Menschen

Diese Menschen lassen ihr Leben von einem Würfel bestimmen

Inspiriert durch einen Kultroman lassen sich Menschen weltweit selbst bei wichtigen Entscheidungen von Würfeln lenken. Wir haben mit ihnen gesprochen.
Eine Illustration zeigt eine Hand, die vor einem blauen Hintergrund mit Hufeisen und vierblättrigen Kleeblättern mehrere Würfel rollt; so machen es viele Menschen auf der Welt, die all ihre Entscheidungen davon abhängig machen, was die Würfel zeigen
Illustration: Lily Lambie-Kiernan

"Die Straßen der bosnischen Stadt Mostar waren wie leergefegt, aber wir wollten Action", sagt der Journalist Joe Cusack über seine Zeit während des Bosnienkriegs. "Viele der Soldaten, die wir unterwegs trafen, hatten keine Lust mehr auf das ganze Chaos und das Töten. Bei ihnen war noch so etwas wie Mitgefühl vorhanden. Aber nicht bei den Jungs der Kroatischen Verteidigungskräfte, die wir in Mostar begleiteten. Die waren wie Klebstoffschnüffler mit Waffen. Die Lage konnte jederzeit eskalieren." 

Anzeige

Zusammen mit seinem Sandkastenfreund Graham Johnson erlebte Joe, der damals Anfang 20 war, den Zusammenbruch Jugoslawiens direkt vor Ort. Und ihr Wunsch nach Action sollte schnell erfüllt werden: Als die beiden den grauenerregenden Lärm einer in ihre Richtung abgefeuerten serbischen Granate hörten, warfen sie sich auf den Boden.

Die Granate traf in rund 40 Metern Entfernung auf ein Auto und explodierte. Mit einem Pfeifen im Ohr blickte Joe rüber zu Graham. In einem Moment der absoluten Klarheit fingen beide an, wie kleine Kinder zu kichern. Dass sie den Granateneinschlag überlebten, schreiben sie dem "X-Faktor" zu – ihr Spitzname für Schicksal und glückliche Zufälle.   

Mehrere Wochen zuvor hatte dieser X-Faktor auch mitentschieden, dass Joe und Graham überhaupt nach Osteuropa reisten. Inspiriert vom Roman Der Würfler und ohne jegliche journalistische Erfahrung hatten es die beiden von einem Spielwürfel abhängig gemacht, ob sie ihre Jobs hinschmeißen und sich mit gefälschten Presseausweisen in das Kriegsgebiet aufmachen sollen.

Mehrere junge Männer in Tarnklamotten sitzen vor einer Mauer und rauchen und trinken Bier

Joe (ganz links) und Graham (ganz rechts) in Bosnien | Foto: bereitgestellt von Joe Cusack

Der Würfler ist 2021 50 Jahre alt geworden. Autor George Cockroft, der das Buch unter seinem Pseudonym Luke Rhinehart schrieb, hat es leider nicht geschafft, dieses Jubiläum zu feiern. Er ist im November 2020 gestorben. Aber die in der kontroversen Satire beschriebene Würfel-Philosophie inspiriert bis heute Menschen auf der ganzen Welt.

Anzeige

In Der Würfler geht es um einen gelangweilten Psychiater aus New York, der seine täglichen Entscheidungen davon abhängig macht, was beim Rollen eines Würfels herauskommt. So verlässt er irgendwann seine Familie, versucht, die Frau seines Nachbarn zu vergewaltigen, nimmt bei Partyabenteuern bizarre Identitäten an und organisiert einen Massenausbruch aus einer Psychiatrie.

Der Erfolg des 1971 veröffentlichten Romans kam nur langsam. Schließlich wurden aber zwei Millionen Ausgaben in 25 Ländern verkauft, 1999 ehrte das Magazin Loaded das Buch als "den Roman des Jahrhunderts". Und dank Der Würfler gab es mit der Zeit überall auf der Welt immer mehr Würfel-Jünger.

"Die Würfel haben etwas absolut Mystisches an sich", sagt Joe. "Wenn du würfelst, zapfst du etwas an, das bereits da ist, eine Art Strömung. So, als ob für dich alles vorbestimmt ist."

"Ich spüre eine Energie in dieser Welt. Der Würfel half mir, auf diese Energie zuzugreifen."

Auch der 42-jährige Retter aus dem australischen Perth hat schon einige Abenteuer mit seinem Würfel erlebt. Er beschreibt dabei etwas Ähnliches wie Joes mystische Strömung: "Früher nutzte ich den Würfel als eine Art Katalysator, damit mir das Universum weiterhilft", sagt er. "Ich bin Atheist, ich glaube nicht an Gottes Willen und so weiter. Aber ich spüre eine Energie in dieser Welt. Der Würfel half mir, auf diese Energie zuzugreifen."

Anzeige

Retter nutzte die Würfel oft, um sich durch alkoholgeschwängerte Nächte zu navigieren. Und der Reiz von ein bisschen Chaos hat sich für die Leute in seinem direkten Umfeld häufig als unwiderstehlich herausgestellt: Retter erinnert sich daran, wie er an einem Abend in einer Bar den Würfel darüber entscheiden ließ, ob er Weiß- oder Rotwein trinkt, was schließlich zu einer ausgedehnten Kneipentour mit 20 anderen Menschen führte. Einmal hatte Retter am Flughafen in seiner Heimatstadt noch ein paar Stunden Zeit, als eine Frau auf seine Würfelspielerei aufmerksam wurde.

"Ich sagte zu ihr, dass ich bald weg sei, und fragte, ob sie spontan noch mit zu mir kommen würde oder ob sie mir ihre Nummer gibt", sagt Retter. "Ihre Antwort: 'Auf gehts!' Sie fand diese Willkürlichkeit des Augenblicks richtig gut, und wir hatten dann diesen bizarren One-Night-Stand. Nach dem Sex hatte ich nicht mal mehr Zeit zum Duschen. Ich stopfte nur alles schnell in meine Tasche und fuhr wieder zum Flughafen. Was mir nicht klar war: Sie hatte einen Freund, unser Abenteuer sorgte also für richtig viel Ärger. Ich musste lange Zeit ziemlich viele Leute meiden."

Retter hat das Würfeln vor einigen Jahren aufgegeben. "Jetzt gibt es Menschen, die sich auf mich verlassen, die will ich nicht enttäuschen", sagt er. Die Macht seiner beiden Würfel hat ihn aber noch nicht losgelassen.

Anzeige

"Mit der Zeit brauchst du die Würfel nicht mehr, dann hast du kein Problem mehr damit, willkürliche Entscheidungen selbst zu treffen", sagt er und erinnert sich daran, wie er spontan nach Hongkong umzog, um dort ein plötzliches Jobangebot anzunehmen. "Das Ganze befreit dich von den Ketten der Verpflichtung. Die Leute um dich herum sagen: 'Moment, wir müssen noch diese Studie analysieren und genau überlegen, bevor wir uns entscheiden.' Bei der Würfel-Philosophie wird hingegen einfach drauf geschissen, und die Würfel nehmen einem die Entscheidung ab."

Retter vertraute seinen Würfeln aber nicht blind. "Manchmal habe ich das, was mir die Würfel quasi befohlen haben, nicht gemacht", erzählt er. "Das bekam ich dann bei den nächsten Entscheidungen zurück, wenn die Würfel mir nur die schwierigste Option vorgaben. Ich weiß noch, wie ich versuchte, ihnen gut zuzureden: 'Es tut mir wirklich leid, aber könnt ihr mir nicht mal wieder etwas Einfaches geben?'"

Eine Hand, deren Arm von einem roten Wollpullover bedeckt ist, würfelt mit fünf Würfeln

Foto: Michael Schultz Mike / Alamy Stock Photo

Der 44-jährige Art Director Araz kommt ursprünglich aus Göteborg, zog aber in den 90er Jahren mit nur einem Zehner in der Tasche nach London – eine Entscheidung, die auf einem Würfelwurf basierte. Schon als Teenager würfelte Araz. Er sagt selbst, dass er süchtig danach gewesen sei. Seit 2013 macht er allerdings eine Würfelpause.

"Ich hatte kurzen Briefkontakt mit George Cockcroft, der mich davor warnte, dass man sich damit schnell auf dünnes Eis begibt", sagt Araz. "Wenn du aber einen kalten Entzug machen willst, klappt das oft nicht. Deswegen habe ich gesagt: 'Wenn ich eine Fünf würfle, lege ich eine Würfelpause auf unbestimmte Zeit ein.' Natürlich lag dann die Fünf oben." 

Anzeige

"Am Anfang war das Würfeln für mich nur ein Spaß, aber mit der Zeit hat es immer mehr Bedeutung bekommen", sagt Araz. "Irgendwann ging es dabei vor allem darum, Veränderungen anzunehmen. Die Würfel prägen dich und werden ein Teil von dir. Trotzdem mache ich weiter eine Pause."

Einmal rollte Araz in seiner Londoner Wohnung die Würfel und setzte sich danach in den nächsten Flieger nach Berlin, um im Berghain die Nacht durchzufeiern. Ganz unbekümmert verstieß er dort auch gegen das strenge Fotoverbot.

"Die Türsteher erwischten mich und sprachen mir ein lebenslanges Hausverbot aus", sagt Araz lachend. "Ich bereue nichts. Das Würfeln war für mich eine Abwärtsspirale – aber eine gute."

"Ein anderes Mal bin ich für eine Trommel-Session in einen Friedhof hier in London eingebrochen. Danach bin ich mit einem riesigen Kruzifix in der einen und einer Bongotrommel in der anderen Hand wieder über die Mauer geklettert. Die Leute in einem vorbeifahrenden Bus starrten mich fassungslos an. Da wurde mir klar, dass es niemanden schert, was du machst, solange du dabei niemandem schadest."

"Zu viel Auswahl ist ein Problem in der modernen Gesellschaft."

Araz sagt, dass das Rollen der Würfel einen Augenblick der absoluten Klarheit darstelle, da sich die eigenen Wünsche oft darin zeigten, auf welches Ergebnis man hofft.

Araz' Erfahrung decke sich mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen, sagt Eva Krockow, eine Psychologin mit einem Schwerpunkt auf Urteilsvermögen und Entscheidungsfindung. Zwar erschaudere sie beim Gedanken an Der Würfler und die psychopathischen Dinge, die der Protagonist darin durch die Würfel macht, aber sie sagt auch, dass Würfel und andere Entscheidungshilfen wie ein Münzwurf dabei helfen könnten, den kognitiven Druck zu mindern und die Entscheidungsfindung zu vereinfachen. 

Anzeige

"Zu viel Auswahl ist ein Problem in der modernen Gesellschaft", sagt Krockow. "Wir glauben, dass es gut ist, so viele Auswahlmöglichkeiten wie möglich zu haben. Dabei kommen wir in der Realität oft nicht damit klar, was letztendlich zu Unzufriedenheit führt. Deswegen kann man kleinere Entscheidungen ruhig willkürlich treffen, weil sie im großen Ganzen keine Rolle spielen."

Joe und Graham haben hingegen eine sehr große Entscheidung – ob sie Liverpool hinter sich lassen, um über einen Krieg in einem anderen Land zu berichten – dem Würfelglück überlassen. Das hatte für sie weitreichende Folgen: Fast 30 Jahre später sind beide heute erfolgreiche Enthüllungsjournalisten, Dokumentationsproduzenten und Autoren von mehreren Büchern.

"Als ich aus Bosnien zurückkam, war ich ein anderer Menschen", sagt Joe. "Wenn ich damals nicht gegangen wäre, würde ich heute mit Sicherheit in einer Sozialwohnung in einem Liverpooler Problemviertel leben. Das Universum bereitet einem oft Überraschungen, mit denen man klarkommen muss. Früher war ich ein Loser mit tiefen Augenringen, der nie genügend Geld für den Bus hatte. Dass ich zu dem Menschen wurde, der ich heute bin, habe ich alleine dem Rollen eines Würfels zu verdanken."

Folge VICE auf Facebook, Instagram, YouTube und Snapchat.