Die Autorin trinkt Gin aus einem kleinen Schnapsglas. In dem Artikel geht es um das Hobby Gin Tasting
Fotos: Philipp Sipos
Menschen

Hobbys, die ich nicht verstehe: Gin Tasting

Wer Gin Tasting sagt, muss auch Man-Bun sagen. Und Holzfällerhemd, Lederarmband, Vollbart und Anker-Tattoo. Oder sind das völlig überholte Vorurteile?
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Menschen, die gerne Gin verkosten, sind zu alt zum Feiern und zu jung zum Sterben. Sie arbeiten seit zehn Jahren in Vollzeit, haben jeden zweiten Donnerstag eine Date-Night mit der besseren Hälfte und posten unironisch Boomerangs auf Instagram. 

Leute, die Gin nicht einfach nur trinken, sondern tasten, haben sich irgendwann während der Nullerjahre nicht mehr weiterentwickelt. Sie sind so, wie sich heute nur noch 50-jährige Werbetexter Hipster vorstellen. So, wie es sie eigentlich zuletzt 2012 in freier Wildbahn gegeben hat. Vollbärtig, schwere Boots, zwei, drei Seemanstattoos, Hosenträger. Wer die letzten lebenden Exemplare bestaunen möchte, um dann seinen Kindern sagen zu können: "Ja, so hat man das damals getragen", kann das beim Gin Tasting tun.

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All diese Vorurteile. All diese Feindbilder. Ein guter Mensch hat beides nicht. Bisher war kein einziger gintastender Menschen böse zu mir. Trotzdem rollen sich meine Augen automatisch nach innen, wenn ich nur an dieses Hobby denke. Wer Gin als Hobby sieht, ist zu tief drin in der Materie, finde ich. Warum ist dann Sekt Tasting kein Hobby? Warum verurteile ich Weinverkostungen viel weniger als Gin Tastings? Und warum muss dieses Hobby für mich überhaupt einen Sinn ergeben?

Mir bleiben in diesem Jahr noch wenige Wochen, in denen ich zu einem besseren Menschen werden kann. Einer, der andere so nimmt, wie sie sind. 2024 soll augenrollfrei werden. Und wo könnte ich diese Mission besser verfolgen als in der Gin Chilla Bar in Berlin-Friedrichshain, die mehrmals die Woche Gin Tastings anbietet? Gin Chilla. Das ist ja echt ein kesses Wortspiel, denke ich, und fixiere schnell einen bestimmten Punkt im Raum. 

Ich melde mich für ein Tasting Anfang Oktober an. Philipp Danz ist der Geschäftsführer der Bar und leitet die Gin Tastings. Gin und er, das sei Liebe auf den ersten Schluck gewesen, erklärt er später. Philipp weist mir freundlich einen Platz zu und als er seinen Kopf ein kleines bisschen neigt, entdecke ich es: ein kleines Haarknödelchen mitten auf Philipps Kopf. Philipp trägt einen Man-Bun. Er ist zwar ganz klein, aber er ist da. Und ja, er hat auch einen Vollbart. Allerdings wäre es ziemlich lahm, sich heute noch über einen Man-Bun lustig zu machen. Denn der wurde kulturell schon so umfassend in die Mangel genommen, dass es inzwischen fast wieder punk ist, sich einen stehen zu lassen. Der Man-Bun ist der Irokese der 2020er. 

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In meiner Gruppe sind noch acht andere Ginprobierer. Alle begrüßen mich nett. Auf der Theke stehen sieben Flaschen Gin bereit, um verkostet zu werden. Aber Philipp erzählt erstmal ein bisschen. Es geht um Alkoholbrenntemperaturen, Wacholderbeeren, die Queen Mom, England, irgendeine Anekdote aus dem 17. Jahrhundert und im 18. Jahrhundert war auch nochmal was mit Gin. Philipp weiß mehr über Gin als ich über egal welches Thema der Welt. Philipp kennt Gin besser als ich mich selbst. 

Diese sieben Gins wurden beim Tasting verkostet

Die Tasting Gins

Was ich vorher nicht wusste, ist, dass Gin eigentlich keine eigene Spirituose ist. Gin basiert nämlich auf einem Klar-Alkohol, wie zum Beispiel Wodka oder Korn. Man versetzt ihn mit Aromen von der Wacholderbeere, Zitrusfrüchten und zum Beispiel Anis oder Koriander. Ich fühle mich in meiner Annahme, Gin sei ein wenig überbewertet, bestätigt. "Also könnte ich einfach Wodka mit Wacholderbeeren und Zitronensaft vermixen und dann käme da Gin raus?", frage ich Philipp. Er verneint streng und erklärt irgendwas mit Destillat und Mischverhältnis. OK, sorry.

Der Geschäftsführer der Bar sammelt Gläser ein

Philipp in Aktion

Bevor wir den ersten Gin probieren, sollen wir an ihm schnuppern. Philipp sagt, dass der Gin in beiden Nasenlöchern unterschiedlich riechen werde und wir am besten immer ein Nasenloch beim Alkoholschnüffeln zuhalten sollen. Und tatsächlich: In meinem rechten Nasenloch zwickt der Gin richtig. Im linken ist der Geruch angenehmer. Um unsere Näschen wieder auf null zu setzen, sollen wir danach an unserer Armbeuge riechen. Meine Armhaut riecht für mich nach nichts und neutralisiert meine Nase wieder. 

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Die Autorin riecht an einem Probier-Gin

Ich kann Gin gut riechen

Nach dem Herumschnüffeln dürfen wir endlich kosten. Ich lasse nur ganz, ganz wenig puren Gin aus dem 2-cl-Glas in meinen Mund tropfen und selbst das kleine Bisschen brennt ganz schön. Manche finden das lecker, ich gar nicht. Erst, als ich den Gin mit Tonic Water aufgieße, kann ich wirklich etwas schmecken. Vorher spüre ich nur das alkoholische Feuer in meinem Mund. Philipp fragt, ob wir Nuancen im Geschmack erkennen. "Ich schmecke vielleicht Orange?", fragt jemand aus der Runde. "Falsch, Zitrone", sagt Philipp. Dann murmeln wir alle, dass wir die Zitrone – jetzt, da er es sagt – auch ganz deutlich erkennen. Sowieso schmecken wir immer genau das, was Philipp uns sagt. "Denk mal an Waldmeister", sagt Philipp, und ich kann nichts anderes mehr schmecken. Gehirne, ne? Richtig dumm.

Ein Glas mit Gin

Die kleinen Kügelchen sind Wacholderbeeren

Ich erschmecke keine einzige Nuance richtig. Manchmal verkünde ich laut, dass ich den Gin jetzt wirklich am besten finde. Dann sagt jemand aus der Runde, dass er den vierten besser fand. Unser Smalltalk-Game ist strong. Tasterin Joy meint zweimal Süßholz zu erkennen – wie auch immer das schmecken soll – und hat sogar einmal recht. Es beeindruckt mich ein bisschen, dass Joy Holzgeschmäcker kennt. Ich kenne keinen einzigen Holzgeschmack. Wenn ich Holz essen müsste, würde ich in einen Ahornbaum beißen, weil der so hübsche Blätter hat. Außerdem gibt es ja auch Ahornsirup.

Langsam steigt mir der Gin zu Kopfe. Auf der Toilette steht an der Wand "It's Gin O'Clock" und "Ginthusiast" und ich verliere sofort wichtige Promillepunkte. Es ist das gleiche Gefühl, wie wenn man auf einer Party ist und plötzlich nüchtern wird, weil eine Freundin kotzt. Adrenalin verdrängt dann Alkohol und man kann sich kümmern. Warum diese Wortspiele eine gefühlt derart starke Wirkung auf meinen Pegel haben, weiß ich nicht. Auf dem Klo sitzend betrachte ich die Fensterrahmen und frage mich, aus welchem Holz sie angefertigt wurden und wie sie wohl zusammen mit ein bisschen Zitrone und Wacholderbeere schmecken würden. 

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Zurück an der Bar probiere ich den fünften Gin. Er schmeckt nach Pfeffer, nachdem Philipp "Pfeffer" sagt. Ich bewege den Gin gerade noch in meinem Mund umher, als Philipp sagt: "Ich verstehe diese Menschen gar nicht, die Alkohol nur trinken, um besoffen zu werden. Ich trinke Alkohol aus Genuss." Wäre dies eine Sitcom, ich würde meinen Pfeffergin ausprusten und er würde wie Sprühregen auf den Boden fallen. Ich schlucke ihn stattdessen einfach runter. 

Der Geschäftsführer Philipp Danz steht hinter der Bar

Philipp nicht in Aktion

"Das ist doch gelogen", sage ich zu Philipp. Ich habe Alkohol bisher nur getrunken, "um besoffen zu werden". Also zumindest beschwipst. Wenn es den Effekt nicht gäbe, würde sich doch kein Mensch ständig kleine Mengen Gift einflößen. Dann würde man freitagabends statt einem Bier doch eine heiße Schokolade bestellen, denke ich und sage: "Niemand trinkt Alkohol nur wegen des Geschmacks." Ich werde ziemlich mitleidig angesehen. Niemand, nicht eine einzige Person aus der Gruppe, stimmt mir zu. Ich frage Joy und die sieben anderen Taster, warum sie wirklich hier sind. Sie antworten, dass sie tatsächlich alle nur kosten und Nuancen herausschmecken wollen. Das mache einfach Spaß. Mir machts ja auch Spaß, aber der Grund dafür sind die fünf Gi-Tos in meinem Bauch. 

In der Gruppe sind alle mindestens 27 Jahre alt, die meisten sind Mitte bis Ende 30. "Jetzt seid mal ganz ehrlich", sage ich in die Runde und denke, die Taster durchschaut zu haben. "Sind wir in Wirklichkeit nicht alle hier, weil wir langsam zu alt zum Feiern sind? Wir können es uns nicht mehr leisten, Montag noch verscheppert zu sein, weil wir alle arbeiten müssen. Mit dem Trinken aufhören wollen wir aber auch noch nicht. Ist Gin-Tasting vielleicht einfach ein Zeichen dafür, dass man alt wird?" 

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"Also ich bin arbeitslos", sagt Joy und verkostet weiter Gin. "Nee, mir schmeckt das einfach", sagt Norman.

Vier Leute stoßen an und sehen glücklich aus.

Die Verkostungs-Runde kurz vor der nächsten Gin-Inspektion

Bullshit, denke ich und sage: "Verstehe." Ich frage Philipp, warum dann 18-Jährige keinen Gin tasten. Anscheinend trinkt ja jeder Mensch auf der Welt außer mir Alkohol des Geschmackes wegen. "Weil Gin denen zu bitter ist und weil sie kein Geld für ein Tasting haben. 18-Jährige wollen Alkohol, der nicht nach Alkohol schmeckt." Wie ich. 

Nach ungefähr zwei Stunden haben wir sieben verschiedene Gins probiert. Beim letzten Probier-Gin schmecke ich tatsächlich etwas raus: Ananas! Und das, obwohl Philipp uns keinen Tipp gegeben hat. Ich bin nicht sicher, ob ich nun tatsächlich einen trainierten Gaumen habe oder ob der Gin einfach sehr stark nach Ananas schmeckt. 

Nach dem Tasting bestellen alle noch ein Gläschen. Die anderen wohl des Geschmackes wegen, ich, weil es ballern soll. Ich wünsche mir den stärksten Gin, weil ja jetzt sowieso alles egal ist. Der 60-prozentige Gin mit feinen Noten von Zitrusfrüchten und vielleicht irgendwelchen Hölzern schmeckt … nach Gin. 

Um mich herum riechen, schlürfen, schmatzen und schmecken alle ihren Gin. Philipp hat uns alle einzeln beraten und jedem einen Gin Tonic nach Wunsch-Aromen zusammengestellt. Die einzige, die keinen Wunsch-Geschmack hatte, war ich. Mein Wunsch wäre Apfelschorlengeschmack gewesen. Oder Ahorn. 

Eine kleine Flasche Currywurst-Gin

Diesen Gin hat Philipp erfunden (wirklich)

So richtig verstehe ich das Hobby Gin-Tasting noch immer nicht. Ich mag Gin. Aber ihn einfach nur so zu trinken, reicht mir eigentlich. Vielleicht bin ich einfach noch nicht bereit dafür, Alkohol von Eskapismus loszulösen: Konzentration gehört an den Schreibtisch und nicht an den Tresen, finde ich. Vielleicht muss ich aber auch gar nicht jedes Hobby verstehen. Vielleicht reicht es auch einfach zu erkennen, dass ich einen total netten Abend hatte. 

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