Schwarz-weiß-Foto mit drei Frauen in Sommerkleidern, die gemeinsam nähen und in die Kamera lächeln, Kegham Djeghalians Fotos zeigen Gaza vor 80 Jahren
Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung von Kegham Djeghalian, sofern nicht anders angegeben
Menschen

Diese Fotos zeigen Gaza, wie du es noch nie gesehen hast

In den 1940ern eröffnete Kegham Djeghalian das erste Fotostudio in Gaza-Stadt. Seine Bilder zeigen ein Leben vor den Kriegen.

Das Heilige Land ist seit 1.700 Jahren auch Heimat einer kleinen armenischen Gemeinschaft. Im vierten Jahrhundert pilgerten armenische Christen und Mönche nach Jerusalem und ließen sich dort nieder. Mit der Zeit entstand so ein armenisches Viertel in der Jerusalemer Altstadt. Die Gemeinschaft, bis dahin überwiegend Geistliche, wuchs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark. Vor dem Völkermord an der armenischen Bevölkerung zwischen 1915 und 1923 in der heutigen Türkei flohen viele auch nach Jerusalem.

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In den 1940er Jahren zog der damals noch in Jerusalem lebende Fotograf Kegham Djeghalian, der selbst als Kind vor dem Völkermord geflohen war, nach Gaza-Stadt – damals noch eine einfache palästinensische Stadt an der Mittelmeerküste. 80 Jahre und viele verheerende Kriege später ist von dem einstigen Idyll nichts mehr übrig.


Auch von VICE: Wenn man seit Jahren die Familie nicht sehen kann


Seitdem die islamistischen Hamas 2006 an die Macht kam, steht der Gazastreifen unter israelischer Blockade, die je nach Sicherheitslage verschärft oder gelockert wurde. Menschen können nicht oder nur unter hohen Auflagen ausreisen, die Einfuhr von Gütern wird streng überwacht. 40 Prozent der erwerbsfähigen Männer sind arbeitslos, die Hälfte der Bevölkerung sind Kinder oder Jugendliche. Viele Menschen in Gaza sind auf die Versorgung durch Hilfsorganisationen angewiesen.

Aktuell ist die Lage im Gazastreifen so dramatisch wie noch nie. Als Reaktion auf den brutalen Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober fliegt die israelische Luftwaffe täglich Angriffe auf Ziele in dem dicht besiedelten Gebiet und hat den Gazastreifen komplett abgeriegelt, die Strom- und Wasserzufuhr in das Gebiet zumindest teilweise eingeschränkt. Laut palästinensischer Gesundheitsbehörde, die allerdings von der Hamas kontrolliert wird, sind bislang mehr als 7.000 Menschen durch die Luftangriffe getötet worden. Über eine Million Menschen sind aus Gaza-Stadt im Norden in den Süden geflohen. Hunderttausende haben ihr Zuhause verloren.

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Die Vereinten Nationen bezeichnen die humanitäre Lage im Gazastreifen als katastrophal. Erst seit dem Wochenende können kleine Hilfskonvois die Grenze von Ägypten in den Gazastreifen passieren. Dort fehlt es laut Ärzte ohne Grenzen an allem: Nahrung, Trinkwasser, Medikamenten und Benzin.

Aber es gab auch ein Gaza vor all den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte – und das sehen wir auf den Fotos des armenischen Fotografen Kegham Djeghalian. Sein Enkel Kegham Djeghalian Junior, der als Art Director und Fashion Stylist in Frankreich lebt, hatte in der ägyptischen Wohnung seines Vaters mehrere Kisten mit Negativen und alten Fotografien seines Großvaters entdeckt. 

40 Jahre nach dem Tod von Kegham Djeghalian stellte sein Enkel 2021 dessen Fotos in einer Galerie in Kairo aus. In der ägyptischen Hauptstadt lebt ein Teil der Familie seit dem Sechstagekrieg 1967. Djeghalian Senior war damals allerdings in Gaza geblieben. Seine Fotos zeigen einen seltenen Einblick in das vergleichsweise unbeschwerte Leben der Menschen in Gaza. Die Bilder entstanden zwischen den 1940ern und den 1970ern, Kegham Junior entschied sich allerdings, sie ohne Datierung auszustellen, um eine Version von Gaza zu zeigen, "in der die Zeit stehengeblieben ist", wie er es selbst ausdrückt.

Das folgende Interview mit Kegham Djeghalian Junior hatte unsere Kollegin von VICE Arabia bereits 2021 anlässlich seiner Ausstellung in Kairo geführt. Das Gespräch über die komplexe Beziehung seiner Familie zu Gaza, über Migration und Identität, hat seitdem allerdings nicht an Aktualität verloren. Die Fotos bleiben eine wichtige Erinnerung daran, dass auch in Gaza ein anderes Leben möglich war – und hoffentlich auch in Zukunft wieder sein wird.

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Ein Mann in einem kurzärmeligen hellen Hemd steht zwischen Bäumen und schaut in die Kamera

Kegham Djeghalian Senior, der Großvater

VICE: Was für eine persönliche Bedeutung hat die Ausstellung für dich?
Kegham Djeghalian:
Sie ist etwas sehr Besonderes, fast schon therapeutisch, könnte man sagen. Als ich die Fotoarchive bei meinem Vater fand, fühlte ich mich wie ein Archäologe, der ein wichtiges historisches Artefakt entdeckt. Mir war nicht sofort klar, wie wichtig diese Bilder waren, aber ich wusste, dass da etwas war.

Mir war es auch wichtig, meinen Großvater besser kennenzulernen. Von ihm habe ich meine Leidenschaft für die Fotografie. Deswegen habe ich mit meinen "Ausgrabungen" weitergemacht. Und wie man sieht, waren die Fotos eine tolle Entdeckung. Sie zeigen eine Seite von Gaza, die komplett anders ist als das, was wir heute sehen.

Schwarzweiß-Porträt eines gepflegten Mannes, der mit verschränkten Armen auf einem alten Sofa sitzt

Kegham Djeghalian Junior | Foto: Rania Shereen

Wie war deine Beziehung zu deinem Großvater?
Ich habe ihn leider nie kennengelernt. Er blieb in Gaza und starb dort Anfang der 80er Jahre. Ich wünschte, es wäre anders gewesen. Nicht nur, weil wir beide Kunst lieben, sondern auch wegen der Reaktionen der Menschen aus Gaza, wenn ich ihnen sage, dass ich sein Enkelsohn bin. Er hatte damals das erste Fotostudio der Stadt gegründet. Allein die Erwähnung seines Namens ruft starke Emotionen in den Erinnerungen der Menschen hervor, die damals auch schon dort lebten.

Mein Vater hat die Kisten seines Vaters nie erwähnt. Er hatte sie vergessen. Ihre Entdeckung hat mein Leben verändert. Ich weiß jetzt viel mehr über die Geschichte unserer Familie und verstehe meine eigene Identität besser. Vor allem aber sind diese Bilder eine Möglichkeit, Gaza etwas zurückzugeben. Die Stadt hat es verdient, dass man ihre Geschichte aus einer anderen Sicht erzählt.

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Ein altes Gruppenfoto von sechs Männern und einem Teenager vor einem Laden, auf dem Schild steht "Photo Kegham"

Das Kegham-Fotostudio in Gaza

Was hast du durch die Fotos über deinen Großvater erfahren?
Die Bilder werfen für mich mehr Fragen auf, als sie beantworten. Wenn ich sie betrachte, frage ich mich, warum ein armenischer Einwanderer sich dazu entschieden hat, sich in Gaza niederzulassen und nicht in Jerusalem zu bleiben. Ich frage mich, wie ein Mann, der kaum Arabisch sprach, es schaffte, so viel Vertrauen und Liebe von den Menschen dort geschenkt zu bekommen.

Mein Großvater schickte seine Kinder auf arabische Schulen, wo sie Islam- und Koranunterricht hatten. Er hatte nie ein Problem damit, auch wenn er selbst Christ war. Als sein Sohn geboren wurde, befolgte er sogar die islamische Aqiqa-Tradition und opferte ein Tier. Mein Großvater liebte Gaza und die Menschen dort, er gehörte dorthin. Er dokumentierte ihr Leben in- und außerhalb seines Studios.

Foto von mehreren Menschen, die zusammen sitzen und essen

Die Djeghalian-Familie beim Fattah-Essen

Glaubst du, dass dein Vater die Kisten tatsächlich vergessen hat? Oder hatte er vielleicht versucht, sie zu meiden?
Ich glaube, Trauma spielt hierbei schon eine Rolle. Meine Familie vermeidet derartige Erinnerungen in der Regel. Für meinen Vater ist das alles nicht einfach. Obwohl er seit über 50 Jahren in Ägypten lebt, hat er noch immer palästinensische Dokumente. Millionen von Palästinensern sind bis heute staatenlos.

Mein Großvater hatte selbst einen Völkermord überlebt. Laut den Geschichten meiner Familie war er verkleidet als Mädchen aus Armenien geflohen, weil die Osmanen zuerst die Jungs töteten. Nach einer Ausbildung in Jerusalem bei einem anderen armenischen Fotografen, zog er in jungen Jahren nach Gaza. Er dokumentierte die Nakba [die Flucht und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung im Zuge der Staatsgründung Israels und des damit einhergehenden Palästinakriegs 1948], den Sechstagekrieg, die Flüchtlingslager und die ganzen tragischen Momente, die die Menschen von Gaza durchmachen mussten.

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Vor allem der Sechstagekrieg von 1967 war ein bitterer Einschnitt für meine Familie. Als der Krieg zwischen Israel und Ägypten ausbrach, war meine Großmutter gerade zu Besuch in Kairo, wo mein Vater und mein Onkel studierten. Sie konnten dann drei Jahre lang nicht nach Gaza zurück zu meinem Großvater – und seine Besuche wurden immer seltener. 

In den frühen 80ern wurde mein Vater nach einem Aufenthalt in Gaza auf dem Rückweg nach Ägypten von einem israelischen Soldaten so schlecht behandelt, dass er sich schwor, nie wieder nach Gaza zu gehen. Damit war das Kapitel erledigt. Dieses Erlebnis schien seine emotionale Loslösung von Gaza zu besiegeln. Vielleicht hat er auch deswegen die drei Kisten vergessen.

Ein altes Schwarzweißfoto mit einem Paar am Strand

Kegham Juniors Großvater und Großmutter am Strand von Gaza

Wie reagieren Menschen auf die Bilder?
Gaza hat immer die Neugier der Menschen geweckt, vor allem bei Ausländern, zum Beispiel den vielen Diplomaten hier in Ägypten. Sie sind oft schockiert, dass es in Gaza mal so ausgesehen hat. Durch Social Media haben viele Menschen sich oder Familienmitglieder in den Fotos erkannt. Sie haben sich bei mir gemeldet und mir mehr über die Bilder erzählt, wo sie aufgenommen wurden und wer die Menschen waren.

Welches Foto bedeutet dir am meisten?
Das hier:

Ein Mann und eine Frau spazieren einen Strand entlang

Kegham Juniors Vater und dessen Schwester

Das ist der Schatten meines Großvaters auf dem Sand und weiter vorne läuft meine Tante, die meinen Vater umarmt. Sie spazieren friedlich über den Strand, während das Meer sanft ihre Füße umspült.

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Drei Mädchen in Gaza

mitgenommenes Foto von Frauen bei einem Malkurs
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