40 Jahre danach wird die Palmers-Entführung gerne als "patscherte Geschichte" im Zeitalter von "Wickie, Slime & Paiper" abgetan. Dabei war es eine der "erfolgreichsten" Aktionen in der Geschichte des Linksterrorismus überhaupt. Die hohe Lösegeldsumme soll die "bewaffneten Gruppen" noch bis in die 1980er-Jahre finanziert haben. Vor allem aber für die österreichische Sicherheitspolitik bedeutete der Fall eine entscheidende Wende: Das heutige Einsatzkommando Cobra wurde gegründet und die Behörden lernten aus ihren Fehlern im Fall Palmers, indem sie die Weichen für eine umfassende Antiterrorpolitik stellten."Wien ist keine Stadt für revolutionäre Aktivitäten. Es ist eine Stadt für Agenten, Ganoven, für Spießbürger und ihre Politiker, gerade richtig für die Entführung eines Industriellen."
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In Wien wollten sie sich mit der "Entführung eines Kapitalbesitzers" für lange Zeit finanziell absichern und Österreichs Hauptstadt schien gerade recht. "Wien! Wien ist keine Stadt für revolutionäre Aktivitäten", schrieb Viett später. "Es ist eine Stadt für Agenten, Ganoven, für Spießbürger und ihre Politiker, gerade richtig für die Entführung eines Industriellen."Bei einem Spaziergang über den Campus lernten sie einen Studenten kennen, der Flugblätter verteilte, die Solidarität mit den inhaftierten RAF-Leuten forderten. Der Student Reinhard Pitsch, der den "bewaffneten Kampf" unterstützte, leistete bald Gelegenheitshilfe für die Bewegung 2. Juni.
Das gab unter anderem den Ausschlag dafür, dass nicht der Bankier Meinl oder Ferdinand Porsche gekidnappt wurden, sondern eben Walter Michael Palmers. Dieser hatte die Firma seines Vaters nach dem Zweiten Weltkrieg zum größten Textilkonzern Österreichs ausgebaut. 1977 besaß Palmers in Österreich über rund 90 Filialen und beschäftigte 1.500 Mitarbeiter.Der Kurier bezeichnete den Konzernchef als den "bekannten Unbekannten". Was damals niemanden interessierte – die Diskretion hatte mit dem Trauma der Vergangenheit zu tun. Während der NS-Zeit war Palmers als "Halbjude" nur knapp der Zwangsarbeit entkommen. Mehrere seiner Verwandten wurden im Holocaust ermordet.Die Vorbereitungen für den "Tag X" liefen über Monate: Der damals 21-jährige Theaterwissenschaftsstudent Thomas Gratt kümmerte sich um das Anmieten der Fahrzeuge, Pitsch ließ sich Pass-Dokumente geben. Am 24. August 1977 mietete Gratt eine Drei-Zimmer-Wohnung in der Webgasse Nr. 42 in Wien-Mariahilf. Dort sollte Palmer festgehalten werden. Die Wohnung mit der Türnummer 3 gehörte der "Hilfsgemeinschaft aller Menschen, die guten Willens sind". Ihr Präsident, der 79-jährige Amtsrat Wilhelm Lot, wunderte sich später, dass die Mieter ein Leintuch und mehrere Fotolampen zurückließen: "Ich habe geglaubt, die haben da Pornoaufnahmen gemacht.""Erstens: Es werden keinerlei Auskünfte an die Öffentlichkeit gegeben. Zweitens: Alle Einkäufe werden sofort bar Kassa bezahlt. Drittens: Es werden keine Kredite aufgenommen."
Zuletzt, im September 1977, kundschafteten sie die Lebensgewohnheiten von Palmers aus. Die Entführung lief wie nach Drehbuch ab. Nur mit einem hatten die Kidnapper offenbar nicht gerechnet: plötzlich einen alten, gebrechlichen Mann in den Händen zu haben."Bei unseren Beobachtungen und auf Bildern war er uns viel jünger erschienen", meinte Viett später. Und sie fügte hinzu: "Wir hatten ein schlechtes Gewissen und sorgten uns sehr um den Alten." Palmers verbrachte die vier Tage Gefangenschaft hauptsächlich auf der Liege. Er bekam ein neues Hemd und eine lange Unterhose – die, wie er sich als Anmerkung nicht verkneifen konnte – "von der Konkurrenz" stammte. Im Nachhinein beschwerte er sich nur über das Essen, das ihm seine Entführer vorsetzten: "Ersparen Sie mir, es zu qualifizieren."Außerhalb des von ihnen so genannten "Volksgefängnisses" liefen unterdessen verzweifelte Bemühungen, Palmers freizubekommen. Die Forderung lautete auf 50 Millionen Schilling Lösegeld (heute etwa 10 Millionen Euro).Noch in den Morgenstunden des 10. November 1977 erstatteten der Anwalt der Familie gemeinsam mit Palmers' Schwiegersohn Anzeige. Die Kidnapper diskutierten auch die Ausschaltung der Medien. Der Chefredakteur des Kurier, Karl Löbl, soll dazu nicht bereit gewesen sein. Die Entführung wurde zum Medienereignis. Dutzende Journalisten und Zaungäste belagerten die Villa Palmers. Es gab wenig zu berichten: "Reges Kommen und Gehen, dann wieder stundenlange, lähmende Stille", fasste die Presse zusammen. "Der Dackel, mit dem der Strumpfkönig so gern spazieren geht, darf in den Garten. Er vergisst auf sein 'Geschäft', weil er die an der Grundstückseinfriedung stehenden Kriminalbeamten und Reporter verbellen will", schrieb die Kronen Zeitung.Palmers bekam in Gefangenschaft ein neues Hemd und eine lange Unterhose – allerdings "von der Konkurrenz".
Das Taxi, das an der angebenden Stelle wartete, war nicht echt, sondern ein von Gratt gemieteter Peugeot, auf den die Terroristen ein gestohlenes Taxi-Schild montiert hatten.
Die Ermittlungen der Polizei waren von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden. Die Familie kooperierte nur im notwendigsten Ausmaß – das nährte das Misstrauen. Wenige Wochen zuvor, Ende Oktober 1977, hatten Unbekannte den holländischen Multimillionär Maurits Caransa verschleppt, weshalb für die Polizei eine kriminelle Nachahmungstat naheliegend schien."Ich glaube, wir alle wollten uns ganz einfach nicht vorstellen, dass Terrorismus und Gewalt auf Österreich übergegriffen haben könnten. Das passt ganz einfach nicht ins Selbstbild."
Eine Sonderkommission der Kriminalpolizei arbeitete rund um die Uhr. In der Einsatzzentrale standen nur zwei alte Telefonapparate und das Tonbandgerät, mit dem die Hinweise von Zeugen mitgeschnitten wurden, stammte aus dem Privatbesitz eines Beamten.Weil die Rücklauftaste nicht funktionierte, musste händisch zurückgedreht werden. Noch hinderlicher war das Kompetenzgerangel zwischen Sicherheitsbüro und Abteilung I (Staatspolizei). Letztere hatte relativ früh Aufschlüsse über mögliche Täter. Trotzdem fiel erst neun Tage nach der Entführung der Name "Pietsch" [sic!]. Am Telefon gab ein Stapo-Beamter seinen Kollegen von der Kriminalpolizei so detailliert Auskunft, dass man sich fragt, warum die Puzzlestücke nicht schon früher zusammengesetzt worden waren:
"P. [Pitsch] soll sich aktiv für die Terrorszene in Deutschland interessieren. Er verkehrt fast immer mit einem gewissen Keplinger. P. und Keplinger standen in der letzten Zeit öfters unter Observation der Abt. I. Keplinger steht zurzeit noch immer unter Observation. Zum Zeitpunkt der Entführung von Palmers stand P. nicht unter Observation."
Auch für Keplinger klickten kurze Zeit später die Handschellen. Anhand von Fingerabdruckspuren wurde auch die Rolle der deutschen Terroristen schnell klar.Am 20. Dezember 1977 kam es zu weiteren zwei Festnahmen: Gabrielle Kröcher-Tiedemann und Christian Möller gerieten im Dreiländereck zwischen Schweiz, Frankreich und der BRD in eine Polizeikontrolle. Im Auto mit dabei hatte das Duo einen Briefumschlag, der zwei 500-Schilling-Noten und fünf 100-Dollar-Noten aus dem Palmers-Lösegeld enthielt.Gegen die österreichischen Unterstützer wurden teils harte Urteile gefällt. Am 16. Februar 1979 wurden Keplinger und Pitsch zu fünf beziehungsweise sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Pitsch wurde 1980 entlassen. Keplinger erlangte ebenfalls eine Verkürzung auf vier Jahre, kam aber nicht vorzeitig frei. Gratt wurde zu 15 Jahren verurteilt und verbrachte 13 Jahre in Haft. Am 29. März 2006, einen Tag vor seiner Delogierung, rammte sich Gratt ein Küchenmesser in die Brust. Keplinger verstarb 2010 an Krebs. Pitsch ist damit als letzter des Trios am Leben – und ärgert sich darüber, dass ihm und seinen Genossen in der linken Historiografie keine Anerkennung gezollt wird.
Was in der österreichischen Öffentlichkeit am Ende vom Fall Palmers übrigblieb, könnte kaum österreichischer sein: Nachdem die Millionärs-Entführung kurzzeitig so etwas wie Hysterie ausgelöst hatte, verpuffte die Aufregung genauso schnell wieder und wich einer anderen Sache, die Wien seit jeher am besten konnte: Verdrängung.Peter Michael Lingens bringt es auf den Punkt: "Ich glaube, wir alle wollten uns ganz einfach nicht vorstellen, dass Terrorismus und Gewalt auf Österreich übergegriffen haben könnten. Das passt ganz einfach nicht ins Selbstbild."Der damalige österreichische Innenminister Erwin Lanc, heute 87, findet noch einen ganz anderen Grund für das Ausbleiben einer größeren Panik im Land: Seiner Meinung nach sei Österreich im Vergleich zu Deutschland immer schon linker gewesen. Außerdem habe sein Ministerium immer darauf geachtet, dass aus Bedrohungen "keine Massenhysterie wird, so wie heute. Wir waren wachsam, sensibel, aber nicht hysterisch – weil Hysterie normale Gehirnfunktionen ausschaltet und die braucht man aber, wenn man solche Entwicklungen bekämpfen und eindämmen will." Ein Rat, den wir uns auch heute zu Herzen nehmen sollten."Bei ganz normalen Menschen. Denn das ist durch den normalen Kreislauf gegangen. Die haben bei Banken Geld umgewechselt und wenn der Bankbeamte nicht in den Fahndungslisten nachgeschaut hat, ist das erst gar nicht aufgefallen. Wir haben die entsprechenden Informationen jedenfalls an Interpol und an Polizeibehörden in ganz Europa geschickt. Zurückgekommen ist wenig."
Thomas Riegler ist Historiker in Wien. Zuletzt veröffentlichte er Im Fadenkreuz: Österreich und der Nahostterrorismus 1973–1985 (2010) sowie Tage des Schreckens: Die OPEC-Geiselnahme 1975 und die Anfänge des modernen Terrorismus (2015). Weitere Infos zum Autor findet ihr auf seiner Website.Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.