Was wir vom letzten 'Tatort' über Gewalt gegen Frauen lernen können
Foto: NDR | Marion von der Mehden

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Was wir vom letzten 'Tatort' über Gewalt gegen Frauen lernen können

'Der Fall Holdt' zeigt, dass ein Trauma nicht damit aufhört, dass sich Verletzungen überschminken lassen. Und das tut weh.

Maria Furtwängler wirkt als Charlotte Lindholm auf den ersten Blick eigentlich eher kühl. Zu Beginn von Der Fall Holdt, ihrem 25. Fall als Hannoveraner Tatort-Ermittlerin, darf sie allerdings einmal richtig Spaß haben. Ausgelassen tanzt sie inmitten einer feiernden Clubmeute und löst sich erst dann aus der innigen Knutscherei mit ihrem Freund, als sie auf Toilette muss. Weil die Schlange vor dem Damenklo zu lang ist, beschließt die Polizistin, sich schnell draußen einen ruhigen Ort zu suchen. Und weiß nicht, dass sie damit eine Handlungskette lostreten wird, die den Tatort zu einem Lehrstück dafür macht, wie Gewalt gegen Frauen nicht damit aufhört, dass die blauen Flecken irgendwann weniger sichtbar sind.

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Wie Charlotte Lindholm mit Tasche und Partykleid alleine von der Veranstaltung aufbricht, das Klackern der Absätze auf der Straße, im Hintergrund eine Ahnung von Musik, sonst nichts, erinnert an Monica Bellucci in Irreversibel. Gaspar Noés Skandalfilm zeigte eine Frau, die ihrem Angreifer absolut hilflos ausgeliefert war, und schockierte das Publikum mit der vielleicht längsten ungeschnittenen Vergewaltigungsszene der Filmgeschichte. Und auch hier weiß man, dass gleich etwas passieren wird. Nicht nur, weil es ein Tatort ist, sondern weil etwas passieren muss. Weil man viel zu viele Geschichten von anderen Frauen gehört oder selbst erlebt hat, in denen genau in so einer Situation etwas passiert ist.


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Als sich Lindholm zwischen zwei Autos hockt, um unauffällig pinkeln zu können, tauchen plötzlich drei Männer auf, die sie fotografieren. Sie ruft ihnen zu aufzuhören, zieht sich hektisch an und geht auf die Männer zu. Sie fordert sie auf, die Bilder sofort wieder zu löschen, und wird nur ausgelacht. Das könnte er nicht löschen, das sei Kunst, erklärt einer der Männer. Als sie sein Telefon auf den Boden schleudert und er aggressiv wird, greift sie ihn an – ist den drei Männern aber klar unterlegen. "Was jetzt, Fotze?", fragt einer von ihnen, als sie auf dem Boden liegt, während ihr in den Bauch getreten wird. "Das überlegst du dir das nächste Mal besser ganz genau", fügt ein anderer hinzu. Ganz so, als wäre die Frau, die sie blutend zurückgelassen haben, selbst schuld an ihrer Situation. Schließlich hätte sie dem Typen ja nicht das Telefon aus der Hand schlagen müssen.

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Als Lindholm blutüberströmt und sichtlich traumatisiert mit einem Taxi nach Hause fährt, ruft ihr Freund sie an. Wo sie denn sei und warum sie ihn habe warten lassen, fragt er. Auf ihre Frage, ob sie ihn später zurückrufen könne, reagiert er ablehnend. Er müsse jetzt packen gehen. Statt Unterstützung zu bekommen, wird ihr das aufgebürdet, was viele Opfer in ähnlichen Situationen erfahren: sich für etwas zu rechtfertigen, auf das sie keinen Einfluss hatten.

Da wird einem schneller die Schuld in die Schuhe geschoben, als man "Täter-Opfer-Umkehr" buchstabieren kann.

Auch wenn Lindholm "nur" zusammengeschlagen und erniedrigt wird, bleibt die Parallele zu Irreversibel. Schließlich geht es auch bei sexualisierter Gewalt nicht um Sex, sondern um Macht. In Irreversibel nehmen anschließend ihr ehemaliger und ihr aktuellen Partner Rache an Belluccis Vergewaltiger. Im Tatort bleibt keine Zeit dafür, dem Unrecht auf die Spur zu gehen. Hier muss Furtwänglers Beamtin weitermachen, als wäre nichts geschehen.

Trotz Krankschreibung klingelt wenig später Lindholms Telefon. Sie müsse einen Fall übernehmen, da ihre Kollegen "mit der Familie verbandelt" und "krank" seien, erklärt ihr Chef. Ihre Einwände tut er ab, schließlich sei sie "nie krank". Männliches Leid bedarf scheinbar keiner Rechtfertigung, weibliches Leid hingegen ist nur eine Ausrede. Lindholm quält sich unter Schmerzen aus dem Bett, überschminkt ihre Verletzungen und tut das, was viele Frauen tun müssen, denen ähnliches passiert ist: einfach weiter funktionieren, als sei nichts geschehen. Was hätte sie auch sagen sollen? "Ich habe mich beim Feiern nachts alleine zwischen zwei Autos gehockt, dort gepinkelt und tatsächlich gedacht, dass ich dabei nicht belästigt werde"? Man braucht sich nicht sonderlich intensiv mit den Diskussionen der letzten Jahre um Übergriffe auf Frauen auseinandergesetzt zu haben, um zu begreifen: Da wird einem schneller die Schuld in die Schuhe geschoben, als man "Täter-Opfer-Umkehr" buchstabieren kann.

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Foto: NDR | Marion von der Mehden

Unglücklicherweise ist der Fall, der Lindholm zugeschoben wurde, auch alles andere als geeignet, um sich von dem Überfall auf sie abzulenken. Julia Holdt wird auf dem Weg zu ihrem Reitstall im Wald angegriffen und entführt. Ihr Ehemann Frank bekommt wenig später ihren Zopf in einem Paket vor die Haustür gelegt und wird telefonisch darüber informiert, dass die Entführer seiner Frau den Kopf abschneiden werden, wenn er ihnen nicht bis 16 Uhr 300.000 Euro Lösegeld übergibt. Holdt, Filialleiter einer Bank, bekommt scheinbar den Großteil des Geldes zusammen und fährt zum vereinbarten Übergabeort. Nur von seiner Frau fehlt auch danach weiterhin jede Spur.

Der Fall Holdt beruht auf einer wahren Geschichte. Vor sieben Jahren, im Mai 2010, wurde Maria Bögerl von Unbekannten entführt und getötet. Ihr Ehemann, Thomas Bögerl, wurde verdächtigt, am Mord an seiner Frau beteiligt gewesen zu sein – anscheinend nur einer von vielen Ermittlungsfehlern. Er beging zwei Monate nach dem Mord Suizid. Wer hinter der Tat steckt, weiß die Polizei auch heute nicht.

Auch im Tatort schießt sich Charlotte Lindholm auf den verstörten Ehemann ein, als klar wird, dass der gegenüber seiner Frau handgreiflich geworden war. Dessen Entschuldigungen klingen dabei wie aus einem Handbuch für häusliche Gewalttäter: "Ich wollte ihr nicht wehtun." – "Ich hatte zu viel getrunken und die Kontrolle verloren." – "Ich liebe meine Frau."

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"Haben sie eigentlich irgendeine Ahnung, was das heißt für eine Frau, mit wie viel Scham so etwas verbunden ist?"

Immer wieder vermischt sich während der Ermittlungen Lindholms Trauma mit dem von Julia Holdt, die ihren Mann verlassen wollte und dafür von ihm nahezu krankenhausreif geprügelt wurde. Immer wieder schafft es die Polizistin nicht, sich von dem Schicksal der Frau zu distanzieren, die sich von ihrem gewalttätigen Mann befreien und ein neues Leben beginnen wollte. Eine psychische Belastung, die Lindholm auch zunehmend an den Rand des körperlichen Zusammenbruchs treibt. Und darunter leidet auch ihre Ermittlungsarbeit.

Als sie mit Julia Holdts Affäre spricht, die von den Übergriffen ihres Mannes wusste, sogar Fotos der Verletzungen hatte, platzt ihr schließlich der Kragen. Auf seine Äußerung, dass er diese "weibliche Devotheit" nicht verstünde, wegen der Holdt keine Hilfe bei der Polizei gesucht hätte, wird sie laut. "Weibliche Devotheit? Haben sie eigentlich irgendeine Ahnung, was das heißt für eine Frau, mit wie viel Scham so etwas verbunden ist?", sagt sie und spricht dabei auch von sich selbst.

Als sie Frank Holdt später dazu zwingt, sich die Fotos von den Verletzungen seiner Frau anzusehen, deren Leiche mittlerweile gefunden wurde, verliert sie vollends die Kontrolle. Beinahe fleht sie ihn an, endlich zu gestehen, so als würde der Abschluss dieses Falls auch einen Punkt hinter ihr eigenes Trauma setzen. Doch Holdt gesteht nicht. Er erhängt sich wenig später in seiner Zelle, wahrscheinlich unschuldig – zumindest, was die Entführung und den Mord angeht.

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Nach Holdts Suizid reicht es auch Lindholms Chef. Er übergibt die Ermittlungen an die zuarbeitende Polizistin Frauke Schäfer und wirft Lindholm vor, sich verrannt zu haben. "Sie sind eine gute Polizistin und eine tolle Frau", erklärt er ihr, als würde er ihr mit diesem zweifelhaften Kompliment einen Gefallen tun. "Sie haben es einfach zu nah an sich rangelassen." Als er geht und sie an ihrem Schreibtisch zurücklässt, bricht die Ermittlerin zusammen. Den Fall, mit dem sie ihren eigenen Übergriff aufarbeiten wollte, konnte sie nicht lösen. Jetzt bleibt ihr keine Wahl, als sich mit dem eigenen Schmerz auseinanderzusetzen. Einem Schmerz, den sie so deutlich nach außen getragen hat, der durch die Verletzung in ihrem Gesicht auch optisch so sichtbar war, dass es schockiert, wie unverantwortlich ihre Kollegen damit umgehen. Allen voran ihre jüngere Kollegin Schäfer, die Lindholm ein bisschen zu offensichtlich ihre Rolle als leitende Ermittlerin streitig machen möchte.

Das Gefühl absoluter Ohnmacht zu erleben, verändert einen Menschen, eine Frau. Auch die, die sich zur Wehr setzen können.

"Ich glaube, irgendjemand hat die so richtig vermöbelt", sagt sie zu einer Kollegin auf der Toilette und weiß nicht, dass Lindholm das Gespräch der beiden mitverfolgen kann. Die beiden lästernden Frauen sind sich einig, dass so etwas im Dienst "aber gar nicht gut" aussehe, und greifen dabei Lindholms Punkt auf, dass Opfer von Übergriffen nach außen hin vor allem eines fühlen: Scham. Statt auf Unterstützung anderer Frauen hoffen zu können, werden viele weibliche Opfer von Gewalt mit ihrem Trauma und ihrem Schmerz alleine gelassen. Nicht nur im Tatort, auch in der Realität.

Der Schluss zeichnet Lindholm als Frau jenseits der Belastungsgrenze, die auf die Frage ihres Freundes, ob alles OK sei, nicht mal mehr antworten kann. Natürlich ist nicht "alles OK", wahrscheinlich wird sehr lange nicht "alles OK" sein. Vielleicht gibt es für Jahre, Jahrzehnte keinen Moment mehr, in dem die Polizistin nicht zusammenzuckt, wenn sie im Dunkeln eine Straße entlangläuft und hinter sich Schritte hört. Das Gefühl absoluter Ohnmacht zu erleben, verändert einen Menschen, eine Frau. Auch die, die sich zur Wehr setzen können. Auch die, die durch ihren Job sowieso tagtäglich immer wieder die Grenze zum Unerträglichen überschreiten müssen. Und vielleicht ist das die wichtigste Erkenntnis, die wir aus diesem Tatort mitnehmen können.

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