Ich habe einen Tag in einem Berliner Plattenladen verbracht

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Ich habe einen Tag in einem Berliner Plattenladen verbracht

Läuft das wirklich so ab, wie bei 'High Fidelity'? Plattenladen-Romantik im Realitätscheck.

Alle Fotos: Naomi Webster-Grundl

Was ist 2017 noch übrig von der Romantik eines Plattenladens? Was ist aus dem Ort geworden, wo man noch in Zeiten vor dem Internet von neuer Musik erfahren hat, man das neue Album des Lieblingskünstlers zum ersten Mal in der Hand halten und auch anhören konnte? Der Mythos Plattenladen im Realitätscheck.

Berlin, Kreuzberg. In der Ohlauerstraße nahe dem Paul-Linke-Ufer, mitten in der Großstadtidylle, befindet sich der Plattenladen Heiße Scheiben. Vor dem in blaue Kacheln gefassten Schaufenster locken Kisten mit LPs für 1,50€ Passanten an. Wer sich da durchwühlt, findet vielleicht einen persönlichen Schatz oder ein witziges Cover, für die wirklich guten Platten muss man aber natürlich reingehen.

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Drin trifft man auf Achim, den Besitzer: Ohrringe und ein auf den kahlen Kopf tätowierter Stern lassen zunächst vermuten, dass es sich bei ihm um einen typischen griesgrämigen Altrocker handeln könnte. Er ist aber ein super entspannter Typ – wie könnte es auch anders sein, sein Arbeitstag beginnt ja auch erst um 12 Uhr –, der am liebsten Reggae hört, schon als Koch, Autoverkäufer und Leiter eines Taxibetriebs gearbeitet hat. "Als mein Partner und ich den Taxenbetrieb verkauft haben, sind wir nicht aus dem Mietvertrag rausgekommen. Er wollte dann einen Trödelladen aufmachen, aber ich meinte, wenn schon gebraucht, dann nur Tonträger." Also gründeten sie den Plattenladen No Name Records in Neukölln – doch wie das halt so läuft: Irgendwann zerstreitet man sich und jeder geht seiner Wege. Achim hat dann 2004 Heiße Scheiben eröffnet.

Schaut man sich im Laden um, sieht man eingerahmte Cover mit vor allem leicht bis gar nicht bekleideten Frauen an der Wand hängen. Das ist allerdings eine Ausnahme – normalerweise stellt Achim hier Werke von lokalen Künstlern aus. Am Anfang hatte er nur im hinteren Raum LPs und der vordere Raum war gefüllt mit CDs, die Verkäufe verteilten sich 50 zu 50. Doch vor zwei, drei Jahren kippte das Verhältnis: Jetzt bestehen Achims Verkäufe zu 90 Prozent aus Vinyl. "Ich hab kein Mitleid mit den CDs, die sind nun mal zu einem Wegwerfprodukt geworden. Aber da muss sich die Musikindustrie nicht wundern, wenn bei 80 Minuten Musik nur drei gute Stücke dabei sind." Irgendwann will Achim gar keine CDs mehr anbieten. 2016 war der Vinylverkauf so hoch wie zuletzt vor 25 Jahren. Zwar liegt der Branchenanteil bisher bei nur rund fünf Prozent, aber der Absatz von Schallplatten und digitalen Streamingdiensten wächst parallel an.

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Achim beantwortet gerne die Fragen seiner Kunden. Ob er auch was zu dieser elektronischen Musik zu sagen hätte …?

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Der erste Kunde heute ist ein typischer Fall: Er ist Stammkunde, kommt oft mehrmals die Woche vorbei, bringt selbst Platten in den Laden, die auf Kommission verkauft werden; und Achim kennt seinen Musikgeschmack so gut, dass er ihm schon eine Platte zur Seite gelegt hat, die kurz angehört und dann direkt gekauft wird. Das Kommissionsgeschäft beruht auf Vertrauen: Vor sechs oder sieben Jahren hat jemand rund 800 Platten vorbeigebracht und fragte Achim, ob er ein vertrauenswürdiger Mensch sei. Der antwortete geradeheraus mit Ja. Und das bewahrheitete sich und spricht sich rum – da brummt das Secondhand-Geschäft. Das Guthaben, das die Kommissionskunden bei ihm anhäufen, lassen sich viele nicht auszahlen, sondern nehmen dafür andere Scheiben mit nach Hause. "800 Platten hab ich damals aussortiert, aber inzwischen bestimmt wieder 500 Neue gekauft."

Für viele ist der Laden wie ein zweites Wohnzimmer: Ein Frührentner sitzt zwei Stunden neben dem Tresen, bekommt einen Kaffee und raucht. Das ist bei Heiße Scheiben erlaubt, wohingegen Alkoholverbot herrscht, weil Achim keinen Bock auf fertige, rumpöbelnde Typen hat. Was ihm aus musikalischer Sicht nicht ins Haus kommt, ist "der ganze rechtsradikale Scheiß". Ansonsten findet man in seinem Sortiment ziemlich alle Richtungen – das, was er von Kommissionskunden bekommt, was Hobbyhändler bei ihm vorbeibringen und er ihnen direkt abkauft und was er mit anderen Plattenhändlern austauscht. "Schlager und Klassik biete ich eigentlich nicht an – ist schwierig zu verkaufen." Prompt kommt ein Mann mit einer großen Kiste voller Schallplatten, die er von einer Wohnungsauflösung hat, herein. Achim schaut die LPs durch, findet ein paar Gute, zahlt dem Mann einen fairen Preis und gibt ihm für den Rest der Kiste fünf Euro. Natürlich sind da jetzt auch Schlager und Klassik dabei, die wandern zum 1,50€-Billigbestand. Platten wie "Knut's kaputte Witzekiste", "Blödel-Hits" oder ein Live-Mitschnitt von Nana Mouskouri sortiert er aus, um sie am Abend zum Verschenken vor den Laden zu stellen. "Das kommt eigentlich immer alles weg, nur Heino wollte mal überhaupt niemand haben."

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Für die frisch eingekauften Scheiben recherchiert Achim erstmal die Preise – eine wird auf Discogs für 40 Euro gehandelt – und hört das an, was er selbst nicht kennt. Also läuft jetzt erstmal Neue Deutsche Welle. "Wenn das Wetter schön ist, leg ich gern Reggae auf. Ist aber echt stimmungs- und auch kundenabhängig, weil wenn ich weiß, worauf der Kunde steht, leg ich was auf, von dem ich denke, es könnte seinen Geschmack treffen und dann kauft er die Platte vielleicht." Stammkunde sein zahlt sich nicht nur durch bereitgestellte Platten und oft bessere Preise aus, einer bekommt heute auch ein Bruce Springsteen-Buch geschenkt.

Außer diesen Stammkunden kommen auch viele Touristen; vor allem wenn am Maybachufer der Neuköllner Wochenmarkt stattfindet. Heute sind es auffällig viele junge Pärchen – sie kommen aus Frankreich, USA, England oder auch Flensburg. Ein Kunde wird im Juli eine Bar in Lübeck eröffnen und will dafür seine Sammlung erheblich vergrößern. Da er früher in Berlin gelebt hat, kennt er Heiße Scheiben und kommt gezielt hierher: "Ich hab hier einfach immer gute Erfahrungen gemacht, der Laden ist gut sortiert, die Qualität ist gut, ich könnte den ganzen Tag hier verbringen." Am Ende verlässt er den Laden mit rund 15 Platten. Natürlich gibt es auch unergiebigere Kunden – so wie ein Pärchen aus Bristol, die über eine Stunde Singles zu den Plattenspielern schleppen, anhören, falsch zurücksortieren und am Ende drei Scheiben für je 2,50 Euro erstehen. Achim bringt das aber nicht aus der Ruhe. Nur als vier breitschultrige, untersetzte Glatzköpfe den Laden betreten, beäugt er sie zunächst kritisch – schnell stellen sie sich aber als harmlose Metalfans ohne Haare heraus. Ein anderer Herr sitzt auch stundenlang am Plattenspieler: Er hat sich vorgenommen, alle 80's-Reggae und Dancehall Singles, die es bei Heiße Scheiben gibt, durchzuhören. Heute hat er fünf Stück gefunden, die er mitnimmt, aber er ist noch lange nicht fertig und wird bis dahin immer wieder kommen.

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An manchen Tagen kommt es auch vor, dass Achim ein paar Stunden allein im Laden steht: "Berliner sind ja aus Zucker, die gehen nicht raus, wenn es regnet. Und in Kreuzberg macht sich schon auch das Monatsende bemerkbar, weil hier manche Leute auch nicht so viel Geld haben." Heute ist es aber nicht so: Wenn sich gut zehn Leute im Laden rumdrängeln, wird es schon etwas unübersichtlich. In den meisten Fällen sind es Männer, die nach neuen Stücken für ihre Sammlung suchen, Frauen sind oft nur Anhängsel. "Ich höre gerne Musik, aber ich bin kein Vinylfetischist so wie er", kommentiert eine junge Französin, die ihren Freund begleitet, der total begeistert ist, weil gerade John Coltrane läuft. Warum das Plattensammeln viel mehr ein Männerding ist, kann sich Achim auch nicht erklären. Ein Mann, der mit seinem Hündchen in den Laden kommt – Tiere sind also auch erlaubt und bekommen sogar ein Leckerli – hatte gestern Geburtstag und einen Plattenspieler geschenkt bekommen. Kaufen will er aber eine Depeche Mode-LP für seine Freundin.

Ansonsten gehen heute Platten von Radiohead, Tracy Chapman, Sezen Aksu, Prince, Frank Zappa, Peter Alexander oder AC/DC über die Theke. Das Geschäft läuft gut. "Auch wenn ich glaube, dass der Hype bei den jungen Leuten schon eher eine Modeerscheinung ist, hoffe ich, dass es mit Heiße Scheiben immer so weiter geht", erklärt Achim. Im Augenblick sieht es aber ganz so aus: Es kommen ältere Leute, die sich einen neuen Plattenspieler zugelegt und ihre alten LPs wieder aus dem Keller geholt haben, junge Leute, die sich eine eigene Sammlung aufbauen wollen und Fanatiker, die sich nie vom Vinyl abgewandt haben. "Für einen Musikfan ist die Vinylplatte die Krone." Und Heiße Scheiben hält das, was einem die sehnsuchtsvolle Nostalgie verspricht.

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