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Politik

Fragen, die die Facebook Live-Videos zur 'Zukunfts-Arena' aufwerfen

Wie verwirrt ist der durchschnittliche 'SRF'-Zuschauer? Wie jung sind unsere Jungpolitiker wirklich? Müssen wir Mitleid mit der CVP haben?

Screenshot von Facebook/Tamara Funiciello "Die Zukunft—und die erste Arena 2017—gehört den Jungen!", kündigte das SRF die aktuelle Ausgabe der wohl wichtigsten Politiksendung der Schweiz auf seiner Homepage an. Als Gäste ins Studio geladen hat das Team um Moderator Jonas Projer am Freitag die Chefs der vier Jungparteien und den Nationalratspräsidenten Jürg Stahl. Tamara Funiciello (Juso), Benjamin Fischer (Junge SVP), Andri Silberschmidt (Jungfreisinnige) und Tino Schneider (Junge CVP) diskutieren über die Themen, die laut der Erhebung des Jugendbarometers die Schweizer Jugend am meisten beschäftigen: Flüchtlinge und Asyl sowie die Personenfreizügigkeit und die AHV. Dazu gesellt sich, wohl aus Aktualitätsgründen, eine Einstiegsdebatte zum Thema Terror.

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Die Zukunft soll nicht nur über Personen und Themen ins Studio geholt werden, sondern auch über die Vertriebskanäle. Zum ersten Mal in der Geschichte der Arena wird diese live in den sozialen Medien übertragen. Die drei Jungpolitiker und die eine Jungpolitikerin streamen die Diskussion und die wichtigen Ansagen im Vorfeld ("Wir siezen uns, denn die Leute zu Hause haben sonst das Gefühl, was das für ein Klüngel sei, der sich duzt und sie damit ausschliesst") via Facebook Live für ihre Fanbase auf ihre Facebook-Profile. Der Versuch der alten Tante SRF, Junge für die Sendung, deren fertig produzierte TV-Version zur Gen Y-Unzeit am späten Freitagabend ausgestrahlt wird, zu mobilisieren, hat dabei einige Fragen aufgeworfen.

Wie verwirrt ist der durchschnittliche 'SRF'-Zuschauer?

Erst im Dezember 2016 war auf Kleinreport, dem Mediendienst der Schweizer Kommunikationsbranche, zu lesen, dass das SRF in Zukunft ein jüngeres Publikum ansprechen wolle. Jünger heisst beim Schweizer Fernsehen demnach: Zuschauer im Alter von 30 bis 49 Jahren. Während die Livestreams am frühen Freitagabend auf Facebook gestreamt wurden, wird die "Zukunfts-Arena" selbst erst um 22:25 Uhr auf SRF ausgestrahlt—zu einer Zeit, zu der sich die Zukunft der Schweiz längst im Spätstadium des Vorglühens befindet. Durch die verspätete Ausstrahlung der Sendung und gleichzeitiger Einbindung von Live-Elementen via Facebook bleibt die Frage, wie sehr das SRF-Stammpublikum verwirrt ist.

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Manche von ihnen versuchen tatsächlich, sich sogar nach der TV-Ausstrahlung der Sendung noch über die Kommentarfunktion bei den Facebook Live-Videos in die Diskussion einzuklinken. Moderator Jonas Projer scheint die Sorgen zu ahnen und betont in der Sendung noch: "Wir sind ja doch hauptsächlich noch eine Sendung für Sie zuhause vor dem TV." Ob so die Zukunft auch über die "Zukunfts-Arena" hinaus beim SRF bleibt?

Wird Facebook jemals zu unserem Freund?

Es klingt zu schön, um wahr zu sein: Vier Jungpolitiker diskutieren in der relevantesten Politiksendung des Landes über unsere Zukunft und mit dabei haben sie ihre ganze Facebook-Community, die sich mit konstruktiven Beiträgen in die Diskussion einklinkt. Ein Teil des oft herbeiidealisierten demokratischen Potentials der sozialen Medien wird Realität. Doch ebendiese Realität weigert sich, sich bei diesem Vorhaben ans Drehbuch zu halten. Und so wird aus einem ermutigenden "Glauben Sie an Ihre Fans in den sozialen Medien!" von Moderator Jonas Projer schnell mal ein "Es geht zu schnell mit den Kommentaren. Viele davon sind unanständig und die Regie bittet darum, diese zu unterlassen". Tamara Funiciello belässt es nicht beim Bitten, sondern greift zu rabiateren Methoden. Sie kündigt während der Sendung an, unangebrachte Kommentare unter den vier Facebook Live-Videos wegen Ehrverletzung zur Anzeige zu bringen.

Mit Facebook ist es eben immer noch wie bei manchen mit den eigenen Eltern: Man muss sie immer wieder besuchen, um gesellschaftlich nicht aussen vor zu bleiben—doch man muss sich eben auch mit den verquersten ihrer Ansichten und Meinungen herumschlagen. Doch nicht nur bei Social Media zeigen sich Verständnisprobleme. Als Jonas Projer versucht, aus Benjamin Fischer einen Vorteil der Personenfreizügigkeit herauszukitzeln, antwortet dieser nach einigen misslungenen Ausweichversuchen: "Dass man frei durch Europa reisen kann." Als Belohnung erntet er Gelächter im ganzen Studio und Gedanken daran, wie sehr europäische Staaten auf Arbeitsmigration angewiesen sind.

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Ist das 'SRF' spontaner als viele denken?

Die Idee, die Arena über Facebook Live zu streamen, wurde erst zwei Tage vor der Sendung geboren. Auf Twitter fragte Jonas Projer seine über 6.000 Follower mit einem etwas überdramatischen Einstieg: "Hilfe! Brauche euren Rat: #srfarena diese Woche zur Zukunft - nur Junge in der Runde. Bringt's was, das auf Facebook zu streamen?"

Die Antwort folgte schnell: Ein weiterer User (der sich während den Live-Streams vor allem durch Snapchat-Filter-Collagen von den Jungpolitiker hervorhob) eilte Projer zu Hilfe und schlug vor, die Sendung von den vier Gästen selbst streamen zu lassen. Projer zeigte sich als Fan der Idee, klärte ab, ob das rechtlich und technisch möglich ist, zog das Ding durch und lud den Urheber der Idee gleich noch ins Studio ein. In der weiteren Twitter-Diskussion schaltete sich mit Dimitri Rougy (einem der Köpfe hinter dem Tages-Anzeiger-Hack) noch ein anderer User ein, der die Sendung auf Snapchat dokumentieren wollte—und dafür von Projer den besten Platz im Publikum versprochen bekam.

Angesichts der überraschenden Spontanität des wohl bürokratischsten Medienhauses der Schweiz sei es fast schon verziehen, dass für eine perfekte Umsetzung die Werbung für die Live-Streams im Vorfeld etwas zu kurz kam, der Ton im Stream blechern war und die Kameraeinstellung dafür sorgte, dass dieser kaum mehr hergab als eine Radiodiskussion, während der man sich ständig eines der Gesichter der fünf Diskutierenden ansehen muss—auch wenn diese nicht sprechen.

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Wie jung sind unsere Jungpolitiker wirklich?

"Ihr seid ja schon wie die alten Säcke, die sonst in der Arena sind", bringt Tino Schneider einen Kommentar auf seinen Livestream in die Diskussion ein. Und tatsächlich zeigt sich ein bekanntes Bild: SP und SVP schmeissen sich hauptsächlich mit lauten Stimmen und fuchtelnder Gestik die altbekannten Argumente an den Kopf ("Wirtschaftsflüchtlinge!!!" vs. "Kapitalismus!!!"), während der FDPler fast so cool bleibt wie Moderator Jonas Projer ("Schreien die sich bei SVP-Sitzungen auch so an?") und der CVPler fast schon dazu gezwungen werden muss, etwas zur Debatte beizutragen—wiederum ganz wie bei der Schlussabstimmung zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative, bei der sich die CVP-Fraktion enthalten hatte. Immerhin: Jonas Projer betont, dass die Stimmung vor einer Sendung noch nie so gelöst war.

Müssen wir Mitleid mit der CVP haben?

Die Facebook Live-Videos ermöglichen es zu vergleichen, wie stark die Facebook-Community der einzelnen Jungpolitiker ist. Während jene der SVP, SP und FDP von deutlich über hundert Zuschauern dabei verfolgt werden, wie sie über Kapitalismus, Zuwanderung und AHV diskutieren (und in ihren Handykameras herumfingern), dümpelt der Jungpolitiker der CVP bei 50 Zuschauern herum. Man könnte nun organisiertes Cyber-Mobbing oder einen Hacker-Angriff des russischen Geheimdienstes dahinter vermuten. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Social Media-Präsenz von Tino Schneider schlicht den Zustand der Schweizer Politiklandschaft widerspiegelt. Studien zeigen, dass sich die Schweizer Politik immer weiter polarisiert—links und rechts rutschen weiter auseinander und gewinnen dadurch Wähler. Dieser Prozess passiert unter anderem auf Kosten der Mitteparteien, sprich: auch der CVP.

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Auch in den sozialen Medien sind vor allem extreme politische Meinungen präsent: Wer politisch nichts zu sagen hat, sagt eben nichts, sondern postet lieber Lebensweisheiten oder Katzenvideos. Parteien, die sich wie die CVP weigern, selbst bei der wohl wichtigsten Parlamentsabstimmung der letzten Zeit (MEI), eine Position einzunehmen, verlieren an Aufmerksamkeit und dadurch wohl auch an Relevanz. Die "Social-Medialisierung" der Politik scheint voranzuschreiten und auch vor Tino Schneider und seinem Facebook-Auftritt nicht Halt zu machen. Die gute Nachricht dabei: Die Polarisierung, die sich in den sozialen Medien und der Politik zeigt, ist in der Bevölkerung selbst nicht nachweisbar.

Kann eine unvorteilhafte Selfie-Kameraeinstellung durch seriöse Kleidung ausgeglichen werden?

Zwei Dinge haben alle vier Jungpolitiker gemeinsam: Alle haben sich für die Arena schick gemacht und alle streamen die Sendung aus der wohl unvorteilhaftesten aller Selfie-Kameraeinstellung. Einerseits passt die Selfie-Einstellung dazu, dass Politik heute auch in der Schweiz immer stärker über Personen mit all ihren Identifikationsebenen gemacht wird. Andererseits wirft das die drängenden Fragen auf: Kann schicke Kleidung eine unvorteilhafte Kameraeinstellung aufheben? Und wie seriös kann man Leute nehmen, bei denen in erster Linie die Nasenhygiene ins Auge sticht? Die Beantwortung dieser Fragen überlassen wir dir liebend gerne:

Screenshot von Facebook/Tino Schneider

Screenshot von Facebook/Benjamin Fischer

Screenshot von Facebook/Tamara Funiciello

Screenshot von Facebook/Andri Silberschmidt

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