Drogen

In Großbritannien tobt ein Cannabiskrieg und es gibt Tote

Immer mehr Gangs haben sich darauf spezialisiert, in die Grasplantagen anderer Gangs einzubrechen.
Max Daly
London, GB
Eine Collage mit zwei Fotos: Links ein junger Mann mit Boxbandagen, der einen Pokal hochhält, rechts eine Cannabisplantage, in Großbritannien ist unter Gangs ein Krieg um Cannabisplantagen entstanden, bei dem Menschen sterben
Khuzaimah Douglas | Foto: Facebook || Plantage: Lewis Whyld - PA Images/PA Images via Getty Images

Es ist der 20. Februar 2020 in Brierley Hill, einem Ort nicht weit entfernt von Manchester: Eine Gruppe von zehn jungen Männern bricht in den frühen Morgenstunden in ein Vorstadthaus ein. Einige von ihnen haben sich mit Macheten bewaffnet. Ihr Ziel: eine illegale Grasplantage mit Ernte im Straßenwert von umgerechnet etwa 350.000 Euro. Aber die Plantagenbesitzer bemerken den Einbruch und wehren sich. Sie verteidigen ihre Pflanzen mit zwei Armbrüsten und einem Schwert.

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Einer der Einbrecher wird in eine Ecke gedrängt und im Tumult schießt der Plantagenbesitzer Saghawat Ramzan zwei Jagdpfeile auf ihn. Der erste verfehlt sein Ziel und trifft Saghawats Bruder Waseem. Der andere Pfeil bohrt sich in den jungen Einbrecher. Es ist der 19-jährige Khuzaimah Douglas, ein Kickbox-Champion. Er schafft es noch, sich aufzurappeln und zu fliehen, bricht aber auf der anderen Straßenseite zusammen und verblutet. Auch Waseem stirbt wenig später im Krankenhaus.

Saghawat Ramzan, sein Sohn und ein weiterer Mann wurden im Februar dieses Jahres zu lebenslanger Haft verurteilt.


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Seit Mitte der 2000er wird Großbritanniens illegaler Cannabismarkt zunehmend aus heimischem Anbau gespeist, anstatt die Droge aus dem Ausland auf die Insel zu schmuggeln. Plantagen gibt es überall: in Wohngebieten, an Hauptstraßen und in großen Lagerhallen auf dem Land. Betrieben werden sie von professionellen Gangs wie anderweitig gesetzestreuen Überzeugungskiffern. In den vergangenen Jahren ist in diesem Umfeld allerdings auch ein anderes Verbrechen entstanden: der Cannabisplantagen-Überfall – und die Lage scheint sich zu verschärfen. 

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In den vergangenen zehn Jahren ist es zu einem Rüstungswettlauf zwischen Züchtern und Einbrechern gekommen: Schusswaffen, Brandanschläge, Armbrüste, Ammoniak, Messer und sogar Kettenhemden zum Schutz gegen Stichverletzungen kamen zum Einsatz.

Und obwohl diese brutalen Auseinandersetzungen relativ regelmäßig vorkommen, gehört der Plantagenraub zu den Straftaten, von denen die Behörden nichts mitbekommen – jedenfalls, solange es keine Toten oder Schwerverletzten gibt.

"Wir sind in der Regel mit Sturmhauben rein, zu dritt oder viert, immer nachts."

"Die Cannabisproduktion ist nicht nur eine millionenschwere Industrie in Großbritannien, Cannabis ist außerdem eine zunehmend potente und schädliche Droge – und ein Schlüsselfaktor bei anderen schweren Verbrechen", sagt Jason Harwin, Leiter der Cannabis-Abteilung des National Police Chiefs' Council, zu VICE. "Wir werden unser Hauptaugenmerk weiterhin auf die Kriminellen und organisierten Banden richten, die Leben zerstören und die Gewalt anstacheln, die wir auf unseren Straßen sehen." Harwin sagt, die Polizeitaktiken gegen den Cannabisanbau seien erfolgreich. Zwischen März 2019 und März 2020 sei die Menge an sichergestelltem Cannabis um 13 Prozent angestiegen.

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Gary Potter, Kriminologe an der Lancaster University und Experte für Großbritanniens illegalen Cannabisanbau, sieht die Sache etwas anders. Er sagt, die meisten Grasbauern fürchteten Kriminelle mehr als die Polizei.

"Viele Cannabiszüchter, mit denen ich gesprochen habe, haben von der Bedrohung durch Kriminelle gesprochen, die versuchen, ihre Pflanzen zu klauen oder sie zu erpressen", sagt er im Gespräch mit VICE. "Fast alle, mit denen wir geredet haben, kannten Geschichten von Growern, die Diebstahl, Gewalt oder Erpressung zum Opfer gefallen waren." Die Gangs würden ausnutzen, dass die Bauern selbst gegen das Gesetz verstoßen. Potter schätzt die Zahl der Cannabiszüchterinnen und -züchter in Großbritannien "in den Hunderttausendern".

Da der Cannabisanbau illegal ist, gehen die Kriminellen davon aus, dass die Plantagenbetreiber keine Hilfe bei der Polizei suchen werden. "Sie haben recht. Manche Züchter, mit denen ich gesprochen habe, sind Gangs zum Opfer gefallen, aber nicht zur Polizei gegangen", sagt Potter. "Die, die zur Polizei gegangen sind, wurden wie Kriminelle behandelt – obwohl die Verbrechen, denen sie zum Opfer gefallen waren, eindeutig schwerer waren als die, die sie selbst begangen haben."

Potter sagt, dass einige Opfer die Sache "selbst in die Hand genommen haben". Sie hätten entweder selbst mit Gewalt geantwortet oder andere "zweifelhafte Individuen" aus ihrem Umfeld kontaktiert, die das für sie übernehmen sollten.

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Manchmal wird man die Gangs auch einfach los. Eine Frau, die zu Hause Cannabis anbaute, wurde von örtlichen Kriminellen besucht, die Anteile von ihrem Gewinn einforderten. Sie verjagte sie mit einem Baseballschläger. 

Potter berichtet allerdings auch von einem jungen Pärchen. Eine Gang war bei ihnen eingebrochen und hatte ihre Pflanzen geklaut. Als sie zur Polizei gingen, wurden sie sofort festgenommen.

Kriminelle Banden haben oft Aufpasser für ihre Plantagen. Das ist ein extrem undankbarer Job und wird häufig an Menschen delegiert, die illegal aus Ländern wie Albanien nach Großbritannien gekommen sind. Wie moderne Sklaven müssen sie für einen geringen Lohn unter abstoßenden Bedingungen auf die Plantagen aufpassen. Auch wenn sie nicht von Gangs angegriffen werden, kann ihnen die Arbeit das Leben kosten. Vier Monate nachdem Khuzaimah Douglas und Waseem Ramzan durch Armbrustpfeile getötet worden waren, starb im gleichen Ort, Brierley Hill, der Albaner Margaritis Xhindi bei einem Brand in einer verschlossenen Grasplantage. Er war Vater von drei Kindern.

Die meisten Plantagenüberfälle laufen allerdings ohne extreme Gewalt ab. Sie sind so häufig geworden, dass sich manche Kriminelle darauf spezialisiert haben. Oftmals finden die Diebe die Plantagen menschenleer vor – oder die Bewacher werden ohne Gewaltanwendung gehengelassen. Die meisten Grasräuber wollen einfach nur so schnell und unauffällig wie möglich mit den illegalen Pflanzen verschwinden.

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Lee war einer von ihnen. Als Teenager war er im Alter von 14 bis 19 als Plantagenräuber in London, Essex, Kent und den West Midlands aktiv. Das ist drei Jahre her.

"Einmal wurden wir mit einem Luftgewehr beschossen und einer der Jungs hat sein Auge verloren. Einer in Derby hat versucht, mich mit Säure aus einer großen Colaflasche zu besprühen, aber ich konnte mich noch mit einem Vorhang schützen."

Lee, der anonym bleiben möchte, sagt, dass er in rund 150 Grundstücke eingebrochen sei, um Cannabispflanzen zu klauen. Bei seinem ersten Einbruch in eine Plantage nahm Lee auch einen misshandelten Hund mit, den er dort gefunden hatte. Obwohl er nach diesem ersten Raub festgenommen wurde, spezialisierte er sich auf die Grasräuberei und arbeitete auf Abruf für eine Gang aus East London. Von ihr bekam er Tipps für Growhäuser, andere fand er durch die intensive Wärme, die die Zuchtlampen ausstrahlen – mithilfe eines Wärmedetektors, den Klempner verwenden. 

"Ich habe nie einen Job abgelehnt. Ich war gut im Einbrechen", sagt Lee. Nur etwa ein Drittel der Raubzüge war erfolgreich, weil seine Auftraggeber nur an erntereifen Pflanzen interessiert waren.

"Wir sind in der Regel mit Sturmhauben rein, zu dritt oder viert, immer nachts", sagt Lee. "Wir mussten auf versteckte Fallen achten wie Heizstäbe an den Türklinken, Drähte auf dem Boden, Glassplitter auf Fensterbrettern oder Schüsseln mit Säure auf den Türen."

Lee sagt, dass die meisten Plantagen auch Aufpasser hatten. In der Regel wollten die aber keinen Ärger. "Ich bin nie bewaffnet losgezogen. Ich gehe nicht gerne mit Waffen zu einem Einbruch, das kann eskalieren. Ich hatte eine Regel: Ich klaue nur den Stash und das Geld. Ich habe nie irgendjemandem die Xbox weggenommen oder so." Gewalt war trotzdem nie weit entfernt. "Einmal wurden wir mit einem Luftgewehr beschossen und einer der Jungs hat sein Auge verloren. Einer in Derby hat versucht, mich mit Säure aus einer großen Colaflasche zu besprühen, aber ich konnte mich noch mit einem Vorhang schützen."

Potter, der eine globale Umfrage zum illegalen Cannabisanbau durchführt, sagt, dass die Wurzel für diesen neuen, brutalen Kampf im Drogenhandel vor allem in der Illegalität der Cannabiszucht zu suchen ist.

"Es hat schon eine gewisse Ironie, dass der Anbau selbst in kleinen Mengen ein Verbrechen ist, das zu schwereren Verbrechen führen kann."

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