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Schlager, Schläge, Meese—ein Tag mit Station 17

In einem Hamburger Hinterhof produziert das abgedrehteste Künstler-Kollektiv seit Warhols Factory Kunst, Literatur, Musik, Funk und Punk.

Hoss hat sich bei der Rasur ins Ohr geschnitten und blutet wie Sau. Auf dem Boden bildet sich eine kleine Pfütze. Er steht vor dem Proberaum und raucht Zigarillo, während er verarztet wird. Hoss ist Sänger bei Station 17 und Interpret des Jubiläumssongs St. Pauli, der hat heut Geburtstag. Wenn Hoss singt, hört es sich an wie Sau Pauli, der hat heut Geburtstag. Der Song ist ein Geschenk zum 100. Jahrestags des FC vor drei Jahren. Hoss singt ihn jetzt vor sich hin, vielleicht weil Christian – Pflaster und Verbandsmaterial in der Hand – die Blutung kaum stoppen kann und ausruft: „Ey, das blutet wie Sau.“ Sandra holt einen Eimer.

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Station 17 macht feinste elektronische Tanzmusik und ist das Aushängeschild von Barner 16. Barner 16 ist ein Künstler-Kollektiv, das in mehreren Bands behinderte und nichtbehinderte Musiker beschäftigt. Alle zusammen haben kürzlich ein Kollektiv-Album gemacht: Neben Elektro gibt es hier Metal, Rock, Indie, Punk, Funk. Vor allem gibt es bei Barner in der Regel Randale statt Ringelpietz. Hier wird auch mal provokativ vor die Tür gepisst. Und für Schlager gibt’s Schläge: Volks- und andere Behindertenmusik wird gedisst … Nein, das stimmt nicht ganz. Tatsächlich ist man musikalisch tolerant. Und einige der behinderten Beschäftigten bei Barner 16 haben eben eine Schwäche für Schlager, die dann auch in eigene Produktionen eingeht. Aber stets wird in einem geschickten Remix etwas Geiles draus. Für das vorvorletzte Album war man übrigens sogar so tolerant Guildo Horn als Feature einzuladen. Vorweg finden sich auf dem Album Goldstein Variationen Tracks mit Fettes Brot, Stereo Total, Kalabrese, The Robocop Kraus, Barbara Morgenstern, Melissa Logan von Chicks on Speed und Ted Gaier von den Goldenen Zitronen. Das Albumcover entwarf das Behinderten-Atelier Goldstein, für das wiederum Jonathan Meese Ausstellungen begleitet.

Außer mit Jesus hatte Barner 16 schon mit allen was. Der Musiker Kai Boysen gründete 1988 in einer Hamburger Behinderteneinrichtung die Band Station 17. Die Toten Hosen und Einstürzende Neubauten solidarisierten sich, auch DJ Koze half bereits bei der Produktion. Kettcar, Mediengruppe Telekommander, Wir sind Helden sind Fans der Band. Tocotronic und International Pony schauen bei Konzerten oder Proben vorbei, und zum Zivildienst war gefühlt die ganze Hamburger Schule hier. Der Bassist von 1000 Robota hat soeben seine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann bei Barner 16 absolviert und darf zusammen mit Kevin Hamann (Bratze, ClickClickDecker) auf Konzerten im Background „Didididadadu“ singen.

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Christian hat Hoss sein Ohr erfolgreich verbunden und Sandra hat seufzend den Boden gewischt: „Immer ich. Immer ich wisch hier alles auf. Immer ich bin für Putzen und Küche und alles zuständig“, schimpft sie vor sich hin. Im Studio hat Sandra aus diesem Unwillen einen sauberen Song gemacht, den Immer-Ich-Song. Therapeutisch geholfen hat das nicht. Aber Musiktherapie ist sowieso nicht angesagt. Sandra schimpft weiter: „Nachher muss ich den Tisch zum Mittagessen decken, und rate, wer dann den Abwasch macht!“ Aus dem Off ruft jemand: „Jesus macht den Abwasch!“ Sandra lacht nicht. „Jesus macht den Abwasch“ ist ein running gag hier. In echt macht Sandra den Abwasch; höchstens ihre Locken erinnern an den Erlöser.

Station 17 wird für renommierte Festivals wie Fusion, Hurricane, Immergut, Dockville und das Reeperbahnfestival gebucht. Weniger gern spielt man auf Behindertenfestivals oder beim Bundespräsidenten: Bei Behindertenfestivals gibt’s keine gute Gage und beim Bundespräsidenten keinen Alkohol. Außerdem werden beim Bundespräser unterschiedslos alle Bandmitglieder auf Drogen gefilzt.

Sowieso Touren: Ganz professionelle Rockstars trinken die Barner-Boys Minibars leer, lösen durch Rauchen in Nichtraucherzimmern Alarm aus und knacken den Code für den Porno-Kanal. Auf der Bühne geht es exhibitionistisch zu, man entblößt sich gerne schon nach dem zweiten Song, seltener kommt es zu kleinen Schlägereien zwischen den Rampensäuen. Meistens endet alles friedlich, das Publikum tanzt und Bier ist lecker.

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Der Booker und Manager Marco hört von neuen Fans häufig die Frage, wer von den Musikern jetzt behindert sei und wer nicht: „Der Mann am Synthesizer, was für eine Behinderung hat der?“ – „Eigentlich keine.“ – „Aber euer Gitarrist ist psychotisch, oder?“ Nein, eine Psychose hatte Alex Tsitsigias (Schrottgrenze, Kommando Sonne-nmilch) bisher nicht. Da die Bandmitglieder aber oft miteinander unterwegs sind, werden Verhaltensweisen, Phrasen und Bewegungen adaptiert. Gegenseitig. Christian wackelt mit dem Kopf wie Philip, weil’s zum Beat passt, und Philip ruft nach Bier wie Alex. Oder umgekehrt. Und wenn’s im Hotel um die Bettenverteilung geht, wollen ausnahmslos alle sich das Zimmer mit Marco teilen. Der hat nämlich die Kasse und sitzt allabendlich andächtig zwischen Scheinen und Münzen und zählt Einnahmen. Nur Peter hätte am liebsten ein Einzelzimmer. Weil das finanziell nicht machbar ist, teilt er sich das Doppelzimmer eben mit Andi, der verhältnismäßig ruhig ist, nachts nicht durstig die Minibar leert oder versehentlich Rauchmelder auslöst, den Pornokanal freischaltet oder Möbel aus dem Fenster wirft. Andis Handicap besteht darin, dass er zum Einschlafen Hörspiele braucht: am besten Pinoccio oder Heidis Lehr- und Wanderjahre. Er kennt sie alle auswendig und spricht halblaut mit oder kommentiert kritische Stellen mit „Oho“, noch bevor sie im Hörspiel passieren.

Zurück zu den Rockstarallüren, die schon mal zu Situationen wie folgender führen: Nach einem Auftritt in einem berüchtigten Techno-Club fand man Marc, den Sänger und Bläser mit Down-Syndrom, nicht wieder. Zum Verstecken eignet Marc mit seinen 120 Kilo sich eigentlich nicht. Es war schon sehr spät bzw. früh und die Band wollte aufbrechen, weil Station 17 anderntags am anderen Ende des Landes ein Konzert geben sollte. Nach zwei Stunden, die Vögel zwitscherten und auch auf der Tanzfläche wurde es lichter, fand man ihn tanzend umringt von Damen, die ihm seine Brille abgenommen hatten und seinen freien Oberkörper ableckten. Dieses Frühjahr war Marc übrigens zum Abnehmen in einer Kuranstalt. Woanders nennt man es Rehab.

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Ein tragisches Ende nahm das Gründungsmitglied Michael Schlappkohl, der ebenfalls lieber mit freiem Oberkörper herumlief, sommers wie winters seine T-Shirts, Hemden und Pullover zerriß und schließlich an einer Lungenentzündung starb.

Es gibt noch andere Schattengeschichten. Station 17 hat viele Fans und berühmte Freunde. Aber auch Gedisse kennt die Band. Ein völlig zugedröhnter Musiker gröhlte der Gruppe auf einem Festival backstage mal zu: „You are shit! You are shit!“ Andi, keine Englischkenntnisse, dafür Übergewicht, erwiderte traurig: „Ich darf keine Chips, bin auf Diät.“

Zurück bei Barner 16 in Hamburg-Altona. Hoss hat ein dickes Pflaster auf dem Ohr, raucht seinen siebten Zigarillo und summt noch immer Sau Pauli, der hat heute Geburtstag. Jan stellt fest: „1910 ist St. Pauli gegründet worden. Ha. Meine Oma ist genauso alt wie der FC.“ Im Zusammenhang mit seiner Großmutter erzählt er dann eine Bomberjacken-Anekdote und kommt auf sein Lieblingsthema: Nazis. Mit seiner lauten Art und provokativen Vorliebe für Diktatoren erinnert Jan sehr an Jonathan Meese. Eine Behinderung ist an Jan trotzdem nicht augenfällig. „Ausgeprägtes ADHS und kognitive Teilleistungsstörung“, erklärt er auf Nachfrage. Maik, Gitarrist in Barners Metal-Band, mischt sich verspätet in das Gespräch: „Fußball, Fußball, Fußball. Das Tor ist das Tor. Es gibt ja Elfmeterschießen bis einer nicht mehr schießen kann.“ Dann tritt Metal-Maik seine Zigarette aus und kehrt zurück zum Texter-Kurs im Obergeschoß. Auf dem Weg nach oben erzählt er seine Geschichte: Ausbildung in der Landwirtschaft, dann Maurer, Maler, Sozialhilfe, ein Fahrradunfall an Weihnachten 1998: drei Monate Koma.

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Die Textwerkstatt-Teilnehmer erarbeiten Texte für ihren Literaturblog Story-Teller, für Songs sowie Theater- und Filmproduktionen. Man spricht zum Beispiel über Trisomie und Poesie. Der Welt-Trisomie-Tag ist laut Kalender zugleich Welt-Poesie-Tag. I. A., dessen vollständiger Name aus verschiedenen Gründen nicht mehr genannt werden darf, hat Down-Syndrom und antwortet auf die Frage, wie das so sei mit diesem Syndrom: „Ich muss sagen, ich bin zu schlau. Toll. Mongo, das bin ich. Das ist cool. Cool ist Mongo, Mongo ist was mir gut gefällt.” Er bringt auch die Mongo-Clikke ins Gespräch und diktiert schließlich noch einen Text. I. A. haut kraftvolle Sätze raus wie „Ich bin Auferstehung und das Leben bis in die Scheiße des Endes der Welt.“ Der junge Mann entpuppt sich als Reinkarnation von Charles Bukowski, in jedem seiner Texte buchstabiert und dekliniert er scheißen, poppen, ficken, Eier, Reeperbahn, Knacksau, Knackarsch, Bier und Busen. Frauen gegenüber ist er aber ganz Gentleman. Nur wenn er nicht genug Aufmerksamkeit bekommt, pinkelt er vor die Tür oder zieht sich nackt aus, um sich dann mit Gitarre aufs Klo zu setzen. In der Textwerkstatt ist er aber immer voll da, besteht darauf seine Ergüsse stets selber vorzulesen: stockend, aber sehr stolz auf seine schockenden Texte.

Etwas abseits sitzt Heidi Fischer an ihrem Laptop. Sie hat ein Buch geschrieben über ihr Leben, ihren Autismus, ihr ganzes Gepäck. Fast 1000 Seiten. In Schriftgröße 10.
Heidi sieht aus wie eine Mischung aus Iggy Pop und Gudrun Ensslin. Sie ist Autistin. Und Sammlerin: Täglich, ständig trägt sie, schleppt sie Folgendes mit sich herum: diverse vollgepackte Stoffbeutel, eine selbst konstruierte Bauchtasche, die von der Taille bis zum Knie reicht und an der weitere Beutel und Tüten hängen, sowie einen Schulranzen mit Illustrationen von niedlichen Terriern. Mindestens 30 Kilo Gepäck-Gewicht. Inhalt: eher unerklärlich. Aus den Beuteln ragen Strohhälme, Zahnbürste, Zahnpasta, Stifte, hängen Teebeuteletiketten, fallen Taschentücher. Im Ranzen sind sechs oder sieben externe Festplatten und diverse USB-Sticks. Bei Bedarf findet Heidi in wenigen Sekunden eine Handvoll Fotos von ihrem Freund James Dienjus. Der Name klingt sehr nach James Dean, und Heidi kennt diesen Giganten auch. An ihrem Freund James Dienjus aber gefällt ihr besonders sein gigantisch kleiner Kopf. Sie lässt die Fotos wieder in ihrer Tasche verschwinden. Besonders Fotos und Kontaktadressen bewahre sie in ihren Beuteln auf, erzählt Heidi und: „Doch, auf Facebook bin ich auch.“
Im Barner-Künstlerkollektiv arbeitet sie als Schauspielerin, ist mit ihrer ausdruckstarken Mimik in vielen Station 17 Musikvideos zu sehen und spielte 2005 neben Jaques Palminger in der Science-Fiction-Lichtspiel-Operette Kongress der Planetenvereinigung eine Außerirdische.

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„Punkt Vier“, murmelt Metal-Maik. Feierabend. Hoss raucht vor der Tür seinen zehnten Zigarillo, und um die Ecke kommt Alex mit einem Sixpack Bier. Hoss hört auf zu singen und fragt: „Hab ich heut Geburtstag?“

Das Album Kollektiv Barner 16 (17records) ist am 22. März erschienen, Station 17 feat. Strizi Streuner ALLES FÜR ALLE am 20. September 2013 (17records).

Station 17 ist aktuell auf Tour:
4.10. Bremen (Schwankhalle)
5.10. Westoverledingen (Limit)
17.10. Berlin (West Germany)
18.10. Uslar (Kulturbahnhof)
19.10. Chemnitz (Weltecho)

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