Der einzige Grund für Rap ist der Untergrund (?)

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Der einzige Grund für Rap ist der Untergrund (?)

Wie steht es um den Untergrund im Deutschrap? Gedeiht guter Rap immer noch im Dreck? Und wenn ja, wo ist es im Moment am dreckigsten?

„Rap ist die einzige Musik, die man untergrundmäßig betreiben kann. Es gibt keinen Untergrund-Pop oder Untergrund-Schlager."—Marcus Staiger.

„Untergrund" sein ist bis heute im Rap ein Prädikat, das oft mit großer Ehre verbunden ist. Ähnlich wie ein Ehrenamt im Tierheim. Es hört sich toll an, Leute nicken beeindruckt, wenn man ihnen davon erzählt oder ihnen einen entsprechenden YouTube-Link schickt. Aber es bleiben auch viele Fragen offen.

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Macht dich ein Ehrenamt automatisch zu einem guten Menschen beziehungsweise der Rap-Stempel Untergrund automatisch zu einem guten Rapper mit so eigener, authentischer und purer Kunst, dass lediglich ein kleiner, exklusiver Fachkreis dazu in der Lage ist, das Verständnis und die Liebe dafür aufzubringen? Und was genau bedeutet Untergrund sein 2016 überhaupt? Ist es allein vom Bekanntheitsgrad abhängig, was als „Untergrund" bezeichnet werden darf, oder gibt es da doch noch eine inhärente, idealistische Komponente?

„Für mich persönlich bedeutete der Begriff ‚Untergrund' am Anfang meiner Laufbahn vor allem, sich vom damaligen Einheitsbrei abzukapseln", erklärt uns Frauenarzt, der mit Berlin Crime​ den Berliner Untergrundrap der 90er und 00er Jahre massiv mitprägte und bis heute als Untergrundking erster Stunde gefeiert wird—trotz riesigem Erfolg im Mainstream mit seinem Zweitprojekt Die Atzen.

„Im Prinzip hieß ‚Untergrund' nichts anderes, als sich selber unabhängig zu machen. Independent. Nur, dass wir in den späten 90ern einfach wirklich rundum alles selber gemacht haben. Die Musik, die Texte, die Kassetten-Produktion, die Promotion, das Marketing, den Vertrieb, den Verkauf, einfach alles. Und das meist vollkommen ohne offiziell vorhandenes Budget. Das hat dem ganzen noch mal ein besonderes Lebensgefühl gegeben, welches mit der Bezeichnung ‚Untergrund' einen absolut passenden, eigenen Begriff bekommen hatte, mit dem sich jeder aus unserem Umfeld gerne und gut identifizieren konnte."

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Neben Frauenarzt ist auch Marcus Staiger ein Name, der nach wie vor mit dem Berliner Untergrund assoziiert wird. Als Gründer des damaligen Musikcafés und späterem Label Royal Bunker, veranstaltete er die berühmten Freestyle-Cyphers, bei denen heutige Größen wie Kool Savas, Prinz Porno/Pi oder Sido ihre ersten dank Baggypants leicht schlurfenden Schrittchen Richtung Rapstar machten.  Nach seinem Begriff von „Untergrund" gefragt, antwortet Staiger kurz und knapp: „Sobald ein Rapper über ein Fachpublikum hinaus kommerziell erfolgreich ist, ist er nicht mehr Untergrund." Zack, so einfach ist das. Oder? Frauenarzt sieht das ein bisschen anders: „Ab einem gewissen Bekanntheitsgrad ist man vielleicht kein wirklicher Untergrund-Rapper mehr, aber selbst ein großer Rap-Star wie Sido könnte morgen wieder ein Untergrund-Tape raushauen und es dürfte im Prinzip keiner anprangern."

Wir merken jetzt schon: Eine eindeutige Benennung dessen, was Untergrund ist, gibt es anscheinend nicht. In Deutschraps Kellergewölben ist das Licht diffus, eine allgemein gültige Definition daher schwierig und oft von persönlichen Eindrücken und Erfahrungen geprägt. Warum „Untergrund sein" dagegen fast immer einer Auszeichnung gleichkommt, ja sogar automatisch ein Authentizitäts-Gütesiegel ist, erklärt Staiger so: „Das Heroisieren von Untergrund ist oft auch eine bequeme Ausrede, seinem eigenem Misserfolg etwas Gutes abzugewinnen. 'Ich bin eben Untergundrapper. Noisey will mich nur unten halten!' Das ist eine Ego-Sache. So eine Existenz würde man in keinem anderen Genre aushalten. Bei Rap geht das aber: Im Negativen, in der Nicht-Akzeptanz etwas Gutes sehen, ja daraus sogar eine Tugend zu machen."

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Abgesehen vom Ego als oberster Instanz, hat sich Rap hinsichtlich der technischen Möglichkeiten rapide verändert—und damit natürlich auch der analoge hin zum digitalen Untergrund: „Wir haben unsere Kassetten vor HipHop-Partys aus dem Kofferraum raus verkauft. Heutzutage stellst du deine Songs bei YouTube oder Soundcloud online. Du kannst deine Alben selber bei iTunes zum Verkauf oder auf Streaming-Plattformen zum Hören veröffentlichen, ohne Hilfe eines großen Labels. Vertriebe sind viel offener, Newcomer zu vertreiben, da sie im Online-Vertreib so gut wie keinem finanziellen Verlustrisiko ausgesetzt sind. Promotion über Facebook, Twitter oder Instagram ist viel persönlicher und Fan-gebundener als eine Werbeanzeige in der Juice, zu dem auch noch günstiger wenn nicht sogar kostenlos", erklärt Frauenarzt. Kann Rap heute denn dann überhaupt noch Untergrund sein, wenn ein Video trotz völliger Unbekanntheit des Interpreten nach drei Tagen bereits eine Million Klicks hat?

Laut Frauenarzt ist das definitiv noch der Fall. „Natürlich ist es möglich, den Begriff ‚Untergrund' heute noch zu verwenden, jedoch haben sich die Strukturen der Musikindustrie in den letzten zwei Jahrzehnten rapide und radikal entwickelt und verändert. Die Grundeinstellung des Begriffs ‚Untergrund' hat sich damit meiner Meinung nach aber nur gefestigt. Heutzutage bist du immer noch ein Untergrundkünstler, wenn du alles selber machst und eine bestimmte Publikums-Nische bedienst. Dabei ist es aber auch ganz legitim mit großen Firmen zusammenzuarbeiten."

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Auch Staiger würde den Schlüssel zum Rap-Keller noch nicht wegwerfen: „Obwohl sich die Verbreitungsmedien verändert haben, glaube ich trotzdem, dass die Wege auch heute noch gleich geblieben sind. Es ist zwar alles schneller erhältlich, dennoch findet die Verbreitung immer noch in einem gewissen Kreis statt. Natürlich musstest du früher in diesen Keller gehen, um gewisse Rapper hören und die Kassette kaufen zu können. Es war analoger. Aber heute musst du dich immer noch im virtuellen Rap-Keller rumtreiben, um diese Art Musik zu entdecken."

Gesagt, getan. Wir sind die virtuellen Stufen hinabgestiegen, ab in die Düsternis des sagenumwobenen Untergrunds, um euch drei Rapper vorzustellen, die wir zwischen all dem Gerümpel, Unrat und Kisten voller alter Southpole-Hosen entdeckt haben.

John Borno

John Borno, oft in Verbindung mit seinem vermeintlichen Kollegen Sportler99 (man munkelt, er existiere gar nicht), erinnert mit seinem düsteren Style nicht nur inhaltlich (Drogen, Eskapismus, Gossengeschichten), sondern auch akustisch stark an die Zeit, als „Untergrundrap" seinen Namen fand und Produktionen á la „Wohnzimmer Productions" eben auch genau so klangen.

„Wie seid ihr auf mich gekommen? Ich bin doch dermaßen unter dem Radar", antwortete Borno passend auf unsere Anfrage, mit ihm über Untergrundrap sprechen zu wollen. John Borno befriedigt wohl alle, die Untergrund mehr als ein Genre verstehen, statt als Musik mit niedriger Fanzahl. Wie wir in einem älteren Artikel bereits beschrieben, ist John Borno „Kai der Brecher of Rap". Destruktiv, unangepasst, dreckig. Er selbst sieht seine Rolle als Untergrundrapper so: „Um Untergrund zu sein, ist es für mich wichtig, nicht zu viele Einflüsse von Außen zu haben."

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Auf unsere Frage, ob guter Rap immer noch im Dreck gedeiht, antwortete er: „Rap gedeiht in seiner Umgebung, seiner Crew, seinen engen Freunden. Ich glaube, dabei geht es nicht um Herkunft, sondern die Einstellung. Ich mach Musik aus Spaß und hab gar nicht den Anspruch, etwas damit zu bewegen. Ich will nicht Untergrund sein, um dem gerecht zu werden—ich bin es einfach."

Frauenarzt sieht diese Fragestellung übrigens ähnlich: „Ich war nie der Meinung, dass guter Rap nur im Dreck gedeiht, so wie Mach One es einmal formulierte. Allerdings ist man mit Sicherheit bissiger und hungriger, wenn man weniger zu verlieren hat. So war es jedenfalls bei mir. Ob mich das als Rapper besser gemacht hat, wage ich zu bezweifeln. Kämpferischer aber allemal."

Mister Mex

Mister Mex feierte mit „Fette Ketten" dieses Jahr einen Untergrundhit—auch wenn der Song eigentlich schon 3 1/2 Jahre alt ist. Und obwohl er laut eigener Aussage „einen Arsch voller Songs" hat, entschloss er sich, vor allem diesen Song zu performen und damit zu pushen. Vermutlich versinnbildlicht dieses Video, in dem Mex den Track wortwörtlich im Untergrund (einer Unterführung vor wenigen Eingeweihten) performt, die emotionale Bedeutung des Begriffs für viele. Einfach ein bisschen cooler sein als der Rest. Exklusiver. Unser Rap ist ein Club—in den nicht jeder reinkommt.

Dennoch sagte er uns im Interview, dass er sich selbst nie als „Untergrund" bezeichnet hat—ja, sogar nicht mal eine Ahnung hat, was „Untergrund" eigentlich genau bedeuten soll. „Untergrund ist ein Bitch-Begriff. Ich bin Unterwelt. Ich gehöre noch der Generation an, die diese Berliner HipHop-Kultur miterlebt hat zur Prä-Internet-Zeit, und habe dadurch vielleicht noch andere Werte bezüglich HipHop mitgenommen."

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Auf die Frage, was diese „Untergrund"-Werte im HipHop seien, antwortet Mex: „Dass man live am Start sein muss. Du kannst kein Internetrapper sein. Du musst authentisch sein. Du darfst nicht behaupten, etwas zu sein, was du nicht bist. Ansonsten kommt der derjenige, der es ist und testet dich. Das war so und das gilt auch heute noch."

Dennoch begreift sich Mex keinesfalls als „Szenenerd"—tatsächlich ist das, wie er sagt „der Anti-Begriff von dem, was ich bin. Ich bin ein Original. Egal, welchen Sound ich mache, ob das jetzt düsterer Straßenrap wie bei ‚Fette Ketten' und meinem ersten Album ist oder smoother halftime Jazz-Rap wie bei meinem letzten Album—es geht darum, ein Original zu sein."

Harry Quintana

Harry Quintana zeigte mir ein Rap-affiner Freund mit den Worten: „Das ist der bessere Yung Hurn. ‚Steady Pimpin' ist genau das, wie Cloud Rap sein sollte: sphärisch, aber voller Punchlines." Und damit mag er vielleicht auch Recht haben.

Harry Quintana ist nicht düster, rau oder hart. Im Gegenteil. Um bei der Keller-Metapher zu bleiben: Selten haben wir einen so gut ausgeleuchteten und mit bequemen Sesseln und Sofas ausgestatteten Keller gesehen, wie den von Quintanas Rap. Er ist unverbraucht, leichtfüßig und vor allem: unangestrengt.

So widersprüchlich die verschiedenen Auffassungen und Aussagen über Untergrundrap auch sein mögen, abschließend kann vielleicht festgehalten werden, dass diese Undefinierbarkeit eigentlich die schönste Eigenschaft von Untergrundrap ist. Er ist nicht konstruiert, lässt sich nicht kategorisieren, aufräumen und reinreden.

Und wer lässt sich denn schon auch seinen Keller von einem Innenausstatter einrichten? Er ist vielleicht vollgestellt mit allem möglichen persönlichem Müll, Kram und coolem Scheiß—von dem wir oft nicht wollen, dass ihn die anderen sehen.

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Foto: Screenshot von YouTube​ aus dem Video „Mister Mex - Fette Ketten (Rage)"​ von Feinshmeckaz TV 

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