Ein Liebesbrief von SERO an seine Kindheit

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Ein Liebesbrief von SERO an seine Kindheit

"Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem ich das erste Mal ein Video von Bushido sehe." – Der Berliner Newcomer Sero über seine Kindheit im Viertel.

Foto: Adopekid

Sagen wir, wie es ist: Im Internet überwiegt der Hass. Ein Blick in die Kommentarfelder von YouTube oder Facebook reicht da meist schon, um den Glauben an das Gute auf dieser Welt täglich aufs Neue zu verlieren. Das ist doch scheiße. Also konzentrieren wir uns lieber auf die schönen Seiten im Leben, die absolut wunderbaren Dinge, die unseren Alltag bereichern, uns zum Lächeln bringen. Dinge, die wir verdammt nochmal lieben. Da vor allem Musiker und Musikerinnen, aber auch (wie in diesem Fall) berühmte Menschen aus Funk und Fernsehen online oft die volle Wucht der Missgunst zu spüren bekommen, geben wir ihnen hier die Möglichkeit, dem Hassklima mit einer großen Ladung reiner Liebe die Stirn zu bieten. Wir geben ihnen einen komplett freien Raum, in welchem sie ihre Liebe zu einer Person, einer Sache, einem Gefühl, einem Was-auch-immer in selbst gewählte Worte fassen können.

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In dieser Ausgabe hat unser liebster Super-Newcomer SERO Feder und Tinte aus seinem Ebenholz-Chefschreibtisch gekramt, um Euch von seiner Liebe zu damals zu schreiben … Damals, als er noch ein Kind war. 

Ein Liebesbrief an meine Kindheit. Wir rennen so schnell wie uns unsere kleinen Beine tragen können, doch vor Lachen bleibt uns allen fast die Luft weg. Hinter uns schreit der Besitzer des Spätkaufs wutentbrannt auf, als ihm klar wird, dass er uns nicht einholen wird. "Ihr habt Hausverbot! Das nächste mal werde ich die Polizei rufen!" Unsere Beute: eine Kiste voller Wassereis. Natürlich würde er genau wie jedes Mal nicht die Polizei rufen und natürlich würden wir es wieder tun. Als wir auf unserem Spielplatz ankommen, tränen meine Augen vor Lachen. Natürlich teilen wir unsere Beute mit allen, weil: Jeder hier ist unser Freund, Nachbar oder unser Verwandter. Unser Leben war so einfach früher. Alles, was man tun musste, war rauszugehen und alle zu treffen. Der Rest passierte dann von alleine. Langweilig war es nie. Um ehrlich zu sein, kann ich mich an keinen einzigen Tag in meiner Kindheit erinnern, der langweilig war. Und irgendwie scheint in meiner Erinnerung immer die Sonne. Mein Nachbar Kamil hat ein BMX. Jeden morgen nach dem Frühstück holt er mich ab. Ich steig auf die Pex. "Tritt in die Pedale, Bruder!" Und wenn mir dann der Wind ins Gesicht weht, streck ich meine Arme aus. So muss sich Fliegen anfühlen. Und genau bis zu dem Moment, an dem die Straßenlaternen angehen, gehört diese Welt nur uns. Und wir wissen mit dieser Welt immer umzugehen. Wir spielen Fußball im Käfig und schlagen uns unsere Knie auf. Wir versuchen, die größte Wasserbombe der Welt zu bauen und hoffen, dass sie nicht platzt, wenn wir sie von einem zum anderen Ort transportieren. Natürlich platzt sie immer. Wir holen uns für eine Mark beim Dönerladen fünf Mal Fladenbrot mit Knoblauch-Soße und teilen es zu zehnt. Wir freuen uns darauf, dass abends Dragonball läuft und wenn ein Fremder eine Glurak-Karte hat, versuchen wir sie ihm zu klauen. Pokémon-Karten-Klauen verläuft immer nach dem gleichen Prozedere. Wir: "Zeig mal."
Die: "Ok."
Wir: "Ups, tut mir leid, dass alle Karten runtergefallen sind. Wir helfen euch, sie aufzusammeln."
Die: "Ok, danke!" Und dann sammeln wir brav alle Karten vom Boden auf und geben sie ordnungsgemäß zurück. Nur dass komischerweise immer ein, zwei Karten in dem Gewirr auf mysteriöse Art und Weise verschwinden. An manchen Tagen kaufen wir uns große Tüten mit Cekirdek. Schnell ist der ganze Boden voller Körner und unsere Lippen trocken und rissig vom ganzen Salz. Aber wir können einfach nicht aufhören und essen weiter. Auch die Größeren aus unserer Gegend verbringen ihre Tage manchmal auf unserem Spielplatz. Aber sie sitzen hinten in der Ecke und machen Dinge, von denen wir damals noch nichts verstehen. Manche von ihnen sind große Brüder von einem von uns, manche sind Nachbarn und andere kennt man nur vom Sehen. Manche von ihnen haben viel Geld, weil sie gefälschte Klamotten oder andere Sachen verkaufen. Aber uns kümmert das nie. Wir sollen uns da nicht einmischen, sagen sie. Aber wenn irgendwas passiert, dann passen sie immer auf uns auf, denn die Gegend hält zusammen. Als ein paar von uns das erste Mal heimlich rauchen und die Großen uns dabei erwischen, fangen wir uns alle eine saftige Ohrfeige ein. Aber es ist zu unserem Besten und absolut gerechtfertigt. An unsere Eltern verpfeifen sie uns nie – wir sie auch nicht. Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem ich das erste Mal ein Video von Bushido sehe. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Das ist bei uns in der Gegend! Genau da, wo wir jeden Tag spielen. Wir kennen sogar ein paar der Gesichter. Es ist ein unfassbares Gefühl, das im Fernsehen zu sehen.

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Von dem Tag an ist klar: Wir wollen alle Picaldi tragen! Wochenlang lieg ich meinen Eltern in den Ohren. Aber Picaldi ist teuer. Und die Hosen gibt es nicht mal in meiner Größe. Irgendwann schenken mir meine Eltern dann doch eine und ich bin der glücklichste Mensch der Welt.

Unsere Eltern versuchen sowieso, uns alles zu ermöglichen. Auch wenn wir alle aus recht bescheidenen Verhältnissen kommen – wir haben nie das Gefühl, dass uns irgendetwas fehlt. Damals war alles noch so viel einfacher. Wir brauchten nichts, um glücklich zu sein. Wir haben uns gereicht. Wir hatten unsere Geschichten und unsere Witze. Wir erlebten jeden Tag Abenteuer, ohne einen Cent auszugeben. Wir hatten einfach echte Emotionen: echtes Glück, echtes Lachen, echte Freundschaften. Selbst wenn wir mal wütend oder traurig waren, dann waren diese Emotionen echt! Mit dem Älterwerden hat sich vieles verändert. Die ersten Freunde, die wegziehen. Das erste Mal Verantwortung spüren, die ersten großen Enttäuschungen. Irgendwann im Leben lernt jeder diese Hure namens Geld kennen und bekommt am eigenen Leib zu spüren, wie sehr wir von ihr abhängig sind. Man trifft Entscheidungen, die wichtig sind. Manche Wege trennen sich. Man fängt an zu arbeiten und nicht mehr nur das zu tun, was man gerade in dieser Sekunde will. Man muss vernünftig werden – was auch immer das bedeutet und was auch immer das bringen soll. Natürlich ist es auch schön und aufregend erwachsen zu werden. Aber ich werde nie den Zauber und die Unbeschwertheit meiner Kindheit vergessen. Und dafür möchte ich meinen Eltern danken.
Danke, dass ihr mich beschützt habt, damit ich die Freiheit hatte, unvernünftig zu sein.
Danke, dass ihr die Verantwortung für alles getragen habt, damit ich Kind sein durfte.
Danke, dass ihr gearbeitet habt, damit ich frei sein durfte.
Und auch all meinen Freunden möchte ich danken – für all die unvergesslichen Dinge, die wir zusammen erlebt haben. Ich liebe euch alle.
Lasst uns versuchen das Kind in uns so lange wie möglich zu bewahren!

Sero.

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