Das YOGTZE-Rätsel ist noch immer der mysteriöseste Mordfall der Bundesrepublik
Quelle: Screenshot Aktenzeichen XY

FYI.

This story is over 5 years old.

Tech

Das YOGTZE-Rätsel ist noch immer der mysteriöseste Mordfall der Bundesrepublik

Ein Zettel, der vielleicht eine verschlüsselte rumänische Botschaft zeigt, ein geistig verwirrter Siegerländer und ein inszenierter Autounfall sind die Zutaten eines Falls, der bis heute Ermittlern Rätsel aufgibt.

War es ein Unfall? War es Mord? Hat Günther Stoll seinen eigenen Tod mit 34 Jahren vorhergesehen? Der sogenannte YOGTZE-Fall ist bis heute ungeklärt und bietet immer noch Futter für unendliche Spekulationen unter Rätsel-Fans, Kripo-Beamten, Investigativjournalisten und Buchautoren. Die Anhaltspunkte, mit denen sich zumindest Teile der Tatnacht rekonstruieren lassen, sind ein Fernsehbericht aus Aktenzeichen XY ungelöst und diverse Artikel zu dem Fall.

Anzeige

25. Oktober 1984, kurz vor 23 Uhr: Dass Günther Stoll komisch drauf ist, beobachtet seine Frau schon länger. Liegt es daran, dass der Lebensmitteltechniker aus dem Siegerland gerade keinen Job hat? Nur leider wird er nie konkret, wenn er ihr von seiner Angst berichtet. „Die sind alle gegen mich", sagt er an diesem Abend, als die beiden in ihrem Haus in Anzhausen sitzen. Plötzlich, so berichtet es seine Frau der Polizei später, soll er gerufen haben: „Jetzt geht mir Licht auf!". Er springt auf, schnappt sich einen Zettel und notiert darauf etwas, das er gleich danach wieder durchstreichen sollte—eine geheimnisvolle Buchstabenreihenfolge, die noch heute niemand einordnen kann:

Was Günther Stoll damit sagen wollte, bleibt unklar. Auch an diesem Abend äußert er sich nicht weiter dazu—er ist zu aufgewühlt.

Weil er einfach nicht zur Ruhe kommt, schnappt er sich laut Kripo-Rekonstruktion seine Wildlederjacke und geht nochmal vor die Tür. Wie er seiner Frau zum Abschied sagte, wollte er die paar Kilometer in den Nachbarort rüberfahren und ein Bier in seiner Lieblingskneipe Papillon trinken gehen. Doch dazu kam es nicht. Kurz nachdem das Glas vor ihm auf dem Tresen steht, wird es Günther Stoll plötzlich schwarz vor Augen—er kippt vor den Augen der andern Gäste und des Wirtes rückwärts vom Stuhl, kracht bewusstlos auf den Boden, rappelt sich aber kurze Zeit später wieder auf. Die anderen Gäste, die ihm hochhelfen, fragen Stoll, ob er vielleicht schon „ganz schön was geladen" hatte. Doch er verneint—Stoll war tatsächlich nüchtern, wie auch eine spätere Blutalkoholanalyse ergab.

Anzeige

„Ich war kurz weg", erklärt er dem Wirt verblüfft. Der gibt ihm einen Orangensaft und einen kleinen Schnaps für den Kreislauf und verarztet noch kurz einen Kratzer unter seinem Auge, den sich Stoll bei seinem Blackout eingefangen hatte. Trotz der Fürsorge hielt es den unruhigen Mann nicht mehr lange in der Gesellschaft anderer Kneipengänger: Er verlässt die Bar mit seinem Auto. Das Bier trinkt er nicht aus. Zwei Stunden lang verschwindet Stoll. Auch im Nachhinein kann niemand rekonstruieren, wo er sich in dieser Zeit aufhielt.

Entstand seine Furcht nur aus seinem Unterbewusstsein oder einer akuten Paranoia? Oder wusste er ganz genau, wovor er solche Angst haben musste?

Vom Papillon bis zu Stolls Geburtsort Haigerseelbach sind es nur 15 Kilometer. Erna Hellritz schläft schon, als jemand gegen 1 Uhr nachts bei ihr Sturm klingelt. Die damals 76-jährige, als sehr religiös bekannte Frau ist eine Nachbarin von Stolls Eltern in Haigerseelbach und kennt Günther schon, seitdem er ein kleiner Junge ist. Nun steht er urplötzlich sichtlich verstört mitten in der Nacht vor ihrer Tür und bettelt eindringlich um ein Gespräch. Auch ihr gegenüber deutete er seine dunklen Vorahnungen an: „Heute Nacht passiert noch was. Was ganz Fürchterliches!" Doch weil der ungebetene Gast verwirrt oder betrunken schien und es schon so spät war, ließ ihn die alleinstehende Rentnerin nicht in ihr Haus und riet ihm stattdessen, doch lieber seine Eltern um Hilfe zu bitten oder einfach zu seiner Frau zurückzukehren. Er schien Letzteres für eine gute Idee zu halten und stieg, offensichtlich etwas ruhiger, wieder in seinen Golf.

Anzeige

Weitere zwei Stunden vergehen, in denen niemand weiß, wo sich Günther Stoll aufgehalten hat.

Drei Uhr morgens. Auf der Autobahn A45, der „Sauerlandlinie", sind nun vor allem Gütertransporte unterwegs. Zwei Lastwagenfahrer auf dem Weg ins Ruhrgebiet passieren nur wenige hundert Meter voneinander entfernt das Frankfurter Kreuz, als ihnen plötzlich ein Golf auffällt, der von der Straße abgekommen und in die Böschung gecrasht sein musste. Beide Lastwagenfahrer werden später unabhängig voneinander aussagen, dass ihnen ein junger, blonder Mann in heller Kleidung mit vielleicht blutigem Jackenärmel auffiel, der um den Wagen herumging und einen verletzten Eindruck machte. Beide halten an, um zu helfen. Der Brummi-Fahrer Meffert stoppt zunächst an einer Telefonsäule und schildert der Autobahnmeisterei, auf welchem Stück sich der liegengebliebene Wagen befindet. Als er zum Autowrack hinüberrennt, ist der zweite Lastwagenfahrer schon an der Unfallstelle.

Den beiden bietet sich ein höchst bizarres Bild: Auf dem Beifahrersitz des Wracks liegt Günter Stoll, nackt, schwerverletzt und blutend. An seinem Körper klebt Laub. Sein linker Arm ist fast abgerissen, doch er ist noch bei Bewusstsein. Neben ihm im Fußraum stehen ordentlich seine Schuhe, ansonsten fehlen seine Kleider im zerbeulten, hellblauen Golf. Der Zündschlüssel ist abgezogen und liegt hinten auf der Hutablage.

„Es waren vier dabei", teilt der Verletzte dem LKW-Fahrer noch mit, der ihn findet. „Wo sind denn die anderen?", fragt der zurück. „Die sind abgehauen", ächzt Stoll.

Anzeige

„Deine Freunde?", fragt der Fahrer ungläubig zurück. „Nicht meine Freunde!", sagt Stoll.

Mehr kann er nicht mehr preisgeben. Er stirbt noch auf dem Weg ins Krankenhaus.

Die Obduktion sollte später eindeutig ergeben, dass er bereits nackt an einem anderen Ort von einem fremden Auto überfahren wurde. Dann erst wurde er in seinem Wagen zu der Fundstelle gefahren. Doch wieso ist sein Auto überhaupt von der Fahrbahn abgekommen? Und wer hat ihn gefahren?

Als Eduard Zimmermann ein halbes Jahr später in der Fernsehsendung Aktenzeichen XY ungelöst über den Fall berichtete, war die Resonanz aus der Bevölkerung riesig. Über 170 Hinweise gingen ein; doch keiner der Tipps half den Ermittlern bei der Aufklärung weiter. Ein Anhalter, den Zeugen in dieser Nacht Zeit nach einer Mitfahrgelegenheit in die entgegengesetzte Richtung suchen sahen, bleib verschollen. Der Mann mit heller Kleidung und verschmutztem Jackenärmel, den die beiden Lastwagenfahrer von der Fahrbahn aus entdeckten, tauchte ebenfalls nie wieder auf.

Und selbst den Zettel mit der mysteriösen Botschaft YOG'TZE konnten die Ermittler nicht als Beweisstück sicherstellen, weil ihn Günthers Frau angeblich noch in dieser Nacht weggeworfen hatte.

Fast 32 Jahre nach dem mysteriösen Fund beschäftigt der Fall professionelle und weniger professionelle Detektive noch immer. Auf allmystery.de diskutieren eifrige Nutzer über potentielle Verstecke in der Gegend („sieht mir sehr zerklüftet aus") und erstellen eigene Google Maps, auf denen alle wichtigen Orte des Geschehens verzeichnet sind. Auch international rätseln Menschen auf Reddit und anderen Stellen im Netz enthusiastisch über den seltsamen Mordfall (oder Unfall?).

Bis heute gibt es rund um den gruseligen Tod so gut wie keine weiteren gesicherten Erkenntnisse. Selbst wenn man annimmt, dass Günther Stoll unter einer milden Psychose und Verfolgungswahn litt, erklärt das noch lange nicht, wer ihn außerhalb seines Autos überfahren und mit seinem eigenen Golf an die A45 gebracht hatte—und welches Motiv der oder die Täter hatten. Klar ist, dass die wiederholten Ankündigungen eines drohenden Unheils und die Unruhe Günther Stolls selbst einem Notizzettel ungeheures Gewicht verleihen; selbst, wenn die Lösungsansätze nicht weiter reichten als bis zu dem Hinweis, es könne sich um einen rumänischen Funkspruch handeln, wenn man das G als 6 liest, wie Leser eines deutschen Krypto-Blogs vermuten.

Wie die Siegener Zeitung Anfang dieses Jahres berichtete, ruft noch heute fast jeden Tag ein Hobby-Ermittler bei der Kripo Hagen an und will den entscheidenen Hinweis zu dem unheimlichen Fall oder einen seiner vielen mysteriösen Ungereimtheiten gefunden haben: Was YOG'TZE bedeutet, wie Stoll an seinen Fundort gebracht wurde, ob es, wie ein Kommissar 1985 bei Aktenzeichen XY spekulierte, Leute „aus der Rauschgiftszene" waren, die Günter Stoll in einem früheren Urlaub in Holland kennengelernt hatte: niemand weiß es. Der Kriminalhauptkommissar Ulrich Kayser von der Mordkommission Hagen hofft auch 2016 noch auf Asservate, aus denen sich DNA-Spuren extrahieren lassen, die Aufschluss über den Tathergang liefern könnten.