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Noisey Blog

So war das Reeperbahn-Festival 2013

Nicht-repräsentativ und keineswegs Konsens-fähig - unser Bericht des gerade zu Ende gegangenen Reeperbahnfestivals.

Zu behaupten ‚so war das Reeperbahnfestival 2013’ ist natürlich eine glatte Lüge. Dass bei dieser Kiez-Convention ungefähr tausend Sachen gleichzeitig passieren ist Segen und Fluch gleichermaßen. Fluch, denn die Veranstaltungsdichte peitscht dich ständig durch die versifften Gassen. Bist du irgendwo angekommen, glaubst du, direkt schon wieder woanders sein zu müssen. Wer ist das da auf der Bühne? Aha, The Whatevers. Mal eben zwei Lieder inhalieren und dann aber schnell zu den Schlagmichtots. Streeeeess! Auf der anderen Seite natürlich toll, denn du kannst dir mit etwas Vorbereitung einen individuellen Fahrplan zurechtlegen. Darum liegen die Chancen, dass irgendjemand das gleiche Reeperbahnfestival gesehen hat wie ich bei circa Null. Mein somit nichtrepräsentativer und absolut Konsens-unfähiger Erlebnisparcours begann am:

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Donnerstag

Erstmal empfängt mich die Reeperbahn mit einem herbstgoldenen Kiezpanorama (siehe oben). Für einen Moment ist die Meile ein Unschuld atmender Ort. Verwirrend. Bei der Bändchenabholung trifft man bereits Hinz und Kunz. Spartentechnisch betrachtet ist Hamburg nämlich für vier Tage nicht nur Hamburg, sondern mindestens auch noch Berlin. Die Stadt bleibt cool und erträgt das mit Gleichmut. Ich bewege mich dorthin, wo keine Sonne scheint, in das Kellerkneipen-Verlies Skorbut. Audiolith scheppert hier mit den Astra-Flaschen und hat auf die Einladung direkt mal eine falsche Adresse geschrieben. Typisch. Die Medienpartnermeute nimmt aber ihre untrügliche Freibierfahnenwitterung auf. Den Rest erledigen Smartphone-Apps. Der Labelchef hängt vergnügt am Tresen, der Rest belagert den Bürgersteig. Hier ist die Welt offenbar noch immer in Ordnung. Weiter zum Festivalaward Helga. Wenn etwas so heißt wie meine Mutter, dann kann es nicht so schlecht sein, denke ich. Ich sehe zu, wie das Dockville einen Preis bekommt. Weiter stürzen zur nächsten Socializerei. Befinde mich nun in Begleitung geschätzter Visions-Kollegen. Fachsimpelei beginnt. Hauptzutaten des Gespräches: Slayer-T-Shirtsammlungen und Albumproduktionen, die sich zu passiv verhalten. Momente zum Einrahmen. Wir entern die Hamburger Botschaft. Diese Veranstaltung warb mit Free Drinks und u.a. auch veganer Currywurst. Wir kommen zu spät. Alles schon weggefressen. Wie die Heuschrecken, diese Businesspeople. Fühle mich jetzt schon wie nach einem Halbmarathon, dabei habe ich noch kein einziges Konzert gesehen. Das muss sich ändern. Los zum Molotow. Hier präsentieren die Smith Westerns ihren milde temperierten Garage-Charme. Das Molotow (das bleiben muss!) erinnert sogleich daran, dass das Reeperbahnfestival insbesondere die nach Körperwärme Suchenden umsorgt. Und ich meine damit nicht das Service-Angebot der Mädchen an der Ecke. Es ist brechend voll hier und mich belästigen drei ergraute Ü40er mit ihren Nebengeräuschen. Ich verstehe ihretwegen nicht viel vom Auftritt, darum hier ein Auszug ihrer Expertenanalyse: „Sind gut, sehr gut!“ „Er hat 'ne gute Stimme. Kommt besser als auf Platte!“ „Die Powerparts sind am geilsten!“ (ich grüble, Powerparts … was ist das?) „Pixies! Da ist Pixies drin!“ (6/10)

Danach direkt weiter in die nächste Sardinenbüchse. Im Grünen Jäger spielen Black Lizard. Das heißt, sie schütteln vielmehr Spacemen3-, TJAMC- und Black-Angels-Verweise mitsamt kodifiziertem, Aviator-Shade-getöntem Lavalampenrock aus ihren Lederjackenärmeln. (7/10)

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Weiter hetzen in die Fliegenden Bauten. Hier inszenieren Hundreds ihre Elektro-Theatralik. Es fällt mir schwer, mein Milieu-bedingtes Mindset auf Schöngeistigkeit umzuswitchen und so bewundere ich lieber die großformatigen Wu-Tang-Prints auf dem Weg zum Klo. Schnappe danach noch kurz Roosevelt auf und steige ins Unterweltamphitheater Mojo zu Ghostpoet herab. Der agiert gelöster und lustvoller als ich es in Erinnerung hatte und auch seine kleine Band ist um Präzision und Phatness bemüht. (7/10)

Es folgt nun, was tagsüber schon für viel Tuschelei auf der Straße und jugendliche Hormonausschüttung sorgte - #catchcasper2 im Grünspan. Und, nicht zu unterschlagen, ab Konzertbeginn um Null Uhr bricht gleichzeitig der Releasetag des neuen Albums Hinterland an. Es wird trotzdem das gleiche Prinzip wie bei der Premiere in Berlin vor ein paar Wochen gefahren: Cas gibt den Rap-Puristen. Two Turntables and a Microphone. Und ein dicker, vorlauter DJ mit großzügig applizierten Gunshots auf der MPC. Casper teast das Publikum, jenes frisst ihm gierig aus der Hand. Bei „xoxo“ kommt Thees Uhlmann auf die Bühne (nanu, muss der heute nicht auf dem BUVISOCO spielen?), dazu Trap-Beats, mehr Gunshots, Nebelhörner, „Prost ihr Säcke – Prost du Sack“-Call and Response-Animation (Casper: „Ich wollte alles tun, um nicht K.I.Z.-Niveau zu erreichen“), alle-in-die-Hocke-Spielchen und weiteres Richtlinien-getreues Live-Entertainment, ein paar Gunshots noch und dann ist der Triumphzug im Grünspan und auch der erste Tag insgesamt, wie würde Casper sagen: so perfekt. (9/10)

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Freitag

Es geht mit viel Liebe los. Fußball und Liebe, genauer gesagt. Im Millerntor-Stadion wird zu diesem Thema ausgestellt und im Vorhof ist man seitens Audiolith und Viva Con Agua darum bemüht, via Block Party die Herzen zu wärmen und Gewissen zu schärfen. Die Sonne scheint sogar auch ein bisschen. Verpasse hier wohl leider das Beste, da die Verleihung des Rocco Clein Journalistennachwuchspreises ruft. In einem Separee des Schmidt Theaters versammelt sich ein großer Teil des Berufsprekariats. Dezenter Selbsthilfegruppenflair, ich fühle mich verstanden. Hier teilen alle die gleichen Sorgen und Nöte. Bevor die Gefühlsdämme brechen und sich alle heulend in den Armen liegen, werden schnell Laudationes gehalten (Thees spricht hochanekdotisch und rührend über Rocco, Thorsten Groß von der Spex über den Preis und die Nominierten) und die Sieger auf’s Treppchen geholt. Es sind: Jan Wehn (absent), Britta Helm und Frédéric Schwilden. Auf einen dieser Prämierten fiel auch meine Jury-Stimme. Ich bin zufrieden, hoffe auch für die anderen beiden auf das Ausbleiben allzu großer Schäden bei dieser fahrlässigen Berufswahl und gehe zu Messer ins Indra. Hendrik Otremba, als Sänger verzeihliches Overacting praktizierend und als Rocco Clein-Preis-Bewerber zu kunstvoll für den Konsens, begrüßt die Leute mit „Hallo Medienpartner und Publikum!“ Er unterstreicht das Frontmann-Dasein mit geschorenem Schädel und Feldparka-Gewandung (arbeitet sich aber natürlich im Laufe des Auftritts bis zum aufgeknöpftem Hemd vor). Die Aura dieser Band steht momentan für sich. Auch dass sie immer krautiger werden und sich immer mal wieder in Loop-Meditationen zurückfallen lassen, geht voll in Ordnung. Irgendwas fehlt aber heute. Der Druck von unten. Die Wut-Auslüftung. Der Sog nach ganz unten oder ganz oben. (6/10)

Danach kämpft Muso im Moodoo um ein überschaubares Publikum. Seine zwei Bühnenbuddies arbeiten emsig an einer soliden Basswand, aber der Meister selbst droht hin und wieder dagegen zu laufen. Besorgniserregend verhaspelte Ansagen auch. Hm. (5/10)

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Der herrlichste aller Kontraste wartet in der St. Pauli Kirche in Gestalt von Julia Kent. Sie erfüllt den andachtsvollen Ort mit der Seelentiefe ihrer Cello-Loops und der unabsichtlichen, fast schon gotteslästerlichen Kinkiness ihrer blitzenden, das Instrument irgendwie ziemlich sexy umschließenden Schenkel. Das lange Schwarze ist wohl nicht unbedingt Bühnen-optimiert geschnitten, zumindest nicht für Cellistinnen, wofür sie sich auf die ihr eigene, bezaubernde Art gleich mal entschuldigt. (8/10)

Vom Kentschen Cellobrummen ultimativ entschleunigt und innerlich vom Festivaltempo entkoppelt, verpasse ich vorsätzlich Willis Earl Beal und warte vor Ort, bis Lubomyr Melnyk an seinen Flügel tritt. Dieser großväterliche, zerknitterte, durch und durch graue Mann ist ein Phänomen. Bei jedem Satz, den er spricht, wenn er dem Auditorium nahe bringen will, was er da eigentlich an den Tasten macht; wenn er die politische Dimension seiner Arbeit zu erklären versucht, ringt er um jeden Satz. Sein Spiel aber ist ein einziger, intuitiver Fluss. Genau genommen sind es gleich mehrere Flüsse. Er gilt als der schnellste Pianist der Welt. Er gibt zu verstehen, man solle ihn besser nicht in die Nähe eines Pianos lassen. Er liebe es einfach zu sehr und könne nicht aufhören zu spielen. Man möchte sich gar nicht vorstellen, was passiert, wenn dieses herzensgute Väterchen an der Hand Schaden nimmt. Er sagt, Spielen ist für ihn wie Atmen und wenn man ihn spielen sieht, dann glaubt man es. Ohne ein Piano scheint Lubomyr Melnyk nicht lebensfähig. Er spielt nicht Musik, er erzählt Geschichten in Notensprache, er wird eins mit dem Instrument, er öffnet eine völlig neue Klangwahrnehmung und er macht dir auf unpathetische, hochherzliche Art ein Paar langanhaltend weiche Knie. Ist zum Glück ein Sitzkonzert. Auch das sakrale Flair des Gotteshauses erlangt höchste Berechtigung—das hier ist eine Messe. (10/10)

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Sich nach dieser Geistesöffnung noch irgendein anderes Konzert anzutun, wäre ein unverzeihlicher Fehler. Hiernach kann und soll nichts mehr kommen.

Samstag

Als der Abend so langsam aufzufrischen beginnt, wärme ich mich an einer Portion frommen Seelentröster-Pop der Marke Sea+Air. Das Knust ist bis in die letzte Nische mit Leuten vollgepfropft. Ich registriere sehr viele Wollpullover. Es ist fürwahr ein wärmebedürftiges Publikum. Und auch ein friedliebendes. Unkonzentrierte Quatschköpfe werden hier mit Sanftmut zur Räson gebracht. Namaste! Wie ich später erfahre, soll auf der Bühne wohl grottiger Monitorsound vorgeherrscht haben. Unten ist man jedoch im Soundhimmel. (7/10)

Wurden im Knust gerade noch Song-Umarmungen von der Bühne entsandt, läuft das Spiel ein paar hundert Meter weiter im Übel & Gefährlich genau andersherum. Hier steht Dagobert—starr, verlassen, Liebe erflehend vor dem etwas konsternierten, nicht unbedingt zahlreichen Publikum. Krank ist er obendrein. Heiser, wie er in einer Songpause demonstriert, indem er glaubhaft ins Mikro krächzt. Darum läuft hier heute nur Playback. So wie bei den Flippers, einer seiner Lieblingsbands, wie er—ohne rot zu werden—zugibt. Seien wir ehrlich, diese desolate Form von Post-Schlager findet im Rahmen einer Playback-Show erst zur Vollendung. Sogar die Ignoranzquassler nerven ausnahmsweise nicht, sie gestalten, ganz im Gegenteil, eine Störkulisse, die den Einsamen da oben noch einsamer, damit dieses Konzert noch verstörend schöner macht. Dabei wissen sie, die Quassler, nicht, was sie verpassen. Dagobert, der Chansonier der infernalisch brennenden Seele. (8/10)

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Nutten müssen draußen bleiben - Skandal im Sperrbezirk!

Es beginnt nun die Zeit der ultimativen Rush Hour. Das Festival meldet, ausverkauft zu sein und man steht auch ganz gerne mal vor übervollen Venues. So z.B. auch vor der Großen Freiheit 36, in der sich Built To Spill die Ehre geben. Hier lohnt sich das Warten dann auch nicht unbedingt, die Band ist scheinbar irgendwann in den letzten Jahrzehnten in Richtung bräsiges Halbglatzen-Muckertum abgedriftet. (5/10)

Um weitere Einlassstoppszenarien zu vermeiden, bemühe ich mich, pünktlich bei Douglas Dare zu sein. Diesem blutjungen Wunderknaben, den man pausenlos tröstend in den Arm nehmen möchte, wenn er ein Lied spielt und den man pausenlos irgendeiner Schwiegermutter vorstellen möchte, wenn er die Pausen dazwischen mit seinem schelmischen Charisma füllt. Douglas spielt akustisch, unverstärkt. Nur ein Junge, sein schweres Herz, sein ultra-virtuoses Klavierspiel und seine glockenklare Stimme. Bravo! (9/10)

Feine Sahne Fischfilet sind da natürlich ein ganz anderes Kaliber, die Botschaft aber ist die gleiche. Es geht auch hier um Liebe und den Kampf für das Gute. Naja, bei Feine Sahne geht es natürlich auch noch um die Party—dementsprechend betritt Monchi die Bühne des Kaiserkellers bereits mit gepflegtem Grundpegel. Ist ja auch schon ihr zweiter Gig heute. Der entwickelt sich rauschend, so wie man es von ihnen gewohnt ist. Bei „Wasted in Jarmen“ gibt es Freischnaps für die erste Reihe. Für den Rest leidenschaftliche Frei-Agitation mit Bläsersätzen, Frei-Schweiß und Frei-heitliches Denken. (8/10)

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Um jetzt nicht augenblicklich ermattet aus den Latschen zu kippen, braucht es schon einen Adrenalinkick der besonderen Sorte, der ein Stockwerk höher in der Großen Freiheit anstandslos von Kvelertak bereitgestellt wird. Was soll man zu diesem räudigen Gesindel schon noch sagen? Sie sind die derzeit populärste Metalband Norwegens, sie sind ein perfekt eingespieltes Biest auf der Bühne und sie sind die erste Wahl, um dieses Reeperbahnfestival mit einem großen Knall zum Ende zu bringen. (9/10)

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