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Was meint The Weeknd, wenn er sagt, dass er sein Gesicht nicht spüren kann?

Und warum liebt er es? Eine kleine Unterrichtsstunde in Pop-Philosophie.
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Martin T. Hadley ist ein depressiver Philosophie-Absolvent, der nicht Radio hören kann, ohne von den existentiellen Krisen gepeinigt zu werden, die den Lyrics fast jedes Popsongs zugrunde liegen. Noisey hat ihn gebeten, die philosophischen Probleme im Kern einiger unserer Lieblingssongs zu untersuchen. Heute: „Cant Feel My Face“ von The Weeknd.

Dieser Song ist deprimierend. Vielleicht nicht auf den ersten Blick, doch sobald du darüber nachdenkst, dass The Weeknd in der erweiterten Metapher (mit der wahrscheinlich seine verzweifelte, kompromisslose Sehnsucht nach einer verflossenen Liebhaberin verdeutlicht werden soll) eine verzweifelte und vielleicht lähmende Abhängigkeit von Kokain zugibt, fällt es dir wie Schuppen von den Augen. In diesem Sinne geht es bei „Can’t Feel My Face“ um Abhängigkeit, Verzweiflung, mangelnde Kontrolle, Isolation und damit zusammenhängend um Selbstwertgefühl, Angst, Elend und letztendlich um einen schmerzhaften und unschönen Tod.

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Das alles ist für mich aber nicht interessant. Wenn du dich für solche Sachen interessierst, solltest du irgendwas von einem Franzosen lesen. Was wirklich interessant ist, ist der Text im Refrain dieses geschmeidigen, sinnlichen und außerordentlich deprimierenden Songs:

I can't feel my face when I'm with you, (but I love it, but I love it)

Das scheint einfach zu sein: The Weeknd berichtet, dass es etwas gibt, nämlich sein Gesicht, was er nicht fühlen kann (und dass er das Gefühl des Nichtfühlens liebt). Wenn man die nicht sonderlich subtile Metapher in diesem Song bedenkt, kommt man nicht drumherum zu denken, dass er sich auf die betäubende Wirkung von Kokain bezieht. Kokain wurde in den 1880ern schließlich zunächst als lokales Betäubungsmittel eingesetzt. Freud war auch ein großer Fan davon. Er und ein Augenarzt namens Carl Koller, der als erster die betäubende Wirkung entdeckt hatte, haben ordentlich davon geschnupft und sich dann gegenseitig mit Nadeln in die Augen gepiekst, um zu beweisen, dass es wirklich funktioniert. Heutzutage wird es in der Medizin aber nicht mehr verwendet—nur noch auf Partys, wo Menschen es in schierer Verzweiflung dazu nutzen, sich nicht wie ihr bemitleidenswertes Selbst zu fühlen.

Foto von Giorgi Nebieridze

The Weeknd möchte uns also mitteilen, dass er eine Betäubung im Gesicht erfährt. Daraus ergeben sich mindestens zwei Fragen: Was ist diese Taubheit und was bedeutet es, dass ihm das passiert?

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Vielleicht meint er mit Taubheit nur das Ausbleiben von Fühlen. The Weeknd könnte, so möchte man hoffen, mit seinen Händen nach oben fassen und sein Gesicht berühren. Auf diese Weise würde er es auf genau die gleiche Art spüren, wie es ein blinder Mensch spüren würde und könnte so sein Gesicht fühlen. Er muss sich dann auf eine andere Form des Fühlens beziehen: die Art von Fühlen des eigenen Körpers aus dem eigenen Körper heraus, anstelle von etwas, das sich außerhalb des eigenen Körpers befindet.

Denn selbst, wenn du deine rechte Hand mit deiner linken Hand berühren würdest, wäre das ‚innere Gefühl‘ deiner rechten Hand, die berührt wird, ein anderes als das ‚äußere Gefühl‘, deiner rechten Hand, die etwas berührt. Das letztere Lionel-Gefühl, auch bekannt als Extorezeption, unterscheidet sich eindeutig vom inneren Gefühl. Das Gefühl seiner inneren Sinne—Interozeption—zeigt sich zum Beispiel, wenn man rot wird, Hunger hat, Kopfschmerzen hat und so weiter. Es scheint also, als wäre Taubheit eher eine interozeptive als eine exterozeptive Erfahrung.

Anders als exterozeptive Erfahrungen sind interozeptive Erfahrungen die Quelle eines bestimmten Wissens. Falls wir eine Empfindung wie Schmerz verspüren, dann ist es unmöglich, nicht zu wissen, dass wir Schmerzen haben. Du könntest nicht falsch liegen, wenn es, sagen wir, um einen kurzen, stechenden Schmerz in deinem linken Auge geht—einfach, weil du direkten Zugang zu der Schmerzerfahrung selbst hast. Bei Exterozeption—der Erfahrung der externen Welt—können wir uns jedoch irren, da wir zu den Objekten selbst keinen direkten Zugang haben. Wir denken vielleicht, dass die Ursache unseres Augenschmerzes Freud war, der uns grinsend eine Nadel ins Auge jagt. Wenn wir dann aber nachsehen, wird uns klar, dass es in Wahrheit die Schmerzursache Koller war, der uns einen Nagel und keine Nadel ins Auge gedrückt hat. Der Fehler mag vielleicht keine weiteren Konsequenzen haben, aber es bleibt trotzdem ein Fehler.

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Tatsächlich ist es möglich, sich zu irren, wenn es um eine externe Quelle des Schmerzes geht, denn jemand kann auch Schmerz empfinden, ohne dass ihm überhaupt körperlicher Schaden zugefügt wird.

Auch bei Taubheit scheint es keine Möglichkeit zu geben, sich bei dem Gefühl zu vertun. Allerdings scheint Taubheit merkwürdigerweise keine weiteren Vermutungen über die externe Welt entstehen zu lassen: wenn der Schmerz uns mitteilt, dass uns etwas körperliche Schmerzen zufügt, dann bleibt es unklar, was das extramentale Äquivalent für Taubheit eigentlich ist, das dem Körper zugefügt wird—eine Beschädigung des Körpergewebes an sich, scheint es jedenfalls nicht zu sein.

Foto von Adam Swank | Flickr | CC BY-SA 2.0

Vielleicht definiert sich Taubheit also über die Abwesenheit von etwas—die Abwesenheit von Gefühl—sowie Dunkelheit die Abwesenheit von Licht ist. Falls die einzige Möglichkeit, Dunkelheit wahrzunehmen, über unsere Augen geschieht, könnte man ja sagen, dass wir sehen, dass es dunkel ist. Bei genauerer Betrachtung scheint es aber nicht richtig zu sein, dass wir die Dunkelheit selbst sehen können. Wenn es nämlich komplett dunkel ist, sehen wir gar nichts mehr. Die Wahrnehmung von Dunkelheit kann also nur geschehen, wenn es die totale Abwesenheit von Licht gibt. In diesem Sinne ist die Behauptung, Dunkelheit sehen zu können, genau so merkwürdig wie zu sagen, dass du in einem ausgeschalteten Fernseher etwas sehen kannst. Du kannst dir eine Weile einen Fernseher mit schwarzem Bildschirm ansehen, aber das ist nicht wirklich fernsehen.

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Wenn Dunkelheit, die Abwesenheit von Licht, also darüber definiert ist, worin es an Reizen dafür fehlt, was Licht wahrnimmt, dann sollte man vielleicht gleichermaßen über Taubheit sagen, der Abwesenheit von Gefühl, von einem mangelnden Reiz definiert ist, der Gefühl wahrnimmt. Das scheint aber nicht ganz korrekt zu sein, da es dabei ja in gewisser Weise das Gehirn sein muss, das The Weeknd mitteilt, dass er sein Gesicht nicht spüren kann. Vielleicht sollten wir darauf schließen, dass der mangelnde Input oder Reiz im Gesicht von The Weeknd selbst stattfindet. Das scheint bei genauerer Betrachtung aber auch nicht ganz korrekt zu sein, da, wie wir vorhin schon angemerkt haben, es weiterhin unklar bleibt, was die extramentale Ursache von Taubheit tatsächlich ist. Es ist nicht erwiesen, dass es ein Äquivalent zu irgendeiner Art der körperlichen Versehrtheit gibt, die wir (manchmal) für Schmerzen verantwortlich machen.

Es scheint also weiterhin unklar zu sein, was es wirklich bedeutet, wenn The Weeknd sagt, dass er sein Gesicht nicht spüren kann. Es ist das Ausbleiben eines Gefühls, das in gewisser Hinsicht ziemlich bizarr anmutet, überhaupt gefühlt zu werden. Ich habe mich deswegen mit Dr. Sam Gilbert, einem Neurowissenschaftler an der UCL unterhalten, der mir erklärt hat, dass unsere Gehirne tendenziell nicht alle Eigenschaften unserer Umwelt darstellen. (Ich schätze, dass es genau das ist, worauf diese Achtsamkeitsübungen ausgelegt sind, einem damit zu helfen.) Wir werden allerdings auf Unterschiede zwischen den Reizen, die wir erfahren, und den Reizen, die wir erwarten zu erfahren, aufmerksam gemacht. Denken wir nur mal an die Unfähigkeit, den Geruch eines Raums wahrzunehmen, in dem wir uns eine bestimmte Zeit aufgehalten haben. Erst wenn wir in diesen Raum zurückkehren, so scheint es, nehmen wir seinen speziellen Geruch aus ungewaschenem Bettzeug und der schon lange in Vergessenheit geratenen Schüssel Pilzrisotto wieder wahr. Ähnlich nehmen wir voller Freude das Verstummen des Brummens des Kühlschranks wahr, auch wenn uns das Brummen vorher gar nicht aufgefallen war. Das Ausbleiben des bis dahin zu hörenden Geräuschs, kommt einem geradezu laut vor—wie ein Geräusch selbst—und vielleicht ist es auch das, warum sich Taubheit wie ein Gefühl selbst anfühlt, auch wenn es tatsächlich das Ausbleiben des Fühlens ist.

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Ich gehe mal nicht davon aus, dass es The Weeknd am Ende wirklich nur um Betäubung geht. Ich schätze, dass er einfach gegenüber der Welt da draußen taub sein will und ihrem nicht enden wollenden Hang dazu, uns in die absolute Verzweiflung zu treiben. Vielleicht ist das auch der Grund, warum er zu einem der fröhlichsten Songs dieses Jahres singt:

And I know she'll be the death of me, at least we'll both be numb
And she'll always get the best of me, the worst is yet to come

Aber kann uns die Liebe wirklich dieses endlose Leiden vergessen lassen—uns der Welt gegenüber taub machen? Camus erinnert uns daran: „Wenn ich denke, dass Glück möglich ist, dann kenne ich sein flüchtiges Wesen nur zu gut—und durch ein krudes Paradox ist es, anstatt im Überfluss vorhanden zu sein, der uns würdevoll erbauen könnte, lediglich eine Taubheit, derer wir uns erst im Nachhinein bewusst werden.“

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