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Festivals

So wohnen Leute wirklich, die 1.200 Franken für eine Festival-Unterkunft zahlen

Ist das VIP-Camping eine Abschottung vom Alltag? Wir haben uns bei zwei Besuchern des Openair Frauenfelds zuhause umgesehen.
Alle Fotos von Flavio Leone

Das Openair Frauenfeld ist nach eigenen Angaben das grösste HipHop-Festival Europas. 180.000 Besucher lockte es Anfang Juli in den Schweizer Kanton Thurgau. Für 240 Franken konnten sie an drei Tagen über 50 Konzerte besuchen. Seit rund zehn Jahren gibt es in Frauenfeld die Möglichkeit, sich für mehr Geld vom gemeinen Festival-Pöbel abzusondern – zum Beispiel, wenn du für 12.560 Franken eine sogenannte Premium Mansion mietest, die Platz für rund acht Personen bietet.

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Die Idee einer Zweiklassengesellschaft im Musikgeschäft war das erste Mal Anfang der 90er Jahre Thema. Wie The Rolling Stone schreibt, haben sich VIP-Packages etabliert, als Manager und Promoter ein "Golden Circle"-Programm mit teuren Sitzen kreierten. Auf diesen Zug sind auch grosse Konzertveranstalter wie LiveNation, denenDEM seit vergangenem Jahr das Openair Frauenfeld gehört, aufgesprungen. Wie LiveNation-CEO Michael Rapino in einem Statement Ende 2017 erklärte, plant der Konzern 2018 die VIP-Packages weiter auszubauen. Das soll unter anderem dazu beitragen, dass diesen Sommer nach Konzernschätzungen jeder einzelne Besucher von LiveNation-Veranstaltungen im Durchschnitt 2.50 Dollar mehr ausgibt als im Vorjahr, wie das Magazin billboard schreibt.

Joel und Tomi aus Thun sind zwei der HipHop-Fans, die sich 2018 zum ersten Mal mit einem VIP-Angebot besondere Privilegien kauften. Ihr Premium-Zelt ist mit 1.200 Franken, also 600 Franken pro Person, eine der günstigeren VIP-Unterkünfte. Für ihr Geld bekommen die beiden 18-Jährigen einen VIP-3-Tagespass und Komfort wie ein bereits aufgebautes Zelt. Wer keinen VIP-Pass hat, kann die beiden jedoch nicht auf dem VIP-Zeltplatz besuchen.

Wie leben Joel und Tomi, wenn sie nicht abgeschottet auf VIP-Luftmatratzen schlafen? Wir haben die beiden vor der Abreise zum Festival zuhause besucht.


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Als wir Joel treffen, sitzt er auf einem weissen Gartenstuhl vor dem Einfamilienhaus seiner Eltern. In wenigen Stunden wird er zum dritten Mal ans Openair Frauenfeld reisen. Er trägt Nikes ("nur 250 Franken"), eine Bauchtasche von Supreme und über den Schultern einen Pullover von Kanye West. In der Garage auf dem Vorplatz des gelben Hauses steht der beige Porsche seines Vaters. Joel selbst verdient seine Brötchen im Detailhandel. Erst vor wenigen Wochen hat er seine Lehre abgeschlossen. Joel grinst, als er uns sieht und begrüsst uns herzlich.

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VICE: Wie haben deine Freunde reagiert, als du ihnen erzählt hast, dass du 600 Franken für ein Zelt bezahlen wirst?
Joel: Ich glaube, sie waren recht neidisch. All meine Freunde campen auf dem "normalen" Zeltplatz. Wir gehen aber gemeinsam zu den Konzerten. Es ist schon etwas egoistisch, alleine mit Tomi im Premium-Bereich zu campen. Aber es sieht echt cool aus mit Palmen und so.

Was gefällt dir am separaten Zeltplatz?
Auf dem Premium-Zeltplatz sind nur die Leute, die Zugang zum Bereich haben. Als Tomi und ich vergangenes Jahr auf dem normalen Zeltplatz grillierten, wollten wir bis zum Sonnenuntergang zusammen essen. Es waren aber so viele Leute an der Grillstation – bis wir essen konnten, war es schon dunkel.

Hast du selbst schon Erfahrungen damit gemacht, dass du wegen Geld ausgeschlossen wurdest?
Ja, sicher. Einmal war ich zum Beispiel bei einem meiner Freunde Zuhause, der sehr reich ist. Riesige Villa, Pool, Hallenbad und so weiter. Als ich seine Eltern zum ersten Mal gesehen habe, hatte ich keine Markenkleider an. Ich habe sie gegrüsst aber sie schienen desinteressiert und skeptisch mir gegenüber. Ich empfand Ablehnung von ihnen. Beim zweiten Treffen trug ich ein teures Markenoutfit. Ich merkte sofort, wie sie sich mehr für mich interessieren. Sie haben nicht einmal geschnallt, dass ich die gleiche Person bin.

Wie findest du das?
Ich finde das schade. Ich konnte in meinem günstigen Outfit gar nie zeigen, wer ich bin, sondern wurde von vornherein abgelehnt. Sie hörten mir erst zu, als sie von aussen das Signal wahrgenommen haben: "Ich stehe finanziell gut da".

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Findet diese Art von Ausgrenzung auch in deinem weiteren Umfeld statt?
Bist du nicht so teuer gekleidet, wenn du in meinen Freundeskreis stösst, wären wir sicher alle nett. Aber wenn du etwas unternehmen möchtest, würden wir wohl antworten: "Vielleicht lieber ein andermal." Aber das ist niemals so extrem wie bei den Eltern meines Freundes. Da wurde ich wirklich gar nicht beachtet. Bei meinen Freunden hat man sicher eine Chance, beim ersten Mal auch beachtet zu werden.

Wieso machst du diese Abgrenzung dann bei anderen Leuten?
Eigentlich kann man niemanden darüber beurteilen, wie viel Geld jemand hat. Vielleicht sieht man es auch gar nicht. Der eine hat vielleicht einen teuren Pullover an, der andere nicht – aber der hat dafür ein Auto zuhause.

Erkennst du trotzdem, ob jemand viel oder wenig Geld hat?
Oft sehe ich das an den Schuhen, aber nicht immer. Ich schaue dabei, ob es ein Markenschuh ist oder nicht. Und wie das Outfit zusammengestellt ist. Das ist schon etwas oberflächlich. Aber ich schaue ja nur, ohne zu urteilen.

Joels Freund Tomi fährt zum zweiten Mal ans Openair Frauenfeld und steht bereits vor der Blockwohnung seiner Eltern, als wir ihn mit Joel im Schlepptau treffen. Tomi ist im zweiten Lehrjahr als Informatiker, ist aber ein weiterer Beweis dafür, dass Klischees oft nicht zutreffen. Er hat raspelkurze Haare, trägt keine Brille, dafür aber ein Supreme-Shirt. Bei ihm im Zimmer liegen zwar einige Videospiele, aber richtig stolz ist Tomi auf seine Sneaker-Sammlung.

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VICE: Wie haben deine Freunde reagiert, als du vom Premium-Zelt erzählt hast?
Tomi: Erst haben sie es nicht ganz verstanden. Ich meinte dann nur so: Ich habe eine Steckdose, Jungs. Dann war eigentlich schon alles erklärt.

600 Franken für eine Steckdose? Das dürfte doch dein halber Monatslohn sein.
Wir haben ja auch ein Zelt, eine Luftmatratze, zwei Stühle, Tische, eine Lampe. Und wir dürfen das alles nach Hause nehmen. Das lohnt sich schon, wenn man es mit dem normalen Ticket für 280 Franken vergleicht. Letztes Jahr wurden Joel und ich fast bestohlen. Beim Premium-Zelt haben wir mehr Sicherheit.

Dir scheint Mode wichtig zu sein. Wie reagieren fremde Leute, wenn du Markenkleidung trägst?
Ich glaube, die Leute denken, dass ich ein Rich Kid bin, das viel Geld für Kleidung ausgibt. Dass ich von meinen Eltern finanziert werde, nichts im Leben mache und nur zuhause rumsitze.

Du besitzt aber mehrere teure Sneaker zum Beispiel von Off White. Was reizt dich an diesem Lebensstil?
Ich trage einfach gerne Sachen, die nicht jeder hat. Wie zum Beispiel limitierte Schuhe oder Kleidung, da ich nicht wie jeder Zweite rumlaufen möchte.

Ärgert es dich, wenn Leute denken, du wirst von deinen Eltern finanziert?
Manchmal schon. Ich bin keiner, der sich von den Eltern sponsoren lässt. Ich würde nur im ärgsten Notfall Geld von ihnen annehmen. Wenn ich mir zum Beispiel kein Essen leisten könnte. Aber im schlimmsten Fall könnte ich auch meine Schuhe verkaufen. Alles, was hier in meinem Zimmer ist, Schuhe, Kleidung und so weiter, habe ich selbst gekauft.

Welches ist denn dein Lieblingsobjekt in diesem Raum?
Dieses Bild von früher. Damals war ich recht übergewichtig. In der Oberstufe habe ich noch mehr zugenommen. Die Leute begannen, mich zu mobben. Irgendwann merkte ich selbst, dass meine Kleidung zu klein wurde. Dann habe ich abgenommen, abgenommen, abgenommen. Und plötzlich wollten Mitschüler wieder Dinge mit mir unternehmen. Aufgrund dieser Erfahrung denke ich auch, man sollte niemanden wegen seines Aussehens verurteilen.

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