"Wir leben in Zeiten der Solodarität"—Realtalk mit dem Mann hinter Müslüm
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Interviews

"Wir leben in Zeiten der Solodarität"—Realtalk mit dem Mann hinter Müslüm

Der Berner Semih Yavsaner singt als Müslüm von "Süpervitaminen" und "La Bambele" und tritt für Solidarität und Nächstenliebe ein. Er wünscht sich von seiner Figur mehr Radikalität.

Ein ziemlich trostloser Winternachmittag im Untergeschoss des Café Kairo im Berner Lorraine Quartier. Draussen ist es kalt und grau, drinnen verrinnt die Zeit zähflüssig. Der Hausmeister steht auf einer Leiter und kontrolliert die Scheinwerfer, die hier normalerweise die auf der kleinen Bühne stattfindenden Lesungen und Performances ausleuchten. Die Performance, die in der Sofaecke stattfindet, fangen sie für einmal nicht ein. Dort sitzt Semih Yavsaner, 37, der Erschaffer der schweizweit bekannten Figur Müslüm, in unmittelbarer Nähe aufgewachsen, und redet sich in einen Rausch—über die asozialen Medien, die toten Geräte, die wir liebevoll streicheln, das Künstlertum und das Schweizer Medien- und Musikgeschäft. "Weisch was i meynä?", fragt er zwischendurch immer wieder mal ganz rhetorisch. Auch ein breites "äuääää" streut er öfter mal ein.

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Noisey: Ich bin überrascht, dass du bereit bist, hinter deiner Figur hervorzutreten. Müslüm müsste man doch eigentlich nicht erklären, oder?
Semih Yavsaner: Müslüm ist als Figur beschränkt. Aber ich habe dank ihm die Möglichkeit, sehr viele Leute zu erreichen. Und ich nutze jede Möglichkeit, das zu tun. Auch in differenzierter Form, als Semih. Man muss die Diskussion suchen. Hier im Café Kairo muss ich niemandem die Welt erklären. Hier ticken alle ähnlich, sind solidarisch, leisten ihren Teil.

Aber hattest du von Anfang an geplant, auch als Semih aufzutreten?
Ich habe nichts geplant. Nichts. Darum ist es auch so gut rausgekommen. Weil ich keine Erwartungen hatte. Ich habe das aus einer Selbstverständlichkeit heraus gemacht. Mir war klar, die Menschen genau diese Selbstverständlichkeit wiedererkennen würden. Dass sie das fühlen würden.

Gibt es Sachen, die Müslüm nicht mitmachen würde?
Klar, ganz viele. Die Kontrolle über meine Kunst abzugeben zum Beispiel. Etliche Rapper kollaborieren mit Red Bull. Ich frage mich immer wieder: Wieso macheder das, Gielä? Wieso macht ihr euch abhängig? Dadurch wird die heilige Kunst mit einem Schlag neutralisiert. Und ihr seid euch dessen nicht mal bewusst. Ich finde das nicht geil, wenn man den Leuten irgendwas andreht, bei dem sie das Gefühl haben, sie kriegen Flügel. Dabei ist es einfach ein überzuckertes Zusatzstoff-Süppli. Es wäre schön, wenn die Leute etwas bewusster handeln würden. Aber aktuell handelt man nur, wenn man eine Belohnung erwartet.

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Du meinst damit "Likes".
Ja, es ist die Zeit der Solodarität, nicht der Solidarität. Solodarität finde ich ein schönes Wort. Daraus würde ich gerne ein Bühnenprogramm entwickeln. Jeder hat das Gefühl, er trage etwas zur Gemeinschaft bei. Aber eigentlich ist das alles nur solodarisch. Ein Buchstabe geändert—und schon wird klar: Eigentlich unterstützt man sich immer selber. Wenn die Leute auf Facebook immer so viel Anteilnahme zeigen, wenn jemand gestorben ist—um wen geht's da eigentlich? Da haben wir uns vom Thema Migration aber schon etwas entfernt.
Ganz ehrlich? Das Thema Schweizer oder Ausländer langweilt mich. Dass man das, was selbstverständlich ist, noch erklären muss, finde ich müssig. Ich bin hier geboren und hier aufgewachsen, weisch was i meinä? Dass ich ständig darauf reduziert werde, ist ein Witz. Stattdessen können sich hier Geschwüre ausbreiten, über die niemand redet. Die Smartphones und iPhones zum Beispiel, die das menschliche Dasein auf 15 cm reduzieren. Die Menschen halten den Kopf ständig so, als würden sie sich schämen. Sollten sie vielleicht auch, denn sie sind Firmen wie Apple oder Samsung auf den Leim gegangen. Und gleichzeitig haben sie das Gefühl, sie würden die ultimative Freiheit geniessen. Dabei schauen sie in einen toten Gegenstand, den sie widerlicher Weise auch noch ständig streicheln.

Du siehst uns als Spielball der Industrie?
Du uns nicht? Dann heb mal den Kopf von deinem smarten Taschencomputer und schauen in die Runde: Die Industrie reibt sich ob jeder unserer vermeintlichen Entscheidungen das Handy. Wir spielen ihr in die Hände—und haben gleichzeitig noch das Gefühl, uns selbst zu verwirklichen. Das Künstlerdasein ist ein Beispiel dafür. Heute wird jedem gesagt, er sei Künstler. Jedem wird gesagt, er soll sich ein Studio für Zuhause anschaffen. Das ist der Markt heute. Ich glaube nicht, dass jeder Künstler ist. Das klingt jetzt so, als wäre ich missgünstig. Aber das bin ich nicht, im Gegenteil, ich denke, jeder ist ein Teil eines allumfassenden Kunstwerks und die Vollkommenheit liegt darin, zu finden, was einen sein lässt. Ich glaube einfach, dass jeder seine Bestimmung hat. Jedem zu suggerieren, er sei auch noch irgendwo ein Künstler, ist reine Geschäftsmacherei. Niemand sagt dir ohne Eigeninteressen: Du bist Filmproduzent, du bist Drehbuchautor, du bist Gitarrist. Die wollen, dass du ihr Kürsli besuchst. Im Kapitalismus geht es immer darum, etwas zu werden. Meiner Meinung nach, kann man nichts werden. Man ist etwas.

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Was bist du?
Ich bin Künstler—und mein Auftraggeber ist die Kunst persönlich. Und es hat lange gedauert, bis ich diese Hierarchie akzeptiert habe. Vor allem, bis ich das nötige Selbstvertrauen hatte, um Dinge auf den Punkt zu bringen und durchzuziehen. Der Schlüssel dafür war ein Traum

Ein Traum?
Ja, ein Traum. Vor etwa sechs Jahren. Es ist schwer zu erklären, aber ich träumte, ich sei eine Melodie. Das war das erhabenste Gefühl, das ich je hatte. Ich wachte auf und alles machte auf einmal Sinn. Meine Unsicherheit war weg. Mit einem Mal war ich in der Lage, Dinge durchzuziehen. Wie eben die Sache mit Müslüm.

Wieso hat Müslüm Erfolg?
Weil er ist. Weil er einfach selbstverständlich ist. Weil er keinen Konventionen gehorcht.

Musikalisch wiederholt er sich.
Natürlich muss die Musik einen Wiedererkennungswert haben. Bei Müslüm sind es diese orientalischen Streicher. Und er muss eine möglichst universelle musikalische Sprache finden. Aber wirklich wiederholt hat er sich noch nie.

Textlich ist Müslüm sehr kreativ. "Schöggeler" zum Beispiel, die Hymne an die Schweiz. Oder "Glaub nicht alles". Dafür hast du gängige Sprichwörter abgeändert. Beim ersten Hören bemerkt man kaum, dass da etwas nicht stimmt.
Stimmt. Viele krallen sich an diesen Floskeln fest. Was bedeuten sie schon? Das ist doch Geschwafel. Um das aufzuzeigen, habe ich sie ein bisschen umgebaut. Es braucht ganz wenig, dann bedeuten sie etwas völlig Anderes. "Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser" zum Beispiel. Das hat übrigens vor ein paar Wochen einer auf die Lorrainebrücke gesprayt. In ganz grossen Lettern. Ich habe gedacht, ich spinne.

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Wie entstehen solche Konzepte?
Das war eine Eingebung. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Nie. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, die Alben von Müslüm seien Konzeptalben und ich hätte mir gross Gedanken gemacht.

Hat dich das Popding mittlerweile vereinnahmt?
Vereinnahmt? Nein. Müslüm macht einzigartige Musik. So etwas wie Apochalüpt findest du nirgends.

Aber du läufst ja auch brav bei den Swiss Music Awards über den roten Teppich.
Keine Angst, wenn ich gewonnen hätte, wäre meine Botschaft klar gewesen. Ich wäre eingestanden für alle, die etwas machen, das echt ist. Ich wäre hingestanden für die, die keine Stimme haben. Gegen wen hast du verloren?
2013 gegen Luca Hänni. Er hat sich mit seinem Album My Name is Luca gegen Süpervitamin durchgesetzt. Das sagt doch eigentlich schon alles. Für mich persönlich ist das kein Problem. Ich sehe dahinter. Das Problem ist nur: 99 Prozent da draussen schnallen das nicht und sehen mich deswegen als Verlierer.

Was ist deine Kritik an den Swiss Music Awards?
Die Gleiche wie an der eintönigen Schweizer Mainstream-Radiolandschaft: Das ist doch eine abgekarterte Sache. Der grösste Teil der Leute, die in diesem Komitee sitzen, hat kein Rhythmusgefühl und trifft keinen Ton. Das ist wie bei Social Media: Wer sich dem Scheiss hingibt, macht ihn erst wahr. Sonst hätte der Scheiss ja keine Existenzgrundlage. Darum: Jeder, der die Möglichkeit hat, da oben zu stehen, sollte denen ans Bein pissen,  die einen auf Hierarchie geben. Denn Kunst kennt keine Hierarchie. Markiert mal einen! Nicht weil man gegen irgendetwas sein sollte. Es ist einfach eine Riesenblase—und die gehört benannt. So ein Award kann mir gestohlen bleiben. Der Künstler hat die Möglichkeit, die Gesellschaft ohne Kapital zu verändern. Das ist die höchste Belohnung und höchste Erfüllung. Das ist der Award der ewig währt. Von wegen nichts währt ewig! Wie weit bist du auf dem Weg?
Musikalisch weiss ich, was ich will. Ich weiss auch, wo ich mit dem dritten Album hinwill.

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Wohin?
Kann ich dir nicht sagen. Sonst wird's ja nicht kommen. Das wäre ja, wie wenn ich dir sagen würde: Morgen Abend werde ich mich in eine Frau verlieben, die 1.80 m gross ist. Du darfst es zwar erwarten, aber nicht konkret machen. Es wird von selber immer konkreter, immer konkreter. Irgendwann formt sich dann deine Traumfrau in Form eines Albums. Aber dieser kreative Prozess ist extrem fragil. Man muss ihm gegenüber voll demütig sein.

Hat schon jemand Müslüm Paroli bieten können?
Ich betrachte das nicht als kompetitives Ding. Ich wünschte mir zum Beispiel, das Schweizer Fernsehen wäre in Bezug auf mein Format "Müslüm Television" ein bisschen offener gewesen für das Aufeinanderprallen von verschiedenen Meinungen. Stattdessen hat man alle Reibung neutralisiert. Ich hatte zum Beispiel Erich Hess als Gast und habe mit ihm auch ganz brisante Sachen diskutiert. Aber das haben sie schlussendlich einfach rausgeschnitten. Das hat mich sehr enttäuscht.

Die Quoten von "Müslüm Television" waren nicht schlecht.
Wir hatten die besten Quoten von allen drei neuen Comedy-Formaten – und zwar mit Abstand. Dabei war "Müslüm Television" ursprünglich nur als Webserie geplant. Da liegt es einfach in der Natur der Sache, dass unser Konzept nicht als Late-Night-Show funktionieren kann. "Deville" hat dagegen ein Format, das 1:1 massgeschneidert ist für den Slot.

Du würdest also gerne weiter beim SRF arbeiten—trotz der Zensur?
Ich würde gerne eine Sendung machen, bei der ich völlige Freiheit hätte. Wo man einfach mal drauflos könnte. Wo nicht irgendwelche selbsternannte Produzenten kommen und mir sagen, was ich zu tun habe. Dann würden nämlich alle profitieren. Dann wäre es eben echt. Dann würde ich mit einem Blocher ein Gespräch über ganz, ganz essentielle Sachen führen können. Das wäre hoch unterhaltsam. Aber dafür muss man offen sein. Das SRF muss sich dringend neu erfinden. Es muss auch mal Meinungen zulassen, Dinge passieren lassen. Diesen neutralen Gedanken müssen sie wirklich ablegen. Mir sitzt jetzt schon über eine Stunde Semih Yavsaner gegenüber und sprudelt voller Idee und kontroverser Aussagen. Aber heisst das nicht auch, dass die Figur des Müslüm limitiert ist?
Ja doch, eh! Das ist ja die grosse Herausforderung.

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Wo liegt die Grenze genau?
Das ist verdammt schwierig zu sagen. Die wird immer fliessender. Wenn ich live unterwegs bin, improvisiere ich zwischen den Liedern sehr viel. In letzter Zeit denke ich immer öfter: Shit, das ist jetzt schon fast Semih, nicht mehr Müslüm. Was sind das für Momente?
Eben genau, wenn ich so gesellschaftskritisch werde. Kürzlich hat Müslüm sein Publikum gefragt: "Warum ist es eigentlich legitim, dass wir uns wildfremde Gegenstände in unsere Körper rammen? Silikon, Botox, Gesichter aufspritzen. Warum ist das legitim und warum ist die Begegnung nicht legitim?"—da habe ich mich auch gefragt: Wo ist der Typ, der mal Telefonscherze gemacht hat und wildfremde Leute gefragt hat: "Du wotsch Schläge?" (lacht) Wieso hast du das mit den Telefonscherzen damals eigentlich abgebrochen?
Weil alles seine Zeit hat. Der damalige 105-Chef wollte mir die Rechte an meinen Telefonscherzen unbedingt abkaufen. Ich hatte damals eine Diskushernie, konnte nicht mehr laufen und bin gerade Vater geworden. Trotzdem habe ich abgesagt. Und weisst du wieso?

Nein.
Weil ich wusste, ich würde jetzt ein Lied schreiben, das "Erich Hess" heisst. Und dann ging's ab. Von Zero to Hero. Aus solchen Notsituationen entsteht eben diese Kraft.

Was ist im Moment dein "Süpervitamin"? Was verleiht dir Energie?
Meine Konzerte, nach wie vor. Ich bin extrem gerne auf der Bühne. Ich mag vor allem die intimen Sachen. Die Massenanlässe sind nicht meine Sache. Da stehen die meisten nur grölend vor der Bühne und schreien "La Bambele! Spiel endlich La Bambele!"

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Wann schlägt Müslüm eigentlich wieder zu?
Mal sehen. Zwischendurch muss es auch mal still sein. Genau aus dieser Stille entsteht dann wieder was. Booom! Da kommt dann ein Riesengeschenk völlig aus dem Nichts.

Was wünschst du dir für das dritte Album?
Von mir selber noch mehr Authentizität und noch weniger Rücksicht auf Airplay. Ich möchte versuchen, inhaltlich wie musikalisch einen Lösungsvorschlag bereitzuhalten. Sehr konkret, aber nicht so moralisch, immer noch spielerisch. Ich möchte eine Mitte finden zwischen dem hyperpositiven Süpervitamin und dem hypernegativen Apochalüpt.

Haben wir noch was vergessen?
Wir haben sicher noch was vergessen. Zum Beispiel die Schweizer Nationalhymne. Du willst jetzt die Nationalhymne singen?
Ja, aber die neue, die einzig legitime: "Orang Utan". Breel Embolo, Gökhan Inler, Granit Xhaka—sie alle feiern Müslüm. Die hören seine Musik vor jedem Spiel. Wenn man schon so eine multinationale Truppe hat, dann sollte man ein Statement setzen. "Trittst im Morgenrot daher"—welcher Ausländer tritt schon freiwillig im Morgenrot daher? Wenn ihr euch schon dafür entschieden habt, dass elf Migranten für euch die Trophäen holen sollen, dann gebt ihnen doch bitte auch eine angemessene Hymne!

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