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Aufwachsen in Wiener Neustadt

Franzl-Buch, Alabama-Schwalben, Drogen im Stadtpark und Kotze in der Herrengasse. Eine Liebeserklärung an eine Hood mit sehr speziellem Charme.
Foto von der Autorin

Nein, ich mag nicht nach Wien. Ich habe vier—mehr oder weniger—glückliche Jahre in Graz verbracht und gut ist's. Neuorientierung nach dem Studium, ein heimatverbundener Freund und die Linsen mit Knödel von der Oma.

Das alles und noch mehr waren Gründe, warum ich nach dem Genuss der Großstadt (ja, auch Graz ist eine große Stadt) den Weg zurück zum Ursprung gewählt habe. In meine Heimatstadt Wiener Neustadt. Inklusive der Häme und dem Spott Erasmus-affiner, ehemaliger Schulkollegen, die sich für den veganen Weg als Pratersauna-süchtige Neubau-Hipsters samt Igers-Hashtag entschieden haben, versteht sich. Auch wenn ich mit diesen Leuten jetzt nicht mehr allzu viel gemeinsam habe, eine Sache gibt es, die uns für immer miteinander verbindet: Wir sind in Wiener Neustadt aufgewachsen. Und das war verdammt gut.

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Ich war neun Monate alt, als sich meine Eltern dazu entschlossen, mit mir nach Wiener Neustadt zu ziehen. Mir blühte ein behütetes Heranwachsen im kleinstädtischen Bürgertum, fernab von Hundstrümmerlproblematik und Zentralfriedhofer Gothic-Idylle. Ein Paradies voll kleinen Franzln, Alabama-Schwalben und einer spannenden Fortgehzone wartete nur darauf, von mir erobert zu werden. Eine Jugend, über die es wert ist zu erzählen.

Zum Neustädter wirst du nicht geboren, sondern gemacht

Zunächst muss ich kurz erklären, dass nicht jeder willkürlich die Behauptung aufstellen kann, ein waschechter Wiener Neustädter zu sein. Um überhaupt einmal in deiner kleinen urbanen Peergroup anerkannt zu werden, muss du dich im Laufe deines Heranwachsens zwei Herausforderungen stellen: Dem „Franzl-Buch" in der Volksschule und der„Alabama-Schwalbe" im Clums. Punkt.

Wenn du nur eines dieser Dinge nicht durchgemacht hast, bist du zwar entweder in Neustadt geboren, aber hast die Welt nicht verstanden, oder bist einer dieser hunderten, mit dem Zug pilgernden Schüler aus Sollenau oder Pottendorf, die jeden Morgen von Montag bis Freitag um halb acht das Bus-Chaos vor dem Hauptbahnhof verschulden.

Solltest du zu dieser zweiten Gruppe gehören, kann es dir mit sicherer Wahrscheinlichkeit sogar gelingen, die zweite Aufgabe mit Bravour zu erfüllen. Die erste wirst du jedenfalls nie schaffen, denn diese ist nur einheimischen Volksschulkindern aus Wiener Neustadt möglich:

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Vorlesen aus dem Franzl-Buch

Neben althergebrachten Lernutensilien wie der Spatzenpost, dem Lük-Kasten und dem Albrecht Dürer Gedenkpapierblock, erhältst du in der ersten Klasse ein Sachunterrichtsbuch, dessen Inhalt dich dein Leben lang begleiten wird: „Wie der kleine Franz Wiener Neustadt kennenlernte", im Neustadt-Slang ausschließlich als das „Franzl-Buch" bekannt.

Auf Exkursionen mit der Frau Lehrerin durch die ehemals zerbombte Altstadt liest du dann, genau wie alle anderen aus deiner Klasse, eine Geschichte zu einem historischen Schauplatz vor. Drei verdammte Jahre dauert es, bis du gut genug im Lesen bist und dir endlich die verantwortungsvolle Performance zugetraut wird. Ein Highlight, das dir von den Viertklässlern bereits am allerersten Schultag gschmackig gemacht wird.

Eine der spannenden Geschichten des kleinen Franzls vorgetragen zu haben, fühlt sich irgendwie an wie die Erstkommunion: Plötzlich bist du wer, du zählst nicht mehr zu den ganz kleinen, du hast bereits was erlebt.

Die Alabama-Schwalbe

Was mir an diesem Tag nicht bewusst war, ist die Tatsache, dass auf die Kommunion ein paar Jährchen später die Firmung folgt. Und die ist zum Kotzen—im wahrsten Sinne des Wortes. Nicht weniger feierlich als die katholische Tradition, wirst du zwischen 14 und 16 Jahren zum echten Neustädter gekrönt.

Alles was du tun musst, ist im „Clumsy´s Great English Pub" (Neustadt-Slang: „Clums") in der Herrengasse eine „Alabama-Schwalbe" auf ex zu trinken und dabei nicht zu speiben. Soweit, so gut, denkst du jetzt. Aber dann hast du vermutlich noch nie eine „Alabama-Schwalbe" vom Clums getrunken. Denn dabei handelt es sich um nichts geringeres, als um den grindigsten Shot, den sich jemals irgendjemand in der Nachkriegszeit ausgedacht.

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Das Zeug auch nur ansatzweise mit Wodka, Tequila oder einer Spiritus-Injektion zu vergleichen, grenzt an Blasphemie. Alleine schon daran zu riechen, birgt die Gefahr, sich für immer von deinem Geruchssinn zu verabschieden—wenn nicht vorher dein Gehirn schon vor ätzenden Alkdämpfen in tausend Kleinteile zerspringt.

Die „Alabama-Schwalbe" ist die konzentrierte Form eines „Bloody Mary"-Cocktails, nur mit noch mehr Tabasco, mit noch stärkerem Hochprozentigen (Gerüchte besagen, die Barkeeper sind dazu angehalten, Franzbrandwein zu verwenden) und einer geheimen Spezialzutat, die ich immer als „die gewisse Portion Grind" bezeichne. Wäre das nicht schon schlimm genug, besteht die eigentliche Herausforderung aber darin, sie immer anzunehmen, sobald es deine Freunde verlangen. Jedes. Mal.

Das passiert meistens genau dann, wenn du dich gerade noch auf den Beinen stehend vor einer Schlägerei aus dem „Next" ins Freie rettest. Dann wirst du ins Clums gezerrt und bist mitten drin in der Tarantino'schen Bonny-Situation. Ich muss jetzt wahrscheinlich nicht näher erläutern, dass bei diesem Prüfungsteil nicht selten mehrere Anläufe von Nöten sind.

Der Stadtpark mit seinen fetten Tieren und Drogen

Sowohl das Vorlesen aus dem „Franzl-Buch" als auch der Genuss von „Alabama-Schwalben" sind Situationen, die dich im Leben weiter bringen. Nicht weniger prägend ist der Neustädter Stadtpark. Die zentral gelegene grüne Lunge der 45.000 Einwohner zählenden Industriemetropole ist eine einzige Werteschulung, die dich zu dem Menschen macht, der du heute bist.

Bewaffnet mit einem Sackerl voll runzeligem Gemüse und altem Brot, stehst du als Kind vor der richtungsweisenden Entscheidung, ob es wirklich klug ist, die fettbäuchigen Gänse, Truthähne und Ziegen im Streichelzoo (wo jegliche Streicheleinheiten von den nach Bier duftenden Tierpflegern mit der Androhung einer Watschen strengstens untersagt wird) zu füttern.

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Wenn dich dein Gewissen dazu überredet hat, es nicht zu tun, erfährst du zusätzliche Motivation von der blondgebleichten Mutter aus dem Kriegsspital mit ihren drei Pokahontas-Leggins tragenden Kindern, es doch zu tun. Ein Malheur. Aber immerhin: Welcher städtische Park kann schon einen eigenen Tierpark, zu dem auch ein Papageien(!)-, Bären-(!!)-, und Affen-(!!!)Gehege gehörte, zu seiner Hauptattraktion zählen. Für mich als Kind war es das Paradies auf Erden. Die Haltung der Bären und Affen wurde zwischenzeitlich wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz beendet.

Aber der Stadtpark hat noch mehr zu bieten, vor allem für ältere Kinder. Hier bekommst du alles, was dein jugendliches Drogenherz verlangt. Und das immer, zu jeder Tages- und Nachtzeit—nicht nur während des jährlichen Schools-Out Exzesses Ende Juni. Dieser Tatsache ist es auch zu verdanken, dass der mittelalterliche Kosenamen der Stadt „Allzeit Getreue" längst ausgedient hat und durch den zeitgenössischen Begriff „Heroinhood" (Urheberrecht: die Neustädter Hip-Hop-Ikone Bakimed) zurecht ersetzt wurde.

Herrengasse, Oida

Fortgehzonen gibt es ja überall. Aber welche Kleinstadt kann schon von sich behaupten, dass ihre auf dem Index des Innenministeriums für gefährliche und gewalttätige Plätze steht? In der Herrengasse ist einfach immer was los. Ob Schlägereien, Messerstechereien oder sogar offene Schusswechsel. Alles zutiefst spannend für ein jugendliches Kleinstadtherz.

Wenn dir deine Eltern im Bewusstsein, dass du heute in die Herrengasse fortgehst, ein lautes „Pass auf dich auf!" hinterher rufen, dann meinen sie das auch so. Und es hatte einfach was, nicht zu wissen, ob man den Fortgehabend auch überlebt—sei es aufgrund des besagten Gefahrenpotentials oder ein, zwei Alabama-Schwalben. Da soll noch einmal jemand sagen, eine Jugend in Wiener Neustadt sei fad.

Tatsächlich waren die Scharmützel in der Herrengasse eigentlich das, wovor ich mich am wenigsten fürchtete. Die eigentliche Herausforderung bestand darin, möglichst akrobatisch den tausenden Kotzlacken und Alkoholleichen auszuweichen, ohne den zwei Meter großen Flugfeldproleten allzu lang in die Augen zu schauen und dadurch zum ersten Prügelopfer auserkoren zu werden. Das Flair der Herrengasse ist einfach einzigartig, und ich erinnere mich heute noch gerne an den Geruch von Speibe, den Geschmack von Alabama-Schwalben und dem übersteuerten „Hey Ya!" von Outlast, dass pro Abend gefühlte zwanzig Mal aus dem Clums über die sich schlägernden Prolos hinweg zog.

Meine Heimat, die „Heroin-Hood"

Diese Stadt hat mich, wie ihr an dieser Stelle schon rausgelesen haben könntet, zu der gemacht, die ich heute bin—und zwar mehr noch als meine Studienzeit in Graz. Ich genoss eine turbulente, aber deshalb nicht unbehütete Jugend. Diese Stadt ist nicht die beste und das ist gut so. Sie hat einen Charme, der nicht gleich für jedermann ersichtlich ist.

Aber wenn du ihn gefunden hast, dann bist du glücklich in Wiener Neustadt. Auch noch mit Mitte 20. Und ja, obwohl die Auswahl an Abendgestaltungsoptionen nicht mit Wien zu vergleichen ist. Weil es darum nicht geht, wenn man stattdessen eine kleine, unperfekte, kaputte, aber liebenswerte Insel haben kann, auf der es eine lebendige Alternativszene gibt. Und Alabama-Schwalben.