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Deutschland

The VICE Guide to Deutschtürken – Teil 1

Wollen Deutschtürken wirklich wissen, ob du ein Problem hast? Ein A bis Z für alle, die immer nur Erdoğan verstehen.

Beim Thema Türkei interessiert die meisten Deutschen vor allem, wie lange die Dönerbude nachts noch auf hat. Dabei ist zurzeit einiges los im Land am Bosporus: Da wäre der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel, der schon seit Wochen in der Türkei in Haft sitzt. Oder Redeverbote für türkische Politiker in Deutschland, die Werbung machen wollen für ein Verfassungsreferendum, das Staatschef Erdoğan noch mehr Macht geben soll.

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Menschen mit türkischen Wurzeln stellen die größte Ausländergruppe in Deutschland, fast drei Millionen Menschen sind es. Zeit also, dich über deinen Pauschalurlaub an der türkischen Riviera hinaus mal mehr mit "diesen Leuten" auseinanderzusetzen. Deshalb haben Melisa Karakus und Robin White vom deutsch-türkischen Magazin renk einen Guide für uns zusammengestellt.

Atatürk

First things first und so fangen wir bei A natürlich mit dem "Vater der Türken" an, was Atatürk auf Deutsch übersetzt auch bedeutet. Der Kettenraucher, dem man einen Hang zu Frauen und eine Vorliebe für Raki nachsagt, ist nämlich für die Gründung der modernen Türkei, so wie wir sie heute kennen, verantwortlich. Mustafa Kemâl Pascha, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, fand Europa wohl ganz geil und hat so nach dem Ende des Osmanischen Reichs in der neugegründeten Türkei eine westlich orientierte, säkularisierte Kultur durchgeboxt – mit ähnlicher Radikalität wie sie heute auch sein elfter Nachfolger Erdoğan anwendet.

Auch erwähnenswert: Ayran, Aldi (im türkischen Aldı geschrieben, bedeutet wörtlich: Er/Sie hat gekauft)

Brüder

Brüder sind die Türsteher des Familienclans – in der türkischen Gesellschaft kommst du an ihnen nicht vorbei. Sie passen auf, dass alles mit rechten Dingen zugeht, auch wenn die Methoden es meist selbst nicht tun. Wenn du keine leiblichen Brüder hast, kein Problem! Mit ein bisschen Loyalität und Schutzgeld lässt sich die Geschwisterliebe problemlos kaufen. Stell dich gut mit ihnen und du kommst auf die Gästeliste der nächsten Familienfeier. Stell dich dumm an und du kriegst es zusätzlich noch mit den Cousins zu tun.

Auch erwähnenswert: Beschneidung, Bauchtanz

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Çekirdek

Hänsel und Gretel legten eine Spur aus Brotkrumen, um wieder nach Hause zu finden. Die Türken haben sich diese Technik wohl abgeschaut, nutzen dafür aber ihren beliebtesten Snack: Çekirdek – Sonnenblumenkerne. Jeder kennt die Fährte von weiß-grauen Schalen, die sie beim Essen hinterlassen, egal ob im Café, in der Bahn oder auf der Straße. Und wenn du dich fragst, wo diese wohl hinführt, solltest du ihr einfach mal folgen. In 83 Prozent der Fälle endet sie nicht an einem Lebkuchenhaus im Wald, sondern vor einem neunstöckigen Plattenbau, wo die böse Hexe auf ihrem Kissen mit Blumenmuster den ganzen Tag im Fenster chillt und darauf wartet, dass du pünktlich zum Abendessen wieder zu Hause bist.

Auch erwähnenswert: Çay

Foto: Flickr | Keisuke Omi | CC 2.0

Döner

Egal, wann du die Wortkombi "Salat alles?" hörst, fängst du direkt an, mehr Speichel zu produzieren als ein Lama. Triefendes Fleisch, frisches Gemüse und köstliche Soßen. In der Türkei wird das Ganze klassisch als Teller mit Reis serviert, in Deutschland schön praktisch im Brot auf die Hand. Ja ja, die Deutschen und ihre Liebe zu Pragmatismus setzen sich eben auch kulinarisch durch. Das Gerücht, dass der Döner in Berlin erfunden wurde, hält sich weiterhin hartknäckig, lässt sich aber nicht zweifelsfrei bestätigen. Fest steht aber, dass es über 1.000 Dönerbuden in Berlin gibt – mehr als in Istanbul. Ach herrlich, so schmeckt Integration!

Auch erwähnenswert: Nichts geht über Döner

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Ehre

Es scheint, als gäbe es kein höheres Gut für den Türken, das er um jeden Preis beschützen muss. Das Konzept, welches besagter Ehre zugrunde liegt, ist ziemlich absurd: Manche (Männer) können sie förmlich durch nichts verlieren, während andere (Frauen) wiederum nur falsch blinzeln müssen. Gefühlt reicht die Palette der Situationen, in denen sie dir – huch! – abhanden kommen kann, von vorehelichem Geschlechtsverkehr oder Homosexualität über einen zu krassen Deine-Mudda-Witz bis hin zu drei Mal hintereinander im Schnick, Schnack, Schnuck verlieren – Schande für dich und deine Familie! Eine völlig überholte Denkweise.

Auch erwähnenswert: Entjungferung

Fatih Akin

Er ist aus der deutschen Filmlandschaft nicht mehr wegzudenken. 2004 sorgte er mit seinem Streifen Gegen die Wand für ziemlich viel Aufruhr. Schließlich sprach die Story vielen aus der Seele: Eine junge, in Deutschland geborene und aufgewachsene Türkin geht mit einem alkoholkranken Deutschtürken eine Scheinehe ein, um den Moralvorstellungen ihrer Eltern zu entkommen. Das allein ist schon heftig. Doch dann war da noch die Geschichte hinter der Geschichte: dass die Hauptdarstellerin früher Pornos gedreht hatte und die Alkoholkrankheit des Hauptdarstellers auch alles andere als gespielt war. Also, wenn du dir das nächste Mal einen Filmabend gönnen willst, mach dir ein Sucuk mit Toast und knall dir diesen Film rein.

Auch erwähnenswert: türkische Frauen, Fankultur, Frittieren, Fenerbahce

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Gastarbeiter

Andere für sich arbeiten zu lassen, ist immer eine gute Idee. Und wenn man es richtig anstellt, hat man sogar vier Generation später noch was davon! Hinter den Theken der Imbissbuden, Kiosks und Handyläden deines Vertrauens wird wohl nur in den seltensten Fällen ein Hans-Peter stehen. Dabei war der Plan des Anwerbeabkommens eigentlich, die Arbeiter im Rotationsprinzip nach spätestens zwei Jahren wieder zurück in die Türkei zu schicken. Eigentlich. Und so prägen die gebliebenen Arbeiter bis heute unsere Gesellschaft. Vielleicht solltest du beim nächsten Mal, wenn du in deinen köstlichen Börek beißt, kurz innehalten und Konrad Adenauer für das Abkommen danken.

Auch erwähnenswert: Gastfreundschaft, Gartenzwerge, Geld

Hochzeit

Als ledige Türkin musst du dir eine Menge Kommentare zu deinem Lotterleben anhören. "Kind, es ist Zeit. Möchtest du nicht heiraten?" Eine der Fragen, die irgendwann deine Ohren bluten lassen. Doch die türkische Frau von heute ist finanziell nicht mehr auf eine Heirat angewiesen. Laut dem Essener Zentrum für Türkeistudien macht sie häufiger Abitur als der türkische Mann und rund ein Drittel der Frauen über 18 hat einen Job. Jede zweite Türkin in Deutschland ist heute unverheiratet, was vielen Familien natürlich missfällt. Dabei muss, wer türkisch heiratet, oft tief in die Tasche greifen. Das Handanhalten bei den Eltern der Tochter (Kiz isteme), das Versprechen (Söz kesme) und die Verlobungsfeier (Nisan) sind nur wenige der vielen Bräuche. Geld spielt hier fast immer eine zentrale Rolle und so könnte man die Hochzeitsvorbereitungen auch als Verhandlungsgespräch bezeichnen. Doch wenn du unter der Haube bist, hören endlich die Bullshit-Kommentare deiner Sippe auf und du kannst in Ruhe alt und fett werden.

Auch erwähnenswert: Hamam, haram, helal

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Foto: imago I Lars Reimann

Identität

Oft stellt sich den Deutschtürken die Frage nach ihrer Identität. Unterdrückung der Frau, Hartz IV und Kriminalität sind Vorurteile, die es immer noch gibt. Auch wenn ihre Familie vielleicht schon in dritter oder vierter Generation in Deutschland lebt, wird oft von ihnen verlangt, sich dazu zu positionieren. Doch in den letzten Jahren hat sich das Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen, zu einer neuen Identität entwickelt, in der vor allem deutsch-türkische Kreative in Großstädten Kulturprojekte wie Festivals und Basare auf die Beine gestellt haben. Damit zeigen sie, dass man sich weder als deutsch noch als türkisch verstehen muss – sondern auch beides sein kann.

Auch erwähnenswert: Istanbul, Integration

Janitscharen

Das J existiert in der türkischen Sprache (wie so manch anderer Buchstabe) nicht wirklich. Trotzdem haben wir ein Wort gefunden, das mit dem Buchstaben anfängt. Kleiner Geschichtsausflug: Die Janitscharen waren eine Eliteeinheit in der Osmanischen Armee. Hartgesottene Zocker werden den Begriff aus dem Spiel Age of Empire kennen. Die Janitscharen verstanden sich als Verteidiger der Werte des Islams und verbreiteten jahrhundertelang Angst und Schrecken bei politischen Gegnern und Führern des Osmanischen Reichs. Heute sind die Janitscharen in manchen Teilen der Türkei eine folkloristische Touristenattraktion.

Klischees

"Oh wow, warum sprichst du so gut Deutsch?"

"Stimmt es, dass die Männer in der Türkei Sex mit Eseln haben?"

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"Trägt deine Mutter auch ein Kopftuch?"

Auszüge aus dem Einmaleins der Gepflegten Konversation mit Schwarzköpfen. Schublade auf, Türke rein. Manche nennen es Interesse, wenn sie solch unangebrachte Fragen stellen. Doch sie zeigen nur, dass selbst nach knapp 60 Jahren Einwanderungsgeschichte der Horizont vieler nur bis zum nächsten Adana-Grill reicht. Du willst ja auch nicht ständig gefragt werden, ob dein Opa früher Nazi war, nur weil du deutsch bist. Also, für die Zukunft kannst du dir vielleicht einen etwas zeitgemäßeren Einstieg ins Gespräch mit einem Türken überlegen – falls die Herkunft deines Gesprächspartners überhaupt eine Rolle spielen muss. Mit einem simplen "Merhaba (Hallo), wie gehts?" als Starterpack bist du immer gut beraten. Ansonsten kommen Fragen nach türkischen Rezepten vor allem bei den Annes (Müttern) deiner türkischen Freunde gut an.

Auch erwähnenswert: Kopftuch, Köfte, Kreuzberg, Kitsch

Lan

Was für den Deutschen "Alter" oder "Ey" ist, das ist "Lan" für den Türken. Ohne diesen Ausdruck kommst du bei Jugendlichen nicht weit. Universell einsetzbar gibt es jeder Aussage eine angemessene Portion latenter Aggressivität und lässt dich dabei noch cool aussehen. Einige Anwendungen:

Çüs lan! = Oha, alter!

Hadi lan! = Na los, Mann!

Siktir lan! = Fick dich!

Auch erwähnenswert: Lahmacun

Mesut Özil

Selbst wenn dir Fußball total am Arsch vorbei geht, am "Vorzeigetürken" des Lieblingssports der Deutschen kommt man nicht vorbei. Jeder kennt Mesut Özil. Der Junge aus Gelsenkirchen, der sich von Schalke zu Arsenal hochgekickt hat und einen aktuellen Marktwert von 50 Millionen Euro hat, gilt als Paradebeispiel dafür, wie gut doch Integration funktionieren kann. Und entgegen dem Vorurteil, dass Fußballer nicht besonders helle sind, hat Mesut Özil schon lange etwas begriffen, das die meisten noch immer nicht kapiert haben. 2012 sagte er der FAZ: "Ich habe in meinem Leben mehr Zeit in Spanien als in der Türkei verbracht – bin ich dann ein deutsch-türkischer Spanier oder ein spanischer Deutsch-Türke? Warum denken wir immer so in Grenzen?" Bei so einer treffenden Aussage sollten zur Abwechslung mal die anderen große Augen machen.

Auch erwähnenswert: Männer, Machos, Mehmet, Mokka

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