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Was passiert eigentlich, wenn Künstler von ihrem Label fallengelassen werden?

Wie ist es, wenn man als Musiker von seiner Plattenfirma fallengelassen wird? Wir haben mit betroffenen Künstlern und den verantwortlichen Label-Chefs gesprochen.

2002 entließ Virgin Records Mariah Carey aus ihrem gewaltigen Vertrag über vier Alben, nachdem sie einen Nervenzusammenbruch erlebte, der schlechte Verkaufszahlen ihres Albums Glitter zur Folge hatte—zu einer Zeit, in der es als nicht so gut galt, wenn man nur 500.000 Platten verkaufte. Mariah ist damals trotzdem mit stolzen 19 Millionen Pfund (damals fast 30 Millionen Euro) in der Tasche davon gekommen und konnte wenig später einen weiteren Multimillionen-Dollar-Deal mit Island Records abschließen. Nie zuvor war ein Nervenzusammenbruch so profitabel gewesen. Aber das ist das glitzernde, mit Schmetterlingen erfüllte Universum von Mariah Carey—die Realität sieht für die meisten Künstler, die von ihrer Plattenfirma abgesägt werden, nicht ganz so glitzernd aus.

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2015 bei einem Majorlabel zu unterschreiben—Universal, Sony, Warner oder einer ihrer Tochtergesellschaften—ist ein bisschen so, wie wenn du deinen Gehaltsscheck in ein Wettbüro trägst und alles darauf verwettest, dass Thomas Gottschalks Autobiografie Herbstblond 2016 den Pulitzer-Preis gewinnt und schließlich dem Kassierer versprichst, ihm mit deinem Gewinn einen All-Inclusive-Urlaub in der Dominikanischen Republik zu finanzieren.

In letzter Zeit wurden einige vielversprechende Künstler—Heavenly Beat, Bebe Black und Chloe Howl—von ihren Labels vor die Tür gesetzt. Der gehypte Künstler Eyedress aus Manila erzählt mir, dass er vor Kurzem von XL Records mitten in seiner Entwicklungsphase fallen gelassen wurde, während er noch an seinem Album schrieb. Wie genau wird ein Künstler also von einem Label vor die Tür gesetzt oder gezwungen zu gehen? Was ist der Grund dafür und gibt es ein Zurück? Ich habe beschlossen, ein paar Künstler zu kontaktieren, die ihren Labels in der Vergangenheit zum Opfer gefallen sind, um ein Gefühl für die leisen Todesstöße der Musikindustrie zu bekommen.

Vor die Tür gesetzt zu werden, wird normalerweise auf die Unfähigkeit der betreffenden Künstler zurückgeführt. Entweder waren sie launisch, die Verkäufe nicht gut oder, das ist die verbreitetste Fehlvorstellung, einfach nicht gut genug. Die Wahrheit ist: Wenn ein Künstler fallen gelassen wird, dann ist die Situation nicht immer so eindeutig wie es scheint—es ist nicht so, wie aus einem Job gefeuert zu werden. Oft werden die Künstler systematisch in die Ecke gedrückt beziehungsweise durch neue Prioritäten überflüssig gemacht, oder aber ihnen bleibt wegen ständig steigender Kosten irgendwann keine Wahl mehr außer zu gehen.

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„Meinen ersten Plattenvertrag habe ich wahrscheinlich mit Champagner in irgendeinem angesagten Restaurant unterschrieben. Ich habe mich gefühlt, als hätte ich es geschafft“, lächelt Victoria Hesketh, alias Little Boots. Die Electro Pop-Sängerin und Geschäftsführerin ihres eigenen Labels hat ihren Deal mit Atlantic Records vor einiger Zeit nach Unstimmigkeiten beendet. „Sie wollten, dass ich das wiederhole, was ich letztes Mal gemacht habe“, erzählte sie Fuse 2013 darüber, wie sie ihre Karriere nach ihrem Debüt-Album weiterführen sollte. „Meinen letzten Plattenvertrag habe ich auf dem Boden vor einem Klamottenladen im Flughafen Stanstead unterschrieben. Mein erster Vertrag war furchtbar und wenn ich das kleine Schriftstück besser verstanden hätte, dann hätte ich es nicht unterschrieben.“

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Es ist kein Geheimnis, dass der einfachste Weg zu einer langjährigen, nachhaltigen Karriere beim Major der ist, sich der Menge an Geld, die von der Plattenfirma für einen ausgegeben wird, stets bewusst zu sein. Der einzige Haken ist, dass die meisten Künstler nicht das Gefühl haben, als könnten sie ihre Ausgaben kontrollieren. „Mit meiner ersten Platte habe ich wahrscheinlich über eine Million (Pfund) gemacht“, versichert Little Boots, „aber ich war trotzdem im Minus, weil sie so viel für das Marketing ausgegeben hatten, was ich wiederum nicht kontrollieren konnte. Es ist bei großen Labels nicht so, als wärst du ein Geschäftspartner, es ist mehr so, als würde jemand dein Geschäft für dich führen und das schlecht.“

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Hesketh fand sich selbst in etwas wieder, das sich landläufig „360 Deal“ nennt. Als sie unterschrieb, war das ein ziemlich neues Konzept, seither ist es aber zur Norm in der Industrie geworden. Die Bedingungen sind von Deal zu Deal anders, aber im Prinzip trittst du durch diese Verträge von allem, was du als Künstler tust, einen Anteil an dein Plattenlabel ab. Ganz egal, ob es nun Verkäufe, Touren, Merchandise oder aber auch diese Joghurt-Werbung, in der du zu sehen bist, sind. Oberflächlich gesehen klingt das ganz in Ordnung, aber der Anspruch eines Labels auf Einnahmen aus Ertragsströmen, in die es nicht wirklich involviert war, hat für Little Boots nichts Gutes bedeutet.

„Aus jeglicher Arbeit in der Unterhaltungsindustrie, die mit meiner Marke in Verbindung gebracht wurde, haben sie den Gewinn abgeschöpft“, erläutert Little Boots. „Du spielst beschissene Firmengigs, um dieses riesige Minus abzubezahlen, das dir jemand anders eingebrockt hat. Sie haben das Geld, das durch deine Platte verdient wurde, für alles Mögliche von Fünf-Sterne-Hotels für Marketing-Leute bis hin zu Geschenken ausgegeben. Sie haben ohne meine Zustimmung einfach Geld für Sachen ausgegeben, für die ich nie Geld ausgegeben hätte.“ Warum kleine Labels die elektronische Musik dominieren Für andere Künstler wiederum werden die häufigen Personalwechsel bei Majors zum Trennungsgrund. Das Szenario ist ein gängiges: Der A&R, der einen Künstler ursprünglich gesignt hat, wird gefeuert oder entsetzt.

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„Das ist eine sehr typische Geschichte“, erzählt mir die Dänin Nanna Øland Fabricius, auch bekannt als Oh Land. „Die Leute, mit denen ich gearbeitet habe, wurden einer nach dem anderen entlassen, sodass das gesamte System komplett ersetzt wurde—neuer Präsident, neues A&R, neues Marketing, neues alles. Plötzlich waren da all diese neuen Leute, die keine Ahnung hatten, wer ich bin. Sie haben mich gesehen und gesagt: ‚Sie ist nett, aber es wäre toll, wenn sie dies und das tun würde und so wäre‘, als wäre ich eine Art Hülle und sie könnten die Inhalte ersetzen. Ich fühlte mich, als wäre ich nichts als übrig gebliebenes Essen von irgendeinem ehemaligen Präsidenten, aus dem nun jemand anders ein Omelett macht.“

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Oh Land sagt, dass ihr Umzug nach Amerika und die Vertragsunterschrift bei Epic Records/Sony Music für sie am Anfang wirklich unglaublich war. „Ich hatte keine Ahnung von der Musikindustrie, alles wirkte wie ein großes Märchen. Viele Leute wären wegen ein paar Dingen skeptisch gewesen, aber für mich hieß es nur JA! Ich hatte ein Team, das ich liebte, ich war glücklich und ich konnte Dinge zu tun, die sich wirklich richtig anfühlten.“ Nachdem ihr Team vom Label vor die Tür gesetzt wurde, wurde plötzlich wortwörtlich über Nacht nicht mehr auf ihre Anrufe reagiert. Oh Land versuchte trotzdem, mit dem Label weiter zu arbeiten und nach ihren Regeln zu spielen:

„Ich war gewillt, etwas auszuarbeiten und Produzenten auszuprobieren, die nicht gepasst haben, um etwas guten Willen zu zeigen, um das Spiel mitzuspielen, in der Hoffnung, dass ich irgendwann irgendwas mache würde, was beide Seiten mögen. Das Label flog mich die ganze Zeit durch die Gegend zu irgendwelchen Produzenten und eine Zeit lang sah ich das als Abenteuer, am Ende habe ich dann aber nur noch an mir gezweifelt. Es fühlte sich an, als würden sie versuchen, eine Art Ke$ha aus mir zu machen.“

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Der Bruch mit ihre Plattenfirma folgte schließlich, als sie ihren Label-Präsidenten konfrontierte und er laut Oh Land antwortete: ‚Coachella interessiert mich einen Scheiß, ich will einen Top-10-Hit.‘ Nach dem Meeting fühlte sich Oh Land nach eigener Aussage „wie eine Prostituierte“. Trotzdem machte sie am Ende einen mutigen Schritt und bestand darauf, ihr Album mit Dave Sitek fertigzustellen. „Das war im Prinzip so, als würde ich mich selbst feuern—danach war eindeutig, dass das Tuch zerrissen war und es keine Zukunft für eine Zusammenarbeit mehr gab.“

Zu Beginn der Recherchen war es mir beinahe unmöglich, ein Majorlabel zu finden, das seine Ansichten zu diesem Thema darstellt. Ein Angestellter sagte mir im Vertrauen, dass das hier „das tabuisierteste Thema überhaupt“ sei. „Wenn Leute vor die Tür gesetzt werden, dann erwähnt niemand mehr ihren Namen!“ Diese extreme Einstellung des Labels breitet sich in die journalistische und öffentliche Wahrnehmung von Künstlern aus, die fallen gelassen wurden, und recht schnell werden diese Musiker als beschädigte Ware gekennzeichnet. Little Boots beispielsweise brauchte lange, um sich wieder zu sammeln und ihren nächsten Schritt zu planen. „Es braucht viel Kraft, Entschlossenheit und Selbstvertrauen, so kitschig das auch klingt, um sich zusammenzureißen und zu sagen: ‚OK, wo ist das Ganze schief gelaufen und wie kann ich es wieder in Ordnung bringen; was ist der nächste Schritt?‘.“ Die Wahrheit ist, nur weil jemand eine Beziehung zu einer riesigen Firma hatte, die schwierig war oder nicht funktionierte, bedeutet das nicht, dass die Person kein großartiger Musiker ist und keine Fanbase hat. Angel Haze hat sich dazu genötigt gefühlt, ihre Musik zu leaken, um zu erzwingen, dass ihr Label 2013 endlich ihr immer wieder nach hinten verschobenes Dirty Gold veröffentlicht. Azealia Banks ist noch etwas weiter gegangen, hat sich von ihrem Label getrennt, trotzdem die Rechte an ihren Songs behalten und ihr Album selbst rausgebracht—und es trotzdem noch auf Platz 30 der Billboard-Charts geschafft.

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„Einige der erfolgreichsten Künstler, mit denen ich jemals gearbeitet habe, wurden von einem anderen Label gesignt und wieder fallen gelassen“ erklärt der President of Music bei Virgin EMI, Mike Smith, der einer der wenigen war, der sich die Zeit genommen hat, um mit mir zu sprechen. Er hält es für wichtig, dass solche Debatten transparent geführt werden. „Ich habe Mark Ronson unter Vertrag genommen, nachdem er von Elektra vor die Tür gesetzt wurde. Er hat mit ihnen 40.000 Platten verkauft und mit mir über eine Million. Ich verstehe, dass manche Leute es für das Ende der Welt halten, wenn sie gedroppt werden. Mir ist bewusst, dass das zu einer Abwärtsspirale führen kann; ich denke, da kann es wirklich hart werden. Das Wichtige, an das du dich erinnern musst, ist: wenn du einmal einen Plattendeal bekommen hast, kannst du auch ein zweites Mal einen bekommen.“

Im Bezug auf Major-Deals herrschte lange die Vorstellung, dass Manager darauf drängen müssen, dass von der Plattenfirma möglichst viel Geld für eine Platte ausgegeben wird. Dahinter steckte der Glauben, dass je mehr sie vom Label bekommen desto größer das Engagement ist und die Plattenfirma umso härter arbeitet, um das Geld zurückzubekommen. Mike sagt jedoch, dass dies einer der größten Mythen der Musikindustrie ist. „Die Plattenfirma“, erklärt er, „wird hart arbeiten, wenn sie glaubt, dass sie Erfolg mit der Platte haben kann, aber sie wird nicht hinter etwas hinterherrennen, das nicht funktioniert. Ein Act, der für eine halbe Million gesignt wurde, bekommt nicht mehr Aufmerksamkeit als ein Act, der für 60.000 gesignt wurde. Am Ende des Tages wird der Act, der die besten Erfolgsaussichten hat, derjenige sein, der Priorität genießt.“

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Eine Sache, die Smith deutlich macht, ist, dass Künstler ihr eigenes Level an Autonomie etablieren müssen, um nicht vollständig auf das Label angewiesen zu sein. „Es ist mehr als jemals zuvor Aufgabe des Künstlers und seines Managers, den Künstler in eine Position zu bringen, in der er nicht verwundbar ist. Je mehr Arbeit ein Künstler selbst machen kann, desto stärker wird er.“

Im Prinzip muss ein Künstler, wenn er bei einem Majorlabel unterschreibt, auf dem Boden bleiben und den eigenen Wert im Kopf behalten. Das ist eine Einstellung, die sich auch der, in Detroit geborene, Songwriter JMSN angeeignet hat. Er hat sich seinen Weg durch zwei Deals mit Majorlabels gearbeitet (unter seinem ehemaligen Künstlernamen Christian TV), bevor er unverhofft erfolgreich wurde, indem er seine Arbeiten als JMSN über sein eigenes Label White Room Records veröffentlichte. Er merkt an, dass es ein neues Geschäftsmodell gibt, das Labels adaptieren und das darauf abzielt, das Investment und die Entwicklungskosten für Labels zu reduzieren, aber aus dem selbst generierten Erfolg der Künstler Kapital zu schlagen.

„Ein Künstler bringt es bis an einen Punkt, an dem er sich bereits selbst tragen kann, dann kommt ein Label hinzu und irgendwann kommt der Punkt, an dem der Künstler realisiert, dass der Grund, warum es auf den Plan tritt und ihm all dieses Geld gibt, ist, dass er zehn Mal so viel an ihm verdienen kann, wenn er als Künstler nur weiter das macht, was er tut“, sagt JMSN. „Nimm Chance the Rapper, ihm wurden Millionen-Dollar-Deals angeboten und er hat sie abgelehnt. Wenn sie ihm Millionen-Dollar-Deals anbieten, dann wissen die Labels auch, dass sie noch viel mehr Geld mit ihm verdienen können. Wenn ich mich mit Labels treffe, dann frage ich: ‚Was könnt ihr mir gegeben, das ich nicht selbst tun kann?‘, und oft genug gibt es keine vernünftige Antwort außer, dass sie einen ins Radio bringen können. Wer zur Hölle entdeckt noch Musik durch das Radio? Wir leben in einer anderen Zeit.“ Jetzt bei VICE: Macht Geld unmoralisch? Nein, eher glücklich und sorglos.

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Wir leben in einer wahrlich anderen Zeit und deswegen kommen auch Label-Service-Modelle wie Kobalt (mit dem sowohl Oh Land als auch Little Boots zusammenarbeiten) ins Spiel und bieten flexible Verträge und Dienste an (Vertrieb, Synchronisation, Verlag, Management usw.), die Künstlern helfen, die Kontrolle über ihre Arbeit und das Geld, das daraus resultiert, zu behalten.

Oh Land sagt, dass das, was sie über Touring und das Veröffentlichen einer Platte von ihrem Majorlabel-Deal gelernt hat, unbezahlbar ist, aber sie schätzt eindeutig ihre neugewonnene Freiheit. „Jetzt kann ich machen, was immer ich will. Ich muss niemanden außer mich und meine Hörer zufrieden stellen. Ihre Meinungen bedeuten mir alles, ich muss nichts aus politischen Gründen oder aufgrund der Beziehung zu einem bestimmten Produzenten mit auf die Platte nehmen. Das ist der Grund, warum ich angefangen habe, Musik zu machen, sie hat mir Freiheit gegeben und wenn du die aufgibst, macht es nicht mehr so viel Spaß.“

Die Wahrheit ist, vor die Tür gesetzt zu werden, ist in der modernen Musikindustrie etwas nicht Ungewöhnliches und sollte nicht als komplette Ablehnung verstanden werden. Dank der digitalen Revolution gibt es für die Musiker von heute eine ganz neue Welt an Möglichkeiten und Wegen da draußen, wenn sie sich darauf konzentrieren, wie man eine Karriere als Künstler aufrechterhalten kann. Ja, vielleicht ist der Schritt, fallen gelassen zu werden, sogar Teil einer Karriere eines modernen Künstlers geworden und heute einfach eine wichtige Erfahrung, aus der man lernen kann.

So viele Künstler haben mir zugesagt, für diesen Artikel mit mir zu sprechen und haben dann einen Rückzieher gemacht und das nehme ich ihnen nicht übel. Aber wenn du ein Künstler oder eine Künstlerin bist und du im Moment zuhause sitzt, tagsüber fern siehst und den Tagen hinterher trauerst, an denen dein Telefon nicht still stand und dein Terminplan für dich gefüllt wurde, dann hör zu: Nur weil du vor die Tür gesetzt wurdest, heißt das nicht, dass du aufhören sollst.

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