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Popkultur

Die besten Bücher, Filme und Alben des Monats

Wir haben aus den Veröffentlichungen der letzten Zeit ein paar Perlen ausgewählt, darunter eine Buñuel-Neuveröffentlichung auf Blu-ray und eine dokumentarische Graphic-"Novel" über die Flüchtlingskrise, die es in sich hat.

Aus der They Come Out at Night Issue

VALIANT GENTLEMEN
Sabina Murray
Grove Atlantic

Zu Anfang von Valiant Gentlemen, dem neuen historischen Roman der gefeierten philippinisch-amerikanischen Autorin Sabina Murray, diskutieren zwei Männer namens Casement und Ward über ihr erstes Treffen. Ward erinnert sich an einen sachlichen Händedruck, Casement an eine verträumte Szene. „Das ist das Problem mit dir, Casement", sagt er. „Du bist ein Romantiker, der sich laufend Sachen ausdenkt", sagt Ward. „Sicher nur ein Problem von vielen", antwortet Casement.

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Die Szene lässt elegant mit einfließen, was das Buch selbst will: eine wahre Geschichte erzählen und sie gleichzeitig romantisch formen.

Über Ward und Casement wissen wir sehr wenig. Casement ist 22, Ward ist ein Sprachtalent. Die beiden sind Freunde und befinden sich im September 1886 in der kongolesischen Hafenstadt Matadi.

Der echte Herbert Ward war Bildhauer, Schriftsteller und schließlich britischer Offizier. Der echte Roger Casement war Dichter, Diplomat und schließlich ein Held des irischen Unabhängigkeitskampfes. Sie waren lange befreundet, doch am Ende standen sie sich auf gegnerischen Seiten des Ersten Weltkrieges gegenüber. Ward versorgte mit dem British Ambulance Committee Verletzte in Frankreich, während Casement deutsche Unterstützung für eine irische Revolution suchte. Wer mehr über den Revolutionär Casement in seinem historischen Kontext erfahren will—seine bahnbrechende Menschenrechtsarbeit, seine Rolle im irischen Osteraufstand, seine Bedeutung für Homosexuelle—muss anderswo suchen, wie in Mario Vargas Llosas unerwartet gründlichem Roman Der Traum des Kelten (2012). Doch Murrays Buch erweckt faszinierende und überraschende Aspekte der beiden Biografien zu neuem Leben, allen voran die Freundschaft der beiden Männer. Dabei gelingt ihr die erfolgreichs­te fiktionale Erzählung über historische Persönlichkeiten seit Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt, der die sich überschneidenden Lebenswege von Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt schildert.

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Murray verrät uns, dass Casement und Ward einst für die Internationale Kongogesellschaft des belgischen Königs Leopold II gearbeitet haben und nun zur britischen Sanford-Expedition gehören. Ihre Arbeit besteht hauptsächlich darin, Einheimische zum Transport von Vorräten anzuheuern. Die ersten Kapitel von Valiant Gentlemen bilden die wohl spannendste Logistikerzählung der Welt. Man nehme nur den Raddampfer Florida, den Ward und Casement in seine Bestandteile zerlegen und „die Wasserfälle und Stromschnellen und Strömungen" des Kongo hinaufbefördern müssen.

Zwar ist Valiant Gentlemen ein Roman über Freundschaft, doch nach dem ersten Kapitel befinden sich die beiden Hauptfiguren selten an einem Ort. Die Männer arbeiten weiter in der Logistik, doch für sehr verschiedene Zwecke. Der Kongoforscher H. M. Stanley rekrutiert Ward für eine zum Scheitern verurteilte Expedition mit dem Ziel, den Gouverneur von Äquatoria zu retten. Derweil wird Casement von baptistischen Missionaren angeheuert.

Das große Spannungspotenzial des Buches rührt daher, dass Casement, ein Fürsprecher der unterdrückten Iren, den englischen Unterdrückern hilft, noch mehr Menschen auszubeuten (diverse afrikanische Stämme, um genau zu sein). Murrays Werke werden oft sehr allgemein als „historische Romane" bezeichnet, doch ihr Hauptthema sind die Spannungen der Kolonisierung. Casement weiß, wie sich Kolonisierung anfühlt, weil er sie selbst erleben musste. Ward, der brave Sohn Englands, wird es niemals erfahren, und daher entfernen sich die Figuren auch langsam vonei­nander. Was bedeutet es, ein „englischer Gentleman" zu sein? Ward „ist kein Gentleman, wollte nie einer sein", wie wir erfahren. Er verließ England, um Matrose und Künstler zu werden; eine Zeit lang tanzte er in einem australischen Zirkus auf dem Drahtseil und balancierte zwischen vornehmer Herkunft und Freiheit. Casement fühlt sich gespalten, einerseits als der Tapfere („the valiant") und andererseits als der Gentleman. „Ein Casement jagt Elefanten durch den Dschungel. [Der andere] Casement sieht Fischadlern beim Kreisen zu", in der Zivilisation des irischen Countys Antrim. Der dritte Casement liebt Ward von Herzen und wird es niemals aussprechen. Nach ihrem Abschied wächst die Kluft zwischen den beiden Männern. Casement führt die Logistikarbeit fort, während Ward Vorträge über Kannibalismus hält und Abenteuergeschichten für eine Jungenzeitung illustriert—fast eine Parodie des Mannes, der er in Afrika war. Auf dem Weg zu einer Lesereise in den USA begegnet Ward der Erbin Sarita Sanford. Die beiden heiraten und bekommen viele kleine Wards. Nach ein paar Jahren Ehe klagt Sarita: „Inzwischen sind Herbert und ich so …" „Wohlhabend?" schlägt Casement vor. „Langweilig." Casement wird Diplomat, erstattet Bericht über Gräueltaten im Oranje-Freistaat und wird zum Ritter geschlagen. Ward bekommt eine Glatze. Der Roman hat mehr als 30 Jahre abzudecken und eilt durch sie hindurch.

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Im Mai 1914 hat Casement mal wieder mit Logistik zu tun: Er muss deutsche Waffen für die Miliz der Irish Volunteers organisieren. Doch wie kann Casement seinen lebenslangen Einsatz für friedliche Mittel mit dem Waffenkauf vereinbaren? Wie wir erfahren, ist ein Gentleman ein Mann, der bei einem Boxkampf am Ring stehen und jubeln kann—oder auch beim Ersten Weltkrieg. Casements Weigerung, Ausbeutung gutzuheißen, rührt nicht daher, dass er ein Gentleman ist, sondern daher, dass er tapfer ist.

-JAMIE FISHER


IM SCHATTEN DES KRIEGES
Sarah Glidden
Reprodukt

Dieses Buch aus der Sparte „Graphic Nonfiction" ist ein Meisterwerk. Sarah Glidden schmiedet aus zwei Monaten Berichterstattung über die Flüchtlingskrise in der Türkei, im Irak und in Syrien eine Mischung aus Reportage, persönlicher Erzählung und Geschichtsstunde. Mit dabei sind die befreundeten Journalisten Alex Stonehill und Sarah Stuteville sowie Dan O'Brien, ein Ex-Marine, dessen Anwesenheit trotz seiner ehrlichen Absicht, Land und Leute zu verstehen, immer wieder Spannungen erzeugt.

Die Ereignisse in Im Schatten des Krieges haben sich zwar 2010 zugetragen, doch das Buch ist deprimierend aktuell. Glidden schildert gewandt und ergreifend die Geschichten der Vertriebenen, der Geflüchteten und der Traumatisierten—von denen viele auf unterschiedliche Art und Weise von der US-Regierung im Stich gelassen wurden. Gleichzeitig beleuchtet Glidden die logistischen Manöver und ethischen Grauzonen, welche die journalistische Arbeit mit sich bringt.

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Unter anderem erzählt das Buch die Geschichte von Sam Malkandi, einem irakischen Kurden. Sam desertiert während des ersten Golfkriegs und verbringt die nächsten 20 Jahre als Flüchtling im Iran, in Pakistan und Texas. Schließlich lässt er sich mit Frau und zwei Kindern in Seattle nieder, nur um ins Fadenkreuz der 9/11-Kommission zu geraten, weil er einem Mann in einem örtlichen Einkaufszentrum seine E-Mail-Adresse gegeben hat. Die US-Behörden inhaftieren ihn und schieben ihn nach fünf Jahren in eine kurdische Stadt im Irak ab, ohne ihn je eines Verbrechens zu verurteilen. Anhand von Gerichtsdokumenten und geduldigen Interviews beleuchtet die Crew, wie der freundliche Vorstadtvater zum unwissenden Komplizen wird, der nur noch ein Bindeglied von einem Al-Qaida-Mitglied aus bin Ladens Umfeld entfernt ist.

„Ich habe schon viel über Abschiebung berichtet", sagt die Journalistin Sarah, als die Gruppe Malkandis Leidensweg bespricht. „Jedes Mal bricht es einem das Herz. Das Schlimmste ist die Gewissheit, dass man nichts tun kann, als die Geschichte zu erzählen und zu hoffen, dass sich alles eines Tages ändert."

-JAMES YEH


CERTAIN WOMEN
Kelly Reichardt
filmscience

Die ersten fünf Filme der US-Filmemacherin Kelly Reichardt—die alle bis auf einen in Oregon spielen—konzentrieren sich auf kleine Personenkreise: eine Gruppe Umweltaktivisten (Night Moves), Auswanderer im Wilden Westen (Auf dem Weg nach Oregon) oder eine Obdachlose und ihren Hund (Wendy and Lucy). Ihr neuer Film, eine Adaption von mehreren Kurzgeschichten von Maile Meloy, ist anders: drei lose zusammenhängende Geschichten über vier Frauen in einer Kleinstadt in Montana. Laura (Laura Dern) ist eine Anwältin, die es mit einem aufgebrachten Klienten zu tun kriegt. Gina (Michelle Williams) entfernt sich von ihrem Ehemann—der auch eine Affäre mit Laura hat—als die beiden ein Haus bauen wollen. Eine einsame Ranch-Arbeiterin (Lily Gladstone) verliebt sich unsterblich (und unausgesprochen) in Beth (Kristen Stewart), als diese einen Abendkurs in ihrem Städtchen hält. Die ersten beiden Storys sind sensibel und subtil, doch die stillen, großen Momente der dritten Episode—Rendezvous spätnachts im Diner, ein nächtlicher Ritt am Highway entlang—zeigen eines der großen Talente Reichardts als Regisseurin: Sie besitzt ein unbeirrbares Gespür für die Atmosphäre amerikanischer Orte.

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-MAX NELSON


CRASHING THE PARTY
Scott Savitt
Soft Skull Press

Crashing the Party, eine neue Autobiografie von Scott Savitt, dem langjährigen Chinesisch-Übersetzer der New York Times, beschreibt seine Zeit als einer der ersten amerikanischen Studenten in China während der turbulenten 1980er. Nach seinem Abschluss lebte Savitt fast 20 Jahre lang in China. Erst arbeitete er als Reporter, dann gründete er seine eigene Zeitung, was schließlich in seiner Inhaftierung durch brutale chinesische Beamte endete. Eine Nebenhandlung lockert die Stimmung auf; Savitt zeigt, was passiert, wenn die rebellische westliche Rock-Kultur auf das repressive China nach Mao trifft, und erzählt von Beatles-Coverbands, denen Regierungszensoren an den Fersen hängen. Savitt liefert einen Augenzeugenbericht der Studentenproteste und des Tian'anmen-Massakers, bei dem er selbst auf dem Motorrad zugegen war. Die Panzer und die zerfetzten Menschen beschreibt er in klaren, blutigen Worten. Zwar teilt er auch persönliche Sorgen um sein Liebesleben und Karriereerfolge, doch Savitts eigene Gefühle stehen nicht im Vordergrund, selbst als er von Schuldgefühlen zerfressen ist, nachdem seine Ex-Freundin verschwindet und man von Selbstmord ausgeht.

-KIM KELLY


HUBRIS
Oren Ambarchi
Editions Mego

Als ich den australischen Avantgarde-Komponisten Oren Ambarchi das erste Mal live hörte, dachte ich, mein Brustkorb würde kollabieren. In einem dunklen Theater in North Carolina entlockte er einer Gitarre und einem klein wenig Elektronik schneidenden Noise, dessen lautere Töne mein Brustbein sowie den Stuhl, auf dem ich saß, unkontrollierbar vibrieren ließen. Die Erfahrung war so verstörend wie bewegend. Auf Hubris, seiner jüngsten Veröffentlichung beim altehrwürdigen Österreicher Experimental-Label Editions Mego, wirkt er ein bisschen ruhiger und versetzt Zuhörer etwas kontrollierter in Schwingungen—mit einem Bein auf der Tanzfläche. Die drei Stücke, von denen eines über 20, ein weiteres über 16 Minuten lang ist, verbinden rastlose Gitarren, mechanistisch programmierte Elektronik (zum Teil von House-Genie Ricardo Villalobos) und flackernde Live-Percussion—zumindest in Bezug auf ihre einzelnen Elemente eignen sie sich also auch als Clubmusik. Doch wie der Großteil von Ambarchis Werken hypnotisiert auch Hubris bei längerem Hinhören mit seiner ruhelosen Dynamik. Dieses Unsichere, Fragmentierte kann sich anfühlen, als säße man hinten in einem Auto, das ein bisschen schneller fährt, als einem lieb ist. Oft will Tanzmusik die Ekstase eines verschwitzten Clubs heraufbeschwören, doch Ambarchi zielt mit Hubris auf die aufgekratzte Anspannung, die zu lange Nächte in der dunklen Enge hinterlassen.

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-COLIN JOYCE


THE EXTERMINATING ANGEL
Luis Buñuel
Criterion

In Luis Buñuels absurdem Meisterwerk Der Würgeengel ste­cken die Gäste eines feinen Dinners unerklärlicherweise in der Villa ihrer Gastgeber fest. Tage oder Wochen vergehen, und doch gelingt es niemandem auszubrechen. Vom Hauspersonal verlassen und hungergeplagt werden die Gäste zunehmend egoistisch und streitlustig. Man fragt sich natürlich, was hinter dem Freiheitsverlust dieser Menschen steckt, und die einzig plausible Antwort lautet: „Alles." Der 1962 erschienene Film ist nun als US-Import auf Blu-ray im spanischen Originalton mit englischen Untertiteln erhältlich und führt uns vor Augen, dass der bequeme Lebensstil der Figuren auf Grausamkeit, Eitelkeit und Gier basiert. Ihre strenge Klassenhierarchie, ihre Bigotterie, die sexuelle Aggression, die Unterdrückung von Kindern, Partnerinnen und Geschwistern—all das zeigt sich als Produkt der primitivsten und stumpfsinnigsten Impulse. Silvia Pinal, die einen der Gäste spielt, schreibt Buñuel mit Der Würgeengel die Erfindung des Reality-TVs zu. Tatsächlich kommt man kaum umhin, diese genüss­liche Zurschaustellung der niedersten menschlichen Eigenschaften als Big Brother-Vorgänger zu sehen. „Warum schaue ich das so gern? Bin ich nicht genauso schlimm wie diese Leute selbst?", durchzuckt es uns beim Zuschauen.

-ANDREW KATZENSTEIN

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