing ich an, auch die zu nehmen", sagt er. 

Nachdem seine Gruppe eine Zeitlang sehr erfolgreich gewesen war, begann ihre Karriere langsam zu stagnieren. Die Pandemie traf sie dann richtig hart. "Keine Musikvideos mehr, keine Konzerte, keine Verpflichtungen", sagt Jonathan. "Ich bin kaum noch vor die Tür gegangen. Ich hatte zu Hause ein Studio."

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Jonathan begann, alle Pillen zu nehmen, die er in die Finger kriegen konnte. Auch andere Opioide wie Tramadol. "Das sind keine Drogen, die dich euphorisch oder gesellig machen. Sie helfen dir, einfach nur abzuschalten", sagt er. "Ich hielt es nicht aus, ständig zu denken, ich musste mein Gehirn ausschalten." In dieser Zeit habe er auch Heißhunger auf Fastfood entwickelt und 20 Kilo zugenommen, sagt Jonathan.

Das war der Punkt, an dem seine Freunde eine Intervention für ihn organisierten. Bei Jonathan kam das gar nicht gut an. "Ich hasse es, wenn Menschen mir sagen, was ich machen soll. Ich habe mich also erst mal dagegen gewehrt", sagt er. "Ich habe mich mit allen gestritten. Die Drogen wurden dann zu einer Art Trostpflaster." 

Es dauerte eine Weile, bis sich Jonathan beruhigte und zugeben konnte, dass er ein Problem hat. 2021 meldete er sich bei einem Fitnessstudio an und fing an, ziemlich intensiv – und ungesund, wie er selbst sagt – zu trainieren, um die Kilos wieder loszuwerden. Er habe mit Codein aufgehört, es aber mit Clonazepam ersetzt, einem Benzodiazepin und Mittel gegen Angststörungen. 

"Im Sommer 2022, gerade als ich das Gefühl hatte, es würde wieder bergauf gehen, spürte ich den Drang, ein bisschen high zu sein", sagt Jonathan. "Ich hatte einen Scheißtag gehabt und wollte einfach nur ein bisschen vor dem Fernseher chillen. Ich bin dann im Krankenhaus aufgewacht. Ich hatte ein gebrochenes Kreuzbein, ein zerschmettertes Handgelenk und zwei gebrochene Rippen. Ich konnte nicht gehen. Und ich wusste nicht, was passiert war."

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Zwei Monate musste Jonathan das Bett hüten, seine Mutter kümmerte sich in dieser Zeit um ihn. Als er endlich zurück zu Hause war, sei ihm klar geworden, dass er an jenem Abend seine ganzen Pillen genommen hatte und von seinem Balkon gefallen war. Ein drei Meter tiefer Sturz. "Ich hätte sterben können", sagt Jonathan.

"Bis heute kann ich mich nicht daran erinnern, wie es passiert ist oder wer den Krankenwagen gerufen hat", sagt er. "Ich habe nur ein paar komische Aufnahmen auf meinem Handy. Ich habe meine Füße auf dem Balkon gefilmt und solche Sachen." Er sei sich allerdings ganz sicher, dass es kein Selbstmordversuch war. Daran habe er noch nie gedacht, sagt er.

Seine Freunde und Familie hätten das alles nicht verstanden. Sie dachten, es würde ihm schon viel besser gehen. Für ihn selbst sei der Sturz ein Weckruf gewesen, sagt Jonathan, aber so ganz ist er noch nicht vom Lean weggekommen. Einmal pro Woche oder alle zwei Wochen nehme er noch etwas. Mehrmals am Tag müsse er daran denken. "Es ist wie ein kleiner Dämon, der mir ins Ohr flüstert und gegen den ich ständig ankämpfen muss", sagt er. "Aber das Schlimmste habe ich überstanden."

Professionelle Hilfe habe er sich allerdings noch nie geholt. "Ich habe viele Vorurteile und häufig habe ich mich gefühlt, als würde ich über allem stehen", sagt Jonathan. "So langsam glaube ich aber, dass es mir helfen könnte. Das ist dann mein nächster Schritt."

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