Zwei menschen stehen trauernd vor einem Foto einer Person, die Autorin hat versucht nach tragischen Todesfällen in ihrem Freundeskreis mit Menschen über den Tod zu sprechen, die viel damit zu tun haben.
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Menschen

Diese Menschen haben mir die Angst vor dem Tod genommen

Der Tod eines Freundes hat mir Angst gemacht. Ich habe darüber mit einem Pfleger und zwei Forensikern gesprochen – und einer Frau, die bald sterben wird.

Vor zehn Jahren habe ich zum ersten Mal einen Toten gesehen. Ein enger Freund war unerwartet gestorben, während er im Ausland studierte. Es dauerte fast zwei Wochen, bis sein Leichnam nach Hause kam. So lange musste ich warten, bis ich mich von ihm verabschieden konnte. Sein Tod war für mich bis dahin abstrakt geblieben, schwer zu fassen. Aber als ich ihn dort liegen sah, in der Leichenhalle auf dem Metallwagen, und seine kalte Haut berührte, wurde mir klar, dass er nie wieder zurückkommen würde.

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Am Anfang des Trauerprozesses spürte ich vor allem seine Abwesenheit. Gerade hatte ein neues Jahr begonnen und er war nicht da, um es mit uns zu feiern. Er würde nie seinen Abschluss machen und er würde nie wieder Songs auf Facebook teilen. Sein Profil ist heute noch da, komplett unverändert, als wäre die Zeit stehengeblieben. Bis zu diesem Erlebnis hatte ich die Endgültigkeit des Todes noch nicht verstanden und mir wurde bewusst, wie zerbrechlich und zeitlich begrenzt das Leben im Vergleich dazu ist.

Damals war ich 20 und sah mein junges Alter als eine Art Garantie dafür, dass ich mich so bald nicht wieder mit dem Tod auseinandersetzen muss. Aber leider beging eine Freundin vor ein paar Monaten Suizid. Ich war schockiert und traurig und die alte Angst vorm Tod kam wieder hoch.

Zuerst erschien die Angst in meinen Träumen, zeigte sich bald aber auch tagsüber: in ruhigen Momenten bei der Arbeit, in der U-Bahn, in der Gesellschaft von Freunden, im Bett, wenn ich neben meinem Freund lag. Plötzlich wurde mir klar, dass auch ich mich eines Tages von den Menschen verabschieden muss, die mir wichtig sind – und sie sich von mir.

Charlotte

Charlotte Nierynck hat vor acht Monaten erfahren, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt ist. Die 35-Jährige hat neuroendokrine Tumore, die hormonbildende Zellen befallen. Inzwischen hat sie Metastasen an den Eierstöcken, der Leber und den Knochen. 

"Ab dem Augenblick, an dem die Ärzte etwas in meinen Eierstöcken sahen, bin ich in sehr finstere Gedanken abgetaucht", sagt Nierynck. Weitere Tests bestätigten die schlechte Prognose. "Monatelang habe ich jeden Tag geweint", sagt sie. "Jede Sekunde jedes Tages habe ich ans Sterben gedacht. Ich übertreibe nicht. Ich wusste nicht, dass die eigenen Gedanken von einer Sache so sehr vereinnahmt werden können."

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Nierynck vergleicht ihren Gefühlszustand in jenen Monaten mit schwerem Liebeskummer. "Ich habe versucht, mich mit dummen Serien auf Netflix abzulenken", sagt sie. "Manchmal hat das funktioniert, aber am Ende hat mich die Trauer immer eingeholt." Allmählich wurde aus der drängenden Frage "Wie kann ich das überleben?" in ihrem Kopf "Wie lange habe ich noch?".

Die Niederländerin musste sich in ihrem Leben schon mehrmals mit dem Tod auseinandersetzen. Beide ältere Schwestern hat sie an Krebs verloren. Die älteste, Melanie, starb an Leukämie. Die mittlere, Emilie, starb mit 18 an einem Gehirntumor. "Leute haben mich ständig gefragt, ob ich auch Krebs bekommen würde", sagt Nierynck. "Ich dachte immer: Drei von drei, das wäre schon ein krasser Zufall." 

Aber auch sie wurde wegen ihrer Familiengeschichte den Gedanken nicht los, dass auch sie das Glück mal verlassen könnte. Zumindest darüber braucht sie sich keine Gedanken mehr zu machen. "Ich habe meine Antwort", sagt Nierynck. 

Als Emilie starb, war Nierynck 15. An die letzten Monate ihrer Schwester erinnert sie sich noch sehr gut. "Sie war wegen der Medikamente aufgequollen", sagt sie. "Auf einer Seite war sie gelähmt und ihr Kurzzeitgedächtnis funktionierte nicht mehr." Mitanzusehen wie sich der Zustand ihrer Schwester verschlechterte, hat Nierynck geprägt. Deswegen hat sie sich dazu entschieden, die rechtlichen Vorbereitungen für Sterbehilfe zu treffen für den Fall, dass sich ihr Zustand verschlechtert. "Ich möchte verpuffen, nicht verfallen." 

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In den Niederlanden ist aktive und passive Sterbehilfe für Menschen ab zwölf legal, wenn ihr Leiden unerträglich ist und es keine Aussicht auf Besserung gibt. In Deutschland ist lediglich die Beihilfe zur Selbsttötung und die passive Sterbehilfe legal, in der Schweiz sieht es ähnlich aus. In Österreich ist nur die passive Sterbehilfe erlaubt, also zum Beispiel das Abschalten lebenserhaltender Maßnahmen. 

"Ich glaube nicht, dass meine Schwester Angst vor dem Tod hatte", sagt Nierynck. Emilie habe schnell akzeptiert, dass es das Ende für sie war. "Sie fühlte sich vor allem schlecht wegen unseren Eltern." Dadurch habe Nierynck verstanden, dass der Tod viel schlimmer für die Menschen ist, die zurückbleiben, als für die, die sterben. "Die Trauer, die ich heute spüre, ist viel geringer als der Schmerz durch den Verlust eines geliebten Menschen", sagt sie. 

Christiaan

Christiaan Rhodius arbeitet als Pfleger in einem Hospiz im niederländischen Hoofddorp in der Nähe von Amsterdam und hat dort täglich mit todkranken Menschen zu tun. Auch er selbst musste sich schon mit seiner eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen. Mit Mitte 30 wurde bei ihn ein Gehirntumor festgestellt. Die komplexen Gefühle, die Nierynck und andere sterbenskranke Menschen erleben, nennt der Pfleger "das palliative Paradox". Das, was das Leben lebenswert macht, also vor allem die Menschen um dich herum, ist auch das, was den Abschied so schwer macht.

Eine seiner Patientinnen, Marja, habe Rhodius mal gesagt, dass ihr im Hospiz bewusst geworden ist, was für schöne und tiefe Verbindungen zu anderen Menschen sie im Laufe ihres Lebens geschaffen hat. "Das verstärkte allerdings auch ihr Leid, weil sie wusste, dass ihr Dahinscheiden Menschen verletzen wird", sagt Rhodius. Laut seiner Erfahrung ist das schönste Gegenmittel für diesen Schmerz, diese Verbindungen aufrechtzuhalten – selbst wenn es einem Angst macht. "Über den Tod zu reden, bringt einen nicht um. Man wird ja auch nicht schwanger, nur weil man über Sex redet."

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Charlotte Nieryncks Priorität ist gerade, ihr Leben wie vor der Diagnose zu leben und ein paar Dinge zu tun, die sie und ihr Mann schon immer machen wollten, bestimmte Reisen zum Beispiel. "Es ist traurig und schön zugleich. Ständig werde ich damit konfrontiert, dass ich gerade mit allem abschließe", sagt sie. "Andererseits entstehen daraus auch unglaubliche Momente." 

Manchmal überkommen Nierynck Sorgen und Zweifel. Da ist die schmerzhafte Erkenntnis, dass ihr Mann wahrscheinlich nach ihrem Tod eine andere Partnerin haben wird, oder die Angst, dass ihr Sohn sie vergessen wird. "Aber eigentlich bin ich vor allem dankbar", sagt Nierynck. "Stell dir vor, du richtest dein ganzes Leben auf die Arbeit aus. Du gehst davon aus, dass du später Zeit für die schönen Dinge hast. Und dann stirbst du plötzlich bei einem Autounfall. Für mich ist das eine sehr unheimliche Vorstellung. Ich kann mich jetzt auf meine Weise verabschieden."

Illustration mit einem Sarkophag, über dem zwei Skelette schweben

Ich persönlich habe nicht nur Angst vorm Sterben. Was danach mit unseren Körpern passiert, finde ich genauso unheimlich. Als ich mich endlich von meinem verstorbenen Freund in der Leichenhalle verabschieden durfte, erkannte ich seine Lippen wieder, seine Nase und seine Augen, aber er war nicht länger der Junge, den ich so sehr geliebt hatte. Er sah größer und schwerfälliger aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Seine Haut war eiskalt. Er schlief nicht friedlich. Es war eindeutig, dass ich einen toten Körper betrachtete.

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Als meine Großmutter starb, hatte ich ein ähnliches Gefühl. Der Arzt sagte uns, dass man an ihren Händen und Füßen ablesen könne, wie lange sie noch zu Leben habe. Je kälter sie waren und je näher die Kälte an ihr Herz kroch, desto näher war ihr Tod. Die Fingerspitzen meiner Großmutter waren nicht länger Teil ihres Körpers, sie waren tickende Uhren, die ihr Sterben ankündigten. Dieses Bild ließ mich darüber nachdenken, was mit meinem eigenen Körper nach dem Tod passieren wird. Für mich eine unheimliche Vorstellung.

Frank

Frank van de Goot ist Rechtsmediziner und seziert Tote, um festzustellen, warum sie gestorben sind. Im Laufe seiner 30-jährgen Berufserfahrung hat er etwa 5.000 Leichen untersucht. Van de Goot hat eine Autismus-Spektrum-Störung. Er glaubt, dass ihm das bei seiner Arbeit hilft. "Wenn ein Körper tot ist, ist er für mich nur ein Ding. Er ist gefühllos."

Selbst wenn er die Person zu Lebzeiten kannte, sei das für ihn nicht anders. So hat er zusammen mit seinem Bruder den Körper seiner Mutter obduziert. "Ja, dieser Körper ist deine Mutter, aber es ist auch einfach nur ein Ding, das ihr ähnelt, und nicht mehr", sagt van de Goot. "Für mich ist das sehr logisch. Meine Mutter war 93 und extrem gebrechlich. Es war einfach an der Zeit."

Hayley

Eine ähnliche Einstellung hat auch Hayley Mickleburgh. Die Archäologin hat sich auf die Untersuchung des Verfalls von Leichen spezialisiert. Für sie spende es einen gewissen Trost, mit eigenen Augen zu sehen, was mit einer Leiche passiert. "Wenn ein Körper verwest, verliert das Gewebe seine Farbe und manchmal gelangen Maden in den Körper", sagt sie. "Aber dann erscheinen plötzlich weiße Knochen. Es ist, als würde aus diesem Diffusen und Unheimlichen etwas Reines und Sauberes entstehen."

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Mickleburgh interessiert sich auch für unseren gesellschaftlichen Umgang mit diesem biologischen Prozess. "Bei vielen Dingen, die wir nach dem Tod eines Menschen mit dessen Körper machen, geht es darum, dessen Verwandlung zu verarbeiten", sagt sie. "In der westlichen Welt geben wir uns große Mühe, diese Verwandlung möglichst hinauszuzögern. Zum Beispiel schminken wir die Personen, damit sie aussehen, als würden sie schlafen. Es gibt aber auch Kulturen, in denen dieser Prozess besonders betont wird."

Letztere haben Mickleburgh als Studentin besonders fasziniert. Ein Beispiel dafür ist die tibetanische Himmelsbestattung, bei der die Toten zerteilt und ins Freie gelegt werden, damit sie von Geiern gefressen werden. "Die körperliche Transformation wird dadurch beschleunigt und geschieht sehr abrupt", sagt Mickleburgh. "Die Körper sind nicht länger die Personen, die du kanntest, sondern komplett neue Wesen."

Für die Archäologin liegt in diesem Übergang eine gewisse Schönheit. Sich wissenschaftlich damit auseinanderzusetzen, ist auch eine Methode, um zu akzeptieren, dass wir alle eines Tages verschwinden werden. Auch der Gerichtsmediziner van de Goot hat das erkannt. "Im Tod sehen alle gleich aus", sagt er. "Egal, wie groß jemand ist, in der Mitte befindet sich immer ein kleines Skelett, der Rest ist Gewebe. Das ist ein ziemlich fragiles Bild, nicht?"

Und dann?

Was abgesehen von dem körperlichen Prozess mit uns nach dem Tod geschieht, ist weitaus schwieriger zu beantworten. Alle Personen, mit denen ich darüber gesprochen habe, hatten andere Vorstellungen. Charlotte Nierynck ist zwar nicht religiös, aber sie glaubt, dass sie nach ihrem Tod wieder mit ihrer Familie vereint wird. Das spende ihr Trost. Der Hospizmitarbeiter Rhodius sagt, dass es ihm bei diesem Thema wichtig sei, möglichst offen für verschiedene Vorstellungen zu sein und den Fokus auf die zwischenmenschliche Beziehung zu legen.

Van der Goot hat sich häufig gefragt, ob es vielleicht etwas jenseits unserer materiellen Welt gibt. "Denken wir zum Beispiel an Magnetismus oder Infrarotlicht. Als Menschen können wir diese Dinge nicht fühlen, riechen oder sehen, aber sie sind da", sagt er. "Es könnte auch so etwas geben, wenn wir sterben."

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Individuell betrachtet erscheint einem der Tod besonders grausam – das Leid und die Leere, die jemand hinterlässt. Aber selbst wenn man nicht daran glaubt, dass die Seele den fleischlichen Körper überlebt, ist es eine schöne Vorstellung, dass sich unsere Körper wieder mit der Natur vereinen und Teil eines größeren Ganzen werden.

"Der Kohlenstoff, aus dem ich bestehe, ist schon mindestens einmal als eine andere Lebensform durch die Gegend gelaufen", sagt van de Goot. "Ich bestehe zu 70 Prozent aus Wasser, Kalk, Kohlenstoff und anderem Zeug. Wenn ich irgendwann sterbe, werde ich vielleicht von einem Baum absorbiert, der mich in Blätter verwandelt, die Sauerstoff produzieren, der von jemandem eingeatmet wird. Und wenn diese Blätter abfallen, wird der Kohlenstoff wieder freigegeben und daraus entsteht etwas Neues."

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Hast du schon einmal an Suizid gedacht oder sorgst dich um einen nahestehenden Menschen? In Deutschland erhältst du Hilfe unter der Nummer 0800 111 0 111 oder im Chat. Trauernde Angehörige finden bei Organisationen wie Agus Hilfe. Menschen aus der Schweiz erhalten Hilfe unter der Nummer 143 oder im Seelsorgechat. Die Nummer der Telefonseelsorge in Österreich ist 142. Auch hier gibt es einen Seelsorgechat. Trauernde Angehörige finden in Österreich bei Organisationen wie SUPRA Hilfe. 

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