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Helene Fischer und die rosa Schildkröte—Im Stadion mit Deutschlands größtem Popstar

Ödipus-Komplexe, Liebe, Ecstasy. Unser Autor war beim Helene Fischer-Konzert im Berliner Olympiastadion.

Es gibt Momente, in denen weiß man: Ich habe es geschafft. Sieh her Mutti, du kannst stolz auf deinen Jungen sein, denn ich bin jetzt auf dem Cover der GALA. Guckt euch das an, ihr schwitzenden, kahlköpfigen Lehrer von damals, die mir Dummheit unterstellten. Ich habe auf dubiose Art und Weise mit Anfang Zwanzig meine erste Million verdient und eine Skihütte in Kitzbühl, in der es tagtäglich Schnee rieselt. Was sagt ihr jetzt? Oder: Hey du, Mädchen von damals ohne Interesse an meiner Wenigkeit, ich bin jetzt mit einer der GNTM-Finalistinnen aus der vierten Staffel zusammen und es ist nicht Gina-Lisa. Solche Momente eben. In dieselbe Reihe der fragwürdigen Erfolge lässt es sich ohne Zweifel stellen, wenn man eine VIP-Loge bei einem Helene Fischer-Konzert im Berliner Olympiastadion sein Eigen nennen kann. Was soll da noch kommen? Oder wie Oliver Kahn es einst formulierte: „Es gibt viele Ratgeber, die einem erklären, wie man die Nr.1 wird. Aber nur wenige können einem sagen, was man machen soll, wenn man bereits die Nr.1 ist. Ich aber kann das“. Helene Fischer würde so etwas natürlich nicht sagen. Sie ist eine von uns. Da passt eher das Motto von La Haine: „Bis hierher liefs noch ganz gut.“

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Freisuff, Catering und dazu der deutschen Britney Spears lauschen. Started from the bottom now we're here und so. Die Dreadlock-Träger in meiner virtuellen Freundesliste würden sich echauffieren und ich hätte einen schönen Tag. So hatte ich mir das gedacht. Und jetzt sitzen wir hier. Es sind um die 35 Grad, mein Kompagnon und ich kleben in unseren VIP-Sesseln und fächeln uns unentwegt Luft mit den großzügigerweise verteilten Programmheften zu. Wir schwitzen Sturzbäche aus allen möglichen Körperöffnungen und nuckeln abwechselnd an unseren 1,5 Liter Flaschen Mineralwasser und dem soundsovielten Prosecco. Neben uns einige desinteressiert dreinblickende Musikmanager und befremdlich euphorische Menschen, die aussehen, als wären sie die buckligen Verwandten eben jener hohen Tiere aus der Musikindustrie. Die Show hat noch nicht begonnen, aber der Innenraum ist schon bedrohlich mit hysterischen Bio-Deutschen gefüllt. Und wir reden hier nicht von Yoga-Fetischisten und Grünen-Wählern. Wer nicht blond ist, verkauft hier Getränke. Ich presse mich noch tiefer in den äußerst gemütlichen Sessel. Die Ecstasy-Pille wirkt langsam. So von links unten schiesst Sie zielstrebig in die Gehirngänge.

Ein junger Mann voller Liebe | Foto: Imago

Endlich beginnt die Show. Frau Fischer betritt in einem gelben Irgendwas die Bühne und sagt etwas, dass Sie diesen Abend noch oft sagen wird. „Beeerliiiin!“ So weit, so richtig. Ich will keinen Hehl daraus machen, dass ich Sympathien für diese Frau habe. Wenn so viele Menschen etwas scheiße finden, muss da was Gutes dran sein, so die bestechende Logik. Außerdem regen sich so wunderbar viele Leute auf, wenn man sich als Fan outet. Trotzdem fällt uns erst nach einer Viertelstunde auf, dass Sie bereits vier Lieder gesungen hat. Wir dachten irgendwie, das wäre ein einziger extrem langer Song. Der Ton ist ausgezeichnet, trotzdem ist die Angelegenheit etwas breiig. Außerdem habe ich mich in den letzten Minuten auf die Effekte der Großbild-Leinwand konzentriert, die zwar an Windows 98 erinnern, aber in meinem Zustand ein Spektakel erster Klasse liefern. Zwei Prosecco noch bitte. Die bombastische Lichtshow und die urban anmutenden Tänzer auf der Bühne sind einfach zuviel des Guten, ich muss mich auf was Einfacheres fokussieren, sonst werd ich unleidlich. Alkohol ist etwas Einfacheres. Auch unser Lenchen beginnt zu zicken. Sie mokiert sich halb scherzhaft über einige Helene Fischer-Ultras im Publikum, die sich nicht an das Gebot der ausschließlich weißen Kleidung gehalten haben [Anm. d. Red.: Alle Besucher des Konzerts im Berliner Olympiastadion waren gebeten, weiße Kleidung zu tragen. DVD-Aufzeichnung und so]. „Naja, es gibt halt immer ein paar schwarze Schäfchen“ sagt Sie. Oha, jetzt wird’s ernst. Oder ich bin grad einfach etwas zu sensibel.

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Plötzlich ein Schock. Bei einer der Nahaufnahmen wird es deutlich sichtbar: Helene schwitzt. Was ist da los? Deutlich trieft ihr der Schweiß von der Stirn, ich fühl mich automatisch wohler in meiner Haut. Okay, ich sitze in einer Jogginghose und mit schreckgeweiteten Augen etwas deplaziert zwischen Anzugträgern und potentiellen PEGIDA-Mitläufern, aber ich bin nicht der Einzige, dem das Wasser runterläuft. Eat this, C-Promi auf dem Nachbarsitz, der bereits etwas pikiert rüberschaut. Die Sauercrowd im Stadioninneren wird immer wilder, einige deuten bereits Hüftbewegungen an. Stufe für Stufe nähere ich mich dem Idealzustand nach dem Konsum der sagenumwobenen rosa Schildkröte. Helene Fischer scheint das zu merken, denn Sie räkelt sich nun in einem Jeansanzug auf einem roten Kussmund-Sofa. Das ist stark. Das Sofa kenn ich aus den nächtlichen Sex-Hotline-Shows. Und aus drittklassigen Möbel-Prospekten. Ich fühl mich endlich zuhause. Ab jetzt geht es Schlag auf Schlag. Engel-Outfit, Beyonce-Moves, grünes Pailetten-Top zu schwarzer Hose, rhythmisches Geklatsche und natürlich „Beeeerlin!“. Ich checke meinen Facebook-Account. „Zu Helene Fischer gehen ist wie AfD wählen“ hat da jemand kommentiert. „Aber Jedem das Seine“. Alles läuft nach Plan.

Drei Helene-Fischer-Ultras, unser Autor ist nicht dabei | Foto: Imago

Nach einer Stunde beginnt Helene dann einfach Lieder von anderen „Internationalen Stars“ zu singen, die Sie sehr mag. Erst ein bisschen Westernhagen, dann auch mal Tina Turner oder irgendwas das wie „Amazing Grace“ klingt. Ich bin mal wieder schockverliebt. Würde uns jemand erzählen, dass in Taiwan ein Popsternchen ganze Stadien mit aalglatten Karaoke-Einlagen füllt und pro Ticket um die 70€ verlangt, man würde sich nicht wundern. Ach ja, diese verrückten Asiaten. Aber doch nicht bei uns. Nachdem Sie den Bogen mit einem White Stripes-Cover komplett überspannt, wechselt Helene dann doch lieber zurück ins eigene Fach. Ich komm irgendwie nicht mehr mit. Gerade noch schwebte sie an Seilen über unsere Köpfe hinweg und jetzt steht die Fanmeilen-Grande Dame schon wieder im aufreizenden Fummel auf einer kleinen Bühne in der Mitte des Stadions. Wie macht sie das nur? Und vor allem: Wie lange mach ich das noch mit? So langsam wird das alles zu viel, im positiven Sinne. Die Bediensteten der VIP-Lounge sehen uns die Misere offensichtlich an und versorgen uns großzügig mit Flüssigkeit. Bis hierher liefs noch ganz gut. Aber jetzt, Trigger-Warnung: Der nächste Song ist etwas verrucht. Wie eine Rihanna mit künstlicher Hüfte wirbelt der blonde Duracell-Hase nun über die Bühne und singt dabei „Du bist in vielem noch ein großes Kind, ganz genau wie ich/ Und das der Tag für dich erst nachts beginnt, ja das reizt auch mich./ Ich bräuchte mal 'ne kleine Pause. Mein Akku ist fast leer./ Doch ich hab' immer wieder, wieder Lust auf mehr.“ Potzblitz, das ist mal eine Ansage. Ab ins Berghain Helene, die Nacht ist noch jung und rosa Schildkröten gibt es da auch. Ich wäre dabei.

Der Abend neigt sich dem Ende zu. Helene nörgelt noch mal, als es kurz nieselt. „Wir hatten die ganze Zeit lang keinen einzigen Tropfen auf der Tour. Und in Berlin muss es regnen, das war ja klar“. Diese Mischung aus strenger Mutter und goldener Projektionsfläche, die gefällt dem Deutschen offensichtlich. Ödipus Schnödipus, hauptsache du hast die Mama lieb. Kurz darauf folgt die Umarmung. „Ich mach' das alles nur für euch.“ Wer hätte das gedacht. Danke, Pinnochio Fischer. Und dann ist alles vorbei. Natürlich nicht ohne, dass vorher drei verschiedene Versionen des Evergreens „Atemlos“ präsentiert wurden. Die AOK-Sekretärin neben mir flippt komplett aus, denn sie kennt das Lied. Das Licht geht an. Automatisch stecke ich mir eine Zigarette an, sie schmeckt etwas fahl, ich schaue betreten auf den Boden. Man will sich so ein bisschen davonstehlen, vielleicht noch einen Zettel dalassen, mit einer falschen Telefonnummer drauf. Vielleicht kaufe ich mir beim Rausgehen auch noch das Helene Fischer-Parfum, einfach nur um ihr was Gutes zu tun. Man fühlt sich schlecht und hat Mitleid nach dieser zweistündigen Mega-Show. Ist das ein psychologischer Trick? Ist das etwa ihr Erfolgsgeheimnis? Zu komplizierte Fragen momentan. Zum Glück treffen wir einen guten Freund, der das Catering mitorganisiert. Er besorgt uns ein paar Bier zum Runterkommen und lässt uns Haftbefehl über die Boxen seines Fresstrucks hören, bis die Security sich beschwert. Das ist hier schließlich keine Diskothek, sondern das Olympiastadion. „Aber Jedem das Seine“ sagt einer von ihnen und zeigt uns den Weg nach draußen.

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