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Wie eine chinesische Hausfrau jahrelang aus Langeweile Wikipedia-Texte fälschte

Kurz bevor der Schwindel aufflog, hatte Wikipedia die fleißige Autorin noch für ihre langen und ausführlichen Beiträge ausgezeichnet.
Eine Frau mit einer Kapuze vor einem Computer, eine chinesische Hausfrau hatte über 200 Artikel zur russischen Geschichte erfunden.
Symbolfoto: SHUTTERSTOCK

Der chinesische Romanautor Yifan recherchierte für ein neues Buch, als er über einen der größten und elaboriertesten Betrugsfälle auf Wikipedia stolperte.

Yifan interessierte sich für die Geschichte Russlands und stieß auf einen ausführlichen Eintrag in der chinesischen Wikipedia zur Silbermine von Kaschin. In dem Artikel stand alles von der angeblichen Entdeckung des Vorkommens durch Bauern im Jahr 1344, über die Zahl der Sklaven, die dort arbeiteten, bis zu den positiven Auswirkungen der Mine auf den Wohlstand des Großfürstentums Twer im 14. und 15. Jahrhundert. Sogar die geologische Zusammensetzung des Bodens, die Struktur der Mine und der Veredelungsprozess waren detailliert im Eintrag geschildert.

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Yifan glaubte, spannendes Material für seinen Roman entdeckt zu haben. Was er zu dem Zeitpunkt nicht wusste: Er war gerade im fiktionalen Reich der Wikipedia-Nutzerin Zhemao gelandet. Seit 2019 hatte sie 206 Artikel für die chinesische Wikipedia geschrieben, in denen sie kunstvoll Fakten und Fiktion miteinander vermischte. Jahrelang hatte niemand etwas bemerkt.


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"Ihre Einträge waren von hoher Qualität und miteinander verbunden. Sie hatte ein in sich schlüssiges System erschaffen", sagt der erfahrene chinesische Wikipedia-Autor John Yip. "Zhemao hat eine neue Methode erfunden, um Wikipedia auszutricksen."

Yifan wurde auf den Schwindel aufmerksam, als er die Geschichte über die Silbermine russisch sprechenden Menschen zeigte und Zhemaos Quellen überprüfte. Dabei entdeckte er, dass die angegebenen Seitenzahlen nicht passten oder die von ihr genannten Versionen der Bücher gar nicht existieren.

Ihre langen Einträge zu historischen Konflikten zwischen slawischen Staaten kamen ebenfalls auf den Prüfstand. Wie sich zeigte, werden sie in keinem russischen Geschichtsbuch erwähnt. "Die Beiträge waren so detailliert, dass sie die englischen und russischen Wikipedia-Artikel in den Schatten stellten", schrieb Yifan auf Zhihu, einer chinesischen Plattform, die mit Quora vergleichbar ist. Dort hatte er seine Entdeckung im Juni bekanntgemacht und für großes Aufsehen gesorgt.

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Das wahre Ausmaß des Falls kam dann ans Licht, als sich eine Gruppe Wikipedia-Autoren Zhemaos Beiträge zu knapp 300 Artikeln vornahm.

Einer ihrer längsten Artikel hatte fast die Länge von Der große Gatsby. Im formellen Ton einer Enzyklopädie schilderte er drei Tataren-Aufstände im 17. Jahrhundert. Dazu fertigte Zhemao sogar eine Karte an. In einem anderen Artikel lud Zhemao Bilder von antiken Münzen hoch, die sie angeblich von russischen Archäologen bekommen hatte.

Große künstlerische Freiheiten erlaubte sich Zhemao auch in einem Artikel über die Deportation von Chinesen in der Sowjetunion der Zwanziger und Dreißiger Jahre. Ihr Eintrag war so überzeugend, dass er eine Exzellenzauszeichnung bekam – also mit einem kleinen Stern versehen wurde – und man ihn in andere Sprachen wie Englisch, Arabisch und Russisch übersetzte. Damit breiteten sich Zhemaos Fantasiegeschichten auch in andere Ländern aus.

Der Wikipedia-Autor Yip gehörte zu den ersten innerhalb der Community, die mit der fleißigen Autorin interagierten. Als er von ihrem Betrug erfuhr, konnte er es zuerst nicht glauben. Wie viele andere war er bis dahin von Zhemaos umfassenden Wissen zu sehr spezifischen Themenbereichen und ihrem aufopfernden Einsatz beeindruckt. Etwa alle zwei Tage überarbeitete sie Wikipedia-Einträge.

"Ihre Beiträge machten den Anschein, umfassend und ordentlich mit Quellen belegt zu sein, aber einige dieser Quellen waren frei erfunden, bei anderen passte die Seitenzahl nicht", sagt Yip. Zhemao zitierte oder verwies zum Beispiel regelmäßig auf das 29 Bände umfassende Mammutwerk Russische Geschichte von den ältesten Zeiten des russischen Historikers Sergei M. Solowjow. Die von ihr verwendeten chinesischen Übersetzungen stellten sich als komplett erfunden heraus.

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Yeh Youchia ist eine der ehrenamtlichen Wikipedia-Redakteurinnen, die dabei geholfen haben, Zhemaos Schaden an der Online-Enzyklopädie zu beseitigen. Sie überprüft regelmäßig Einträge auf ihre Korrektheit und stellt gegebenenfalls frühere Versionen wieder her. Allerdings würden sie und ihre Kollegen in der Regel davon ausgehen, dass die Autoren ihre Einträge in bestem Gewissen schreiben, sagt sie.

"Wenn wir neue Einträge überprüfen, kontrollieren wir nur, ob es sich um offensichtliche Plagiate handelt und ob sie mit ordentlichen Quellen belegt sind. Zhemao hat das Format von Wikipedia sehr gut verstanden und Quellen angegeben, die sich nur sehr schwer überprüfen ließen", sagt Yeh.

Aber Zhemaos Erfindungsreichtum endete nicht bei ihren Beiträgen.

Um sich Glaubwürdigkeit zu verleihen, gab sich Zhemao als Tochter eines chinesischen Diplomaten aus, der lange in Russland stationiert war. Sie selbst habe einen russischen Mann geheiratet. In ihrem Userprofil listete sie ihre akademische Karriere auf, inklusive einem Doktortitel in Weltgeschichte von der Moskauer Staatsuniversität. Anlässlich des Ukrainekriegs beschrieb sie sich in ihrem Profil als Pazifistin und verlinkte dort eine Petition gegen den russischen Angriff, die ihr Mann unterschrieben haben soll.

Ansonsten gab sich Zhemao stets bescheiden. Gleichzeitig kontrollierte sie allerdings mindestens vier weitere Accounts, mit denen sie die Illusion aufrecht erhielt, akademischen Rückhalt zu haben. Mit einem davon gab sie sich als Geschichtsdoktorand an der Universität Peking aus, der in Russland studiert hatte und behauptete, Zhemao zu kennen.

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Mit ihrem Image als bescheidene Akademikerin gewann Zhemao schnell das Vertrauen der Community. Eric Liu, ein Geschichtsstudent, der seit 2015 auf Wikipedia aktiv ist, sagt: "Ich dachte, sie sei eins dieser seltenen Genies. Der Seite fehlten Autoren, die sich mit dem Russland des Mittelalters auskennen." Erst vor ein paar Monaten hatte er Zhemao für ihre Wikipedia-Beiträge ausgezeichnet.

Screenshot von einem Wikipedia-Artikel über die Belagerung von Borovsk

Screenshot eines Wikipedia-Artikels von Zhemao, der inzwischen gelöscht wurde

"Ich bereue zutiefst, dass ich ihren Nonsens nicht erkannt und sie sogar unterstützt habe. Ich fühle mich fast wie ihr Komplize", sagt Liu. Der Vorfall habe der Glaubhaftigkeit der Seite einen schweren Schlag versetzt und viele User seien jetzt regelrecht paranoid wegen potenzieller Betrügereien, sagt er.

Inzwischen wurden Zhemaos Accounts gesperrt und die meisten ihrer Artikel gelöscht.

Aber wer ist eigentlich Zhemao? Bevor ihr Konto abgeschaltet wurde, veröffentlichte sie im Juni noch eine Entschuldigung. Wie sie schreibt, beherrsche sie weder Russisch noch Englisch. Sie sei eine Hausfrau mit einfachem Schulabschluss.

Alles habe harmlos angefangen. Da sie wissenschaftliche Artikel in deren Originalsprache nicht verstand, habe sie die Sätze mithilfe eines Übersetzungstools zusammengebaut und die Lücken mit ihrer eigenen Fantasie gefüllt. "Wie es so heißt: Um eine Lüge aufrechtzuerhalten, musst du weitere Lügen erzählen", schrieb sie. Irgendwann hatte sie zehntausende Zeichen niedergeschrieben, die sie nicht mehr wirklich löschen wollte.

Die Zweitaccounts seien imaginäre Freunde gewesen, mit denen sie Cosplay gespielt habe. Da ihr Ehemann viel unterwegs sei und sie keine Freunde habe, sei sie häufig einsam und gelangweilt gewesen. Sie entschuldigte sich auch bei echten Expertinnen und Experten in Russland, deren Nähe sie zunächst gesucht hatte und für die sie sich später ausgab.

"Das Wissen, das ich jetzt habe, reicht nicht, um davon leben zu können. Ich werde jetzt eine Fertigkeit lernen, regelmäßig arbeiten und nicht mehr solche sinnlosen Dinge machen", schrieb sie.

Was von Zhemaos Statement wiederum wahr ist, lässt sich kaum überprüfen.

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