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Noisey Blog

Ich habe an Konzerten gelernt, allein zu sein – und ihr solltet das auch

Alleinsein ist mühsam und manchmal sehr einsam – Konzerte erinnern dich daran, dass es allen so geht.
Foto: Pixabay/mikewallimages CC0

Als Jeans for Jesus früher "Chasch guet eleini si?" aus meinen Kopfhörern sangen, dachte ich immer: Nein, ihr Ficker! Alleinsein ist anstrengend, man fühlt sich schnell einsam. Und einsam zu sein heisst schnell, verzweifelt zu sein. Es erfordert Mut, Unabhängigkeit und Selbstsicherheit, und das ist alles so mühsam. Wer traut sich das und wie bitte soll das funktionieren? Diese Fragen kann ich heute beantworten und aus eigener Erfahrung sagen: Jeder kann das, aber du musst es leider üben. Zum Beispiel an Konzerten.

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Warum tu ich mir das an?

Wie bei Alkoholikern, die den ersten Schritt machen, indem sie sich zu ihrer Sucht bekennen, musste ich zugeben, dass ich ein Problem hatte: Ich bekannte mich zu meiner Abhängigkeit von anderen Menschen und meiner Angst vor dem Alleinsein. Wenn da niemand anderes ist, bist du allein mit deinen Gefühlen und Gedanken. Wer sich vor allem darauf konzentriert, was andere denken, wird schnell von seiner Umgebung abhängig. An Konzerten heisst das konkret: Dein Abend ist davon abhängig, wie die andere Person das Konzert findet oder ob ihr zusammen eine schöne Zeit habt. Die Musik und der Moment werden zweitrangig. Ohne die passende Begleitung ging ich früher gar nicht erst an ein Konzert. Ja nicht aus der Komfortzone bewegen – alles ist besser, als vor Ort allein zu verzweifeln. Aber irgendwann hatte ich so viele Bands verpasst, dass meine Reue grösser wurde als meine Angst. Mir sind Künstlerinnen entgangen, für die ich jetzt meine ungeboren Kinder opfern würde.

Das "erste Mal"

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und ging zum ersten Mal solo an ein Konzert. Heisskalt hiess die Gruppe, die in ihrem Song "Angst hab" singt: "Ob ich Angst hab? Natürlich hab ich Angst. Wir alle haben Angst. Die Angst beherrscht uns und wenn du keine Angst hast, siehst du nicht genau genug hin." Für mein "erstes Mal" wählte ich allerdings einen vertrauten Ort: ein Lokal in meiner Heimatstadt Winterthur, das Gaswerk. Natürlich auch ein bisschen mit der Hoffnung, dass ich dort jemanden treffen würde, den ich bereits kenne. Tat ich aber nicht. Da waren lauter Leute, die ich noch nie gesehen hatte.

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Schon komisch, wenn du ganz allein rumstehst. Normalerweise hast du jemanden, um dich auszutauschen und, ganz wichtig, anzustossen. Und irgendjemand muss ja dein Bier halten, wenn du ins Zigarette-rausnehmen-wo-ist-jetzt-mein-verdammtes-Feuerzeug-Dilemma kommst. Wieso hat der Mensch nur zwei Hände? (OK, eine dritte Hand wäre nutzlos, die wäre wahrscheinlich konstant am masturbieren, haben meine Freunde und ich mal festgestellt.) Dann erinnere ich mich: Eigentlich bin ich ja wegen der Musik hier.

Und sobald das Konzert beginnt, bin ich nicht mehr allein. Da sind jetzt diese schönen Wesen auf der Bühne und heizen den Raum auf. Die Musik flutet mich und ich vergesse für einen kurzen Moment meine vereinzelte Existenz. Da sind nur noch ich, die Musik und das Publikum. Plötzlich hat das Alleinsein nur noch Vorteile: Ich muss auf niemanden Rücksicht nehmen, der lieber nicht so weit vorne steht wie ich. Ich muss niemanden suchen, telefonieren oder Nachrichten verschicken. Es spricht niemand mit mir, wenn die Bassistin gerade ihr Solo spielt. Da bin nur ich und mich kennt hier niemand. Also ist es auch egal, ob und wie ich tanze.

Traurig, aber wahr: Den anderen bist du (meistens) egal

Wenn du allein irgendwo bist, werden deine eigenen Gedanken plötzlich ganz laut – von deiner Angst und Unsicherheit verstärkt – und du überlegst dir: Was denken die anderen über mich? Denken sie, ich bin einsam und verzweifelt? Verurteilen sie mich dafür, dass ich keine Freunde dabei habe? Wie komisch wirke ich auf einer Skala von eins bis zehn? Solange du niemandem diese Fragen stellst, gibst du dir die Antworten selber: Ja, die anderen halten dich für einsam, sie verurteilen dich und finden dich komisch. Aber du vergisst eine wichtige Sache: Die anderen denken auch so. Alle sind nur mit sich beschäftigt. Du bist ihnen ziemlich egal. Wahrscheinlich bemerken sie dich nicht einmal.

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Wenn du das akzeptiert hast, kannst du vielleicht die Perspektive wechseln und dir stattdessen überlegen, was du über die anderen denkst. An einem Konzert merkst du schnell: Eigentlich sind alle Menschen hier potenzielle Freunde, denn die Floskel "auf der gleichen Wellenlänge sein" kommt nicht einfach irgendwoher. Alle hier haben schon mal eine wichtige Gemeinsamkeit: Sie finden die gleiche Band gut. Klar, das heisst jetzt noch nichts. Aber es ist schon mal ein Anfang. Auch für ein Gespräch: "Wie findest du die Band?" oder "Hat dir das Konzert gefallen?" hat Bezug zum Moment und ist trotzdem persönlich. Und diese Fragen sind um einiges interessanter als "Und, was machst du so?". Wenn das Gesprächsthema so offensichtlich ist, brauchst du nicht mehr so viel Mut, um Fremde anzusprechen.

Musik hilft dir dabei, dich zu erinnern: Alle fühlen sich mal verzweifelt und einsam

Konzerte sind für mich nicht nur Beschäftigung, sondern Therapie. "This is where I heal my hurts", wie es bei Faithless so schön heisst. Egal in welcher Stimmung ich bin, Musik hilft mir, mich selbst auszuhalten. Auf der Bühne stehen Menschen, die zum Ausdruck bringen können, was für dich sonst nur Eindruck ist. Der passende Soundtrack hilft bei allem: Du kannst in Selbstmitleid baden, bis du schrumpelige Finger hast. Du kannst schreien, stampfen und völlig eskalieren – weil endlich jemand genug laut ist, um deine Wut und Frustration zum Ausdruck zu bringen. Musik hilft dir, dich selbst zu vergessen, weil Bass und Melodie deinen Körper so fluten, dass da keine Zeit mehr ist, um überhaupt zu denken. Oder du kommst in einen tranceähnlichen Zustand, hast das Gefühl zu schweben.

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Und das Wichtigste: Musik kann dir auch dabei helfen, dich zu erinnern. An alles, was du schon erlebt hast, und daran, dass du mit deinen Problemen nicht allein bist. Liebeskummer, Angst, Sehnsucht, Hoffnung, Wut, Frustration und Trauer – egal wie sehr wir uns wehren, wir fühlen diese Dinge alle. Nur wenn du dich in Gedanken isolierst, wird es so richtig einsam. In einer abgekoppelten Existenz kannst du verzweifelt werden und den Glauben ans Leben verlieren.

Eine traurige Wahrheit, die sich auch gesellschaftlich in steigenden Gesundheitskosten äussert. Denn soziale Isolation ist auch ein Hauptgrund für Depressionen und andere psychische Krankheiten. In einer Umfrage zum Thema Einsamkeit von 2012 gaben je nach Altersgruppe 24 bis 40 Prozent der Befragten an, sie würden sich manchmal einsam fühlen – bei den 15- bis 34-Jährigen sind die Werte am höchsten.

Mit steigendem Alter wird es leider nicht besser. Wer kennt nicht die Senioren, denen man ansieht, dass sie niemanden mehr zum Reden haben? Deshalb lautet mein Rat: Übe das Alleinsein jetzt schon. Gewöhne dich daran, dass nicht immer jemand da ist, der dir zur Seite steht. Sonst verpasst du sicher viele schöne Stunden, denn deine Freunde haben nicht unbedingt den gleichen Geschmack oder geben ihr Geld lieber für andere Dinge aus als du. Geh an Orte, an denen du dich wohl fühlst. Es muss auch keine Konzerthalle oder ein Festival sein. Sei nicht so streng mit dir und sprich auch mal mit Fremden. Am Anfang fällt das allen schwer, aber wenn die Situation stimmt, ist das Gesprächsthema offensichtlich. Und Musik eignet sich da sehr gut.

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Wenn du nicht mehr weiter weisst, teil dich mit. Andere Menschen können nicht wissen, wie du über die Veranstaltung, Musik oder das Leben denkst. Du wirst überrascht sein, wie oft es anderen ähnlich geht und wie schön es ist, wenn jemand sagt: "Ach, danke. Ich hab schon gedacht, ich wäre der Einzige." Schon komisch, dass es etwas Beruhigendes hat, mit der Einsamkeit nicht allein zu sein. Du bist nie allein, denn die menschliche Existenz mit all ihren schönen und schlimmen Gefühlen verbindet uns – vor allem an Konzerten.



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