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Wir müssen anfangen, Justin Bieber ernst zu nehmen

Justin Biebers Aufstieg trotz all des Hasses und persönlicher Probleme war nichts anderes als bewundernswert.
Ryan Bassil
London, GB

Justin Biebers Comeback-Performance bei den diesjährigen MTV Video Music Awards gipfelte in einem unglaublich emotionalen Moment. Nachdem er unter tosendem Applaus seine beiden neusten Singles hintereinander weggespielt hatte, wurden wir Zeuge, wie er die Hände auf die Knie gestützt mit den Tränen kämpfen musste. „Es war so überwältigend“, erinnerte sich Bieber danach in einem Interview mit Jimmy Fallon. „Ich hatte nicht erwartet, dass mich [alle] unterstützen würden. Das letzte Mal, dass ich auf einer Awardshow war, wurde ich ausgebuht.“

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Zwei Jahre zuvor, als der damals-noch-Teeniestar den Milestone Award bei den Billboard Music Awards gewann, war die MGM Grand Garden Arena in Las Vegas die 57 Sekunden zwischen Bekanntgabe des Gewinners und Biebers ersten Worten ins Mikrofon von einer Kakophonie der Missgunst erfüllt. Als er dann schließlich zu sprechen anfing, stotterte er sichtlich von der Publikumsreaktion getroffen. „Von Herzen“, sagte er, während er aufgrund einer weiteren Kaskade von Buhrufen wieder pausierte. „Es sollte um die Musik gehen. Die Kunst. Ich bin ein Künstler und ich sollte ernstgenommen werden. Der ganze andere Scheiß sollte kein Thema sein.“

Anfang des Jahres hatte sich Bieber von Selena Gomez getrennt, mit der er drei Jahre zusammen war, und sich auf eine bestens dokumentierte Talfahrt begeben, die ihm Anzeigen für Vandalismus, rücksichtsloses Fahren und eine Festnahme für Fahren unter Drogeneinfluss einbrachte. Zu dieser Zeit legte er sich auch ein Kapuzineräffchen zu, das er kurze Zeit später am Münchener Flughafen wieder zurückließ. Bieber sagt über diese Zeit in seinem Leben, dass er mit „ein paar Idioten“ abgehangen habe und durch eine „Ausprobierphase“ gegangen sei. Seitdem hat er sich offensichtlich wieder gefangen, sich öffentlich für seine Aktionen entschuldigt und scheint geistig, körperlich und auch künstlerisch wieder guter Dinge zu sein. Es ist also keine große Überraschung, dass die MTV Awards für ihn besonders emotional waren. Sie waren ein persönlicher Befreiungsschlag für ihn—ein neuer Spross, der sich vor einem internationalen Publikum frei entfalten konnte.

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Der Auftritt war nicht das erste Mal, dass Bieber versucht hatte, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Über die letzten paar Jahre hat er einige Versuche unternommen, seinen Ruf als kalkulierter Popstar abzuschütteln. „Boyfriend“ von 2012 war das erste Mal, dass man den Eindruck bekam, er würde versuchen, sein Image als kommerzieller Teeniestar zu durchbrechen und in eine höhere Stufe des Pops aufzusteigen. Das im Jahr darauf folgende Journals konnte mit einigen namhaften Gaststars (R. Kelly, Lil Wayne, Chance the Rapper) und einigen seiner bis heute besten Songs aufwarten („P.Y.T.“ und „Confident“). Beide Veröffentlichungen wurden allerdings von einer tiefsitzenden Feindseligkeit gegenüber Bieber überschattet. Zu der Zeit, als „Boyfriend“ veröffentlicht wurde, warf ein Fan ihm vor, der Vater ihres Kindes zu sein, und Journals erschien nur wenige Wochen vor seiner Festnahme. Diese Zeit bleibt einem deswegen auch eher wegen seiner ständigen Präsenz in den TMZ-Schlagzeilen in Erinnerung, als wegen seines langsam reifenden, musikalischen Outputs.

„Wir wussten, dass unsere einzige Möglichkeit darin bestand, seine Musik wieder in den Mittelpunkt zu rücken“, sagte Biebers Manager, Scooter Braun gegenüber Billboard Anfang dieses Jahres, als er über die ganzen Probleme redete, mit denen sie sich in jüngerer Zeit konfrontiert sahen. „Schluss mit der Sensationsgier. Wenn euch die Musik gefällt, danke! Und wenn nicht, gibt es nichts, worüber man noch reden braucht.“

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Und sie haben es geschafft. Seitdem das Album im Februar in aller Stille veröffentlicht wurde, ist die Bieber, Skrillex und Diplo-Kollaboration allein auf Spotify „Where Are Ü Now“ 236 Millionen mal gestreamt worden. Noch viel wichtiger ist allerdings, dass dies der erste Song war, bei dem Biebers Musik ernstgenommen wurde. Indem er im letzten Jahr die Mainstream-Medien größtenteils gemieden hat—abgesehen von einem geradezu reinigendem Auftritt bei Comedy Central’s Roast und einer Werbekampagne—hat sich Bieber so etwas wie einen Neustart gegönnt.

Foto: Daniel Ogren | Wikimedia Commons | CC BY 2.0

Seit er 15 war, war der kanadische Popstar mehr Hass und Feindseligkeiten ausgesetzt als jeder andere Promi. Eine „I Hate Justin Bieber“-Facebook-Seite, von denen es viele gibt, hat fast 380.000 Likes. In zwei Fällen hat 4Chan eine Hashtag-gesteuerte Hetzkampagne gegen Bieber gestartet. Unter #Cut4Bieber wurden Teenager dazu aufgefordert, sich selber zu verletzen. Unter #Jail4Bieber wurde die Behauptung verbreitet, dass er ein 13-jähriges Mädchen missbraucht hätte. Es gibt T-Shirts mit dem Aufdruck „Keep Calm and Hate Justin Bieber“, Trinkgeldgläser in Bars, auf denen steht „Für jedes Trinkgeld, das in diesem Glas landet, stirbt Justin Bieber ein bisschen“ und den Tumblr „Lesbians who look like Justin Bieber“. Es gibt sogar ein Add-on für Firefox, das verspricht, jede Erwähnung des Teenie-Idols von besuchten Webseiten zu entfernen.

Die Billboard Music Awards waren auch nicht das einzige Mal, dass Bieber in der Öffentlichkeit ausgebuht worden war. Als sein Gesicht 2011 während eines Spiels der New York Knicks auf dem Großbildschirm in der Arena erschien, damals war er gerade einmal 17, war der Madison Square Garden von Spott- und Buhrufen erfüllt. Als er sich 2014 am Muttertag mit seiner Mutter ein Spiel der L.A. Clippers anschaute, reagierten „alle Zuschauer“ ähnlich abfällig, als er wieder auf dem Bildschirm gezeigt wurde, und selbst bei seinem Auftritt bei der New Yorker Fashion Week im gleichen Jahr wurde er vom Großteil des Publikums ausgebuht.

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Vom Kind zum Teenager und dann zum jungen Erwachsenen zu werden, ist allgemein schwierig und die meisten Menschen bauen während dieses Werdegangs irgendwelche Scheiße. Auf den ganzen Ärger anspielend, in den er über die letzten Jahre geraten war, richtete Bieber bei seinem Jimmy Fallon-Auftritt spielerisch eine rhetorische Frage an die Zuschauer: „Ihr habt solche Momente nie durchgemacht?“ Das haben wir. Alle. Der Unterschied ist nur der, dass neben dem Hormoncocktail, von dem man als heranwachsender Teenager eh schon erschlagen wird, Bieber gleichzeitig auch noch der größte und meistgehasste Popstar der Welt war: „Baby“ ist gleichzeitig das Video mit den meisten Dislikes und den zweitmeisten Views auf YouTube. Es ist also kaum verwunderlich, dass er vor zwei Jahren seine Mühen hatte, die Fassung zu bewahren. Und zwischendurch, zumindest bevor er damit angefangen hatte, in Putzeimer zu pissen und Äffchen an Flughäfen zurückzulassen, schien der Hass, der ihm mit solcher Vehemenz von der virtuellen, wie auch der physischen Öffentlichkeit entgegenschlug, oftmals ungerechtfertigt zu sein.

Als Kind verdiente sich Bieber Geld als Straßenmusiker. Er spielte Gitarre oder Schlagzeug und sang dazu. Die vorbeigehenden Leute warfen Geld in seinen Gitarrenkoffer. Irgendwann hatte er genug damit verdient, um sich und seiner Mutter—alleinerziehend und mit einem schlechtbezahlten Bürojob—einen Trip von Kanada nach Disney World Orlando zu spendieren. In jedem beliebigen Video des noch unbekannten Biebs, in dem er singt und musiziert, ist es offensichtlich, dass er unglaublich talentiert ist.

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Trotz seiner natürlichen, musikalischen Begabung wurde Bieber schon bald zum Symbol für den Niedergang der Popmusik. Du hasst den ganzen Scheiß, der im Radio läuft? Schieb es auf Bieber. Dir gefallen die Auswüchse des Fließband-Pops nicht? Alles Biebers Schuld. Weil er jung und offensichtlich ein berühmter Popstar war, wurde Bieber—der im Großen und Ganzen auf eine ziemlich natürliche Art zum Ruhm kam (sein Manager, Scooter Braun, entdeckte ihn auf YouTube)—schnell als untalentiert und seinen Scharen von Fans nicht würdig dargestellt.

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Nachdem er eine öffentliche Entschuldigung veröffentlicht und etwas Zeit außerhalb des Rampenlichts verbracht hatte, scheint es ihm nun das erste Mal gelungen zu sein, sich von seinem ganzen Ballast zu befreien. Gegenüber der New York Times sagte er, dass „Where Are Ü Now“ seine „Augen für ein ganz neues Publikum, eine ganz neue Plattform“ geöffnet habe—und das merkt man auch. Anfang September erschien erst Travis $cotts „Maria, I’m Drunk“, in dem Bieber und Young Thug einen Gastauftritt haben, und Justin stellt darauf beide anderen Künstler eindeutig in den Schatten. Sein neuster Track „What Do You Mean“—eindeutig eine Fortsetzung zu „Where Are Ü Now“—brach Spotifys Rekord für die Anzahl von Streams in einer Woche und knackte damit laut Billboard „das Geheimnis für eine erfolgreiche Karriere als erwachsener Popstar.“ Der Track nimmt die verschiedenen Sounds, mit denen er schon seine Karriere hindurch experimentiert hat—R’n’B, Teenpop und EDM—und erschafft daraus etwas Mutiges und Eindeutiges.

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Wenn „Baby“ Biebers N’Sync-Phase und „Boyfriend“ seine Justified-Ära war, dann könnte seine nächste Platte durchaus sein perönliches FutureLoveSexSounds werden: Ein entscheidender Karriere-verändernder Moment, der sich so anfühlt wie alles, worauf er hingearbeitet hat. Er ist Drake vor „Hold On, We’re Going Home“, Taylor Swift vor 1989 oder Kanye vor My Beatiful Dark Twisted Fantasy. Bieber befindet sich gerade an dem Scheitelpunkt, an dem Negativität in professionelles und öffentliches Ansehen umschlägt.

In den zwei Jahren, die vergangen sind, seit Bieber die Bühne der Billboard Music Awards erklommen und darum gebeten hatte, „als Künstler ernstgenommen“ zu werden, hat er nun auch die passende Musik, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Im Gespräch mit Jimmy Kimmel sagte Bieber: „Ich habe so hart an diesem Album gearbeitet. Ich habe so hart daran gearbeitet, der Mann zu werden, der ich sein will.“

Es ist also kein Wunder, dass ihn die Ereignisse bei den MTV Awards emotional überwältigten. Es durch eine dunkle, deprimierende und fordernde Zeit zu schaffen—daraus wieder hervorzukommen—kann etwas unglaublich Erlösendes haben. Das Ganze aber auch noch mit einem derartig mutigen Trotz zu bewältigen, ist geradezu majestätisch.

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