Aufwachsen in Chur
Seriöse Rap-Musiker: Thom, Gimma, Ali de Bengali und Claudio | Alle Fotos bereitgestellt vom Autor

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Aufwachsen

Aufwachsen in Chur

Berge und Wälder und irgendwo dazwischen ein paar euphorisierte Teenager, die Rap und Berge und Wälder mögen. Willkommen in Chur.

Vielleicht kennt ihr die mittelalterliche Altstadt Churs, in der sich die Häuser Mauer an Mauer schmiegen – sie haben einander gewärmt im Schatten der Berge, sind im Stehen eingeschlafen und schon lange nicht mehr aufgewacht. Vielleicht kennt ihr von der Vorbeifahrt in den Urlaub die Sichtbetonsilhouette der Hochhausquartiere. Vielleicht fällt euch ein erfolgsarmer Eishockeyclub ein, wenn ihr an Chur denkt. Vielleicht die Kunst von H. R. Giger. Bestimmt kennt ihr unseren Dialekt. Er klingt, als würden wir, anstatt zu sprechen, lieber romanische Volkslieder singen. Masans hingegen kennt ihr wahrscheinlich nicht. Dort bin ich aufgewachsen.

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Masans lag über Jahrhunderte ausserhalb der Stadtmauern: ein paar versprengte Höfe, ein paar Weinberge, eine winzige Kirche. In den 60er Jahren begannen Kleingewerbler und städtische Beamte, ihren bescheidenen Wohlstand in Einfamilienhäuser zu verbauen und Masans zu bevölkern. Als ich zur Welt kam, waren die Beamten in meiner Nachbarschaft allesamt pensioniert – beste Voraussetzungen für eine aufregende Kindheit. Wenigstens spielte ab und an die Stadtmusik in einem der drei Masanser Altersheime. Die Eltern der wenigen anderen Kinder im Quartier arbeiteten dort als Pflegerinnen und Pfleger; sie hatten sich in den Blocks am äussersten Stadtrand eingemietet.

Peters Eltern waren aus Holland. Am zweiten oder dritten Kindergartentag erklärte er mir fachmännisch, wie man mit Schnur, einem Haselstock und einem spitzen Stein eine Lanze herstellt. Er versteckte die Bestandteile in einer Hecke und wollte sie in der Pause zusammenbasteln, um damit Vlada, mit dem er bereits in Fehde lag, einzuschüchtern – oder abzustechen. Vlada, ein Jahr älter als wir, erklärte mir dann in der Pause fachmännisch und mit Peter im Schwitzkasten, wie man seinem Kontrahenten den Ellbogen in die Rippen bohrt. Freunde!

Schon damals war ich ein Easy Rider

Wenn ich heute meine Eltern besuche, rennen mir in Masans ganze Banden von Primarschülern entgegen. Die letzten Weinberge sind bereits mit Siedlungen überbaut. In den letzten Obstwiesen ragen die Profile über die Kirschbäume. Dass die Stadt es versäumt hat, im Quartier öffentliche Plätze zu planen, tut seiner Beliebtheit bei obermittelständischen Familien keinen Abbruch. Der öffentliche Raum ist der nahe gelegene Fürstenwald. Mein altes Primarschulhaus ist ausgebaut worden. Dafür musste die Hälfte des roten Tartanplatzes dran glauben: doppelt so viele Schüler auf einem halb so grossen Fussballfeld.

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Jede Minute, wirklich jede Minute, die wir nicht im Schulzimmer verbrachten, verbrachten wir auf dem roten Platz. Unsere Schuhe färbten sich rot. Unsere Hosen färbten sich rot. Unsere aufgeschundenen Knie färbten sich rot. Die Lederbälle hielten kein Semester. Nach wenigen Wochen ging ihnen abgewetzt vom rauen Untergrund die Luft aus. Die hölzernen Handballtore, auf die wir Fussball spielten, waren ungleich hoch. Wir traten Klasse gegen Klasse an. Ohne Schiedsrichter. Fast immer ohne Schlägereien. Im Herbst trug die gesamte Stadtschule unter allen Schulhäusern eine Meisterschaft aus. Das Trikot mit der Aufschrift "Churer Schülermeister 1996" ist das älteste Kleidungsstück in meinem Schrank – und noch immer eine Nummer zu gross.

Später meinte mein Vater, dass ich mir den Applaus wohl eher auf einer Bühne hole

Mit den anderen Schulhäusern gemessen haben wir uns auch auf der Maiensässfahrt. An diesem Churer Traditionsanlass wandert die gesamte Stadtschule einmal jeden Frühling in die Hausberge um Chur.

In den Wiesen und Wäldern über der Stadt errichteten wir Baumhütten, häuften Totholz zu Lagerfeuern, brieten Schlangenbrot am Spiess. Vor allem aber zettelten wir Tannzapfenschlachten an, grobe Tannzapfenschlachten – mit Gefangenen und Verletzten. Die Menschheit im Naturzustand. Ich persönlich war nicht unbedingt ein Naturbursche. Klar gab ich mir Mühe, die Gegner aus den anderen Schulhäusern am Kopf zu treffen, doch war ich mehr damit beschäftigt, Wespen und Ameisen abzuwimmeln. Am lebendigsten erinnere ich mich an den Rachenschmerz, nachdem ich mich auf dem Heimweg an Instant-Eisteepulver verschluckt hatte.

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Chur ist eine geteilte Stadt. Die Quartiere sind sozial kaum durchmischt und die Biografien der Kinder aus den Arbeiterquartieren in der Rheinebene unterscheiden sich markant von denjenigen aus den Sonnenquartieren mit Hanglage. Die Quoten an Gymnasiasten aus den verschiedenen Primarschulhäusern liegen weit auseinander. Doch Chur ist so klein, dass sich im Sportverein oder der Pfadi die Biografien seiner jungen Einwohner kreuzen. Einen Teil meiner Freundschaften habe ich beim FC geschlossen, den anderen Teil im – Hooray Street Credibility – Knabenchor.

Schon meine Eltern hatten sich im Gemischten Chor der Singschule Chur kennengelernt. Und dass ich trotz Unlust und Pubertät ebenfalls alle Stufen und Chöre der Singschule besuche, war ihnen so wichtig, dass sie mich dafür ohne pädagogischen Skrupel jedes Jahr bestachen. Bis zu dem Jahr, als wir Mozarts Zauberflöte aufführten. Die Probenatmosphäre im Stadttheater, musikalische Diskussionen bis tief in die Nacht und das Adrenalin vor dem Auftritt haben mich für die Bühne gewonnen.

Mit Atombunkercharme neben den bischöflichen Hof geklotzt. Vor der Renovation war die Kantonsschule Chur ein düsterer Ort: eine Gruft aus Rost, Beton und kotbraunen Kacheln. Lecke Heizungsrohre trieben den feuchten Kalk aus den grauen Wänden, sodass – ohne Witz – Stalaktiten von der Decke wuchsen. In einer leidlich mit Holz verkleideten Ecke seines Schulzimmers züchtete unser Mathematiklehrer grosse Baumpilze. "Ssie ssind die zukünftige Elite dess Kantonss!", lispelte der Konrektor zur Begrüssung am Untergymnasium über die Lautsprecher. Wir gaben uns alle Mühe, diese Erwartung zu unterlaufen.

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Indem wir das Mutterkornexponat aus der Naturkundesammlung verschwinden liessen. Indem wir uns während des Handarbeitsunterrichts auf der Toilette die Haare schnitten. Indem wir mit Silbernitrat aus dem Chemielabor den Mofasattel des Mitschülers auflösten. Indem wir im Keramikunterricht natürlich nicht töpferten, sondern mit Ton um uns warfen. Indem wir uns am Besuchstag dermassen daneben benahmen, dass meine Mutter aufstand und den Unterricht mit einer Strafpredigt unterbrach. Indem wir den Klassenkassier dazu anstifteten, das Geld für die Geometriebücher in Baggy Pants zu investieren. Indem wir begannen Spelunken zu frequentieren, die nicht auf 14-, sondern 40-Jährige ausgerichtet waren.

Das Churer Nachtleben wandelte sich in den letzten zwanzig Jahren mehr als einmal. Vom Provinzbesäufnis hin zum liberalisierten Partymekka ohne Polizeistunde hin zur Repression hin zur Langeweile zurück zur kulturellen Vielschichtigkeit. Ende der 90er Jahre interessierte unser Alter kein Schwein. Spirituosen für Unmündige waren eine unaufgeregte Selbstverständlichkeit und die Stammtische der Altstadt, die Theken des Welschdörfli nahmen uns freundlich auf. In den verrauchten Winkeln, die Joints duldeten, und den Dancings mit UV-Licht und Dosenbier dachte kaum jemand an Türsteher oder Ausweiskontrollen. In diesem Ambiente lernte ich die Jungs kennen, mit denen ich noch heute von Bühne zu Bühne tingle. Zu jener Zeit gab es mit dem Safari Beat Club in Chur zwar ein Ska-Punk-Konzertlokal mit internationalem Ruf, aber wer Rap hören wollte, musste sich selber behilflich sein.

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Wir behalfen uns mit Boxen, die schepperten, zwei Plattenspielern aus der Brocki und einer ausrangierten Polstergruppe, die wir im Keller von Valis Eltern aufstellten. Und wir hatten zwei Mikrofone! Also nahmen wir die ersten Freestyles und Strophen auf Tape auf. Die klangen technisch noch nicht sehr überzeugend, dafür schon recht überheblich, conscious und mutterbeleidigend – das reichte. Bald rappten wir auch in den Kellern und Hinterzimmern anderer Crews und gründeten schliesslich in einem umgenutzten Kuhstall Breitbild.

Unser Ehrgeiz erschöpfte sich darin, sich im Verborgenen als die Grössten zu gebärden. Doch die Bündner HipHop-Szene war lebendig und aufmerksam, wenn neue Töne erklangen. Als Gimma das erste Mal in unserem Kuhstall auftauchte, machte er uns Feuer unter dem Arsch. Nicht nutzlos rumflegeln, ab auf die Bühne, sich als Vorgruppe die Sporen abverdienen! Er organisierte Konzerte, gründete zu jener Zeit ein kleines Independent-Label und nahm uns unter seine Fittiche. Zunächst mussten wir aus unseren Strophen ganze Tracks basteln, wir standen zum ersten Mal in einer Aufnahmekabine und noch bevor wir volljährig wurden, veröffentlichten wir eine EP.

Der digitale Totalabbruch der Musikindustrie stand noch bevor, einen professionellen Vertrieb hatten wir auch nicht, weshalb uns nichts anderes übrig blieb, als mit zwei grossen Sporttaschen durch die Schweiz zu reisen – von Plattenladen zu Plattenladen. Als Vorgruppe für andere Schweizer Acts kamen wir ebenfalls ein wenig herum, wenigstens in der Provinz. Zum Beispiel in eine Skihütte im Prättigau, wo wir zum Saisonabschluss vor der Chlyklass aufspielen sollten. Im Laufe der Nacht floss viel Bier, flogen Skischuhe aus geschlossenen Fenstern und wurde mit Staubsaugerrohren auf Schlafende eingeprügelt. Die Gage wollte man uns am nächsten Morgen erst ausbezahlen, wenn wir das angerichtete Chaos aufgeräumt hätten. Wir schoben grossmütig alle Schuld auf die noch pennenden Berner, bekamen zwar unser Geld, mussten aber auf einen Transport ins Tal verzichten. Der Abstieg zu Fuss auf der frühlingsweichen Piste war einigermassen unmöglich – wir demontierten darum die Schutzpolster der Skiliftmasten und rodelten davon.

Vali auf der Quaderwiese

Innerhalb einer halben Generation hat auch in Chur ein gesellschaftlicher Prozess stattgefunden, den wir in der ganzen Schweiz, zumindest aber in der kleinstädtischen bis ländlichen Schweiz beobachten: die Disziplinierung der Jugend. Fast alle Clubs und Bars führten Alterslimiten ein, nicht in erster Linie aus Sorge um die Jugend, sondern um Platz für zahlungskräftigeres Publikum zu machen. 2008 folgten das kantonale Rauchverbot, eine drastische Verkürzung der Öffnungszeiten für Gastrobetriebe sowie ein städtisches Polizeigesetz mit Wegweisungsartikel und – hoppla – einem nächtlichen Alkoholverbot auf öffentlichem Grund. Dieses Verbot und die Einführung von suchtmittelfreien Zonen ausgerechnet an den beliebtesten Treffpunkten vertrieb die Jugend nachhaltig aus dem nächtlichen Chur. An der Kantonsschule kehrte eine Bewilligungs- und Bestrafungskultur ein, die alles, was ausufern könnte, langsam eindämmte: Feste, Bildungsreisen, die traditionellen Maturastreiche. Die Lehrerinnen und Lehrer der Sekundarstufe wiederum zucken mit den Schultern, wenn sie mir erzählen, dass Rausch uninteressant geworden ist in einer fitnessorientierten Schülerschaft.

Ich mag weder die stetig sinkende Jugendkriminalität beklagen noch unsere einstigen Exzesse als politische Rebellion verklären, aber ich bin ganz froh, dass ich dabei war, als es die Feste auf dem Vogelboden noch gab. Immer am Abend vor der Zeugnisausgabe und somit den Sommerferien packten wir Kantonsschüler – vor allem die Abschlussklassen – unsere Rucksäcke voll und stiegen im Abendlicht zum Vogelboden hoch, einer Rodung etwas verborgen unterhalb des Mittenbergs gelegen. Das Fest, das wir zum Ausklang unserer Schulzeit feierten, war gelinde gesagt verrufen. Doch so frei wie dort im Duft nach Baumharz und süssem Gras, wie dort im beissenden Rauch von Fichtenreisig, wie dort mit der Aussicht auf die Strassenlichter der Stadt weit unten und das Leben vor mir – so frei habe ich mich nie mehr gefühlt.

Mich nur in Nostalgie zu suhlen, wäre allerdings läppisch. Es ist eine Eigenart Churs, seine Jugend in die Welt zu schicken respektive zu verjagen, um sie später mit dem stoischen Charme der ganzen vergangenen Jahrhunderte wieder einzufangen. Doch im Gegensatz zu den meisten meiner Jugendfreunde und Schulkameradinnen habe ich immer einen Fuss in Chur gehabt. Die Stadt ist mein Zuhause. Ich vertrete sie im Kantonsparlament. Nicht einmal mehr als Wochenaufenthalter bin ich in Zürich angemeldet. Ich kann dem Verhältnis zwischen mir und meiner Stadt jederzeit eine weitere rührige Anekdote oder einen Alltagsausbruch anfügen. Aber dass an jeder Ecke schon eine Erinnerung klebt, macht etwas mit mir. Ich mag es nicht beschreiben. Es ist gut. Ich behalte es für mich. Folge VICE auf Facebook und Instagram.