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handball em 2016

Christian Dissinger—weil Aufgeben keine Option ist

Als Ausnahmetalent schlitterte Christian Dissinger von einer Katastrophe in die Nächste. Bei der Handball-EM ist der Rückraumspieler einer der ganz Großen.
Foto: Imago

Es sind Deutschlands junge Wilde, die diese Handball EM dominieren. Ein wahrer Hüne im Rückraum, ein beinahe unbekanntes Gesicht fällt auf: Christian Dissiniger. Oder wie er von seinen Teamkollegen liebevoll genannt wird: Disse.

Der 24-Jährige ist von der ersten Sekunde an voll im Turnier. Gegen Spanien wird der Rückraumspieler mit sechs Toren bester Werfer des deutschen Teams und kämpft wie kein anderer. Seine Größe und seine Sprungkraft machen ihn zu einem kaum zu stoppenden Angreifer, er übersteigt die Defensive mühelos und erzielt gegen Spanien innerhalb von vier Minuten zwei wichtige Anschlusstreffer. Durch seine athletischen Voraussetzungen schafft er es die Aufmerksamkeit der Abwehr auf sich zu ziehen und verschafft seinen Teamkollegen Platz. Zudem besitzt Dissinger eine bemerkenswerte Wurfkraft und schafft es, trotz des jungen Alters, durch seine unaufgeregte Spielweise Ruhe in das Spiel zu bringen. Bei ihm scheint es, als könnte er in dem Moment, in dem er den Ball in der Hand hält, seinen Kopf ausschalten und einfach Handball spielen. Trotz der Unerfahrenheit gibt es durch den 2,02-Meter-Mann im Rückraum deutlich mehr Wurfoptionen, was die deutsche Mannschaft stark entlastet.

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Bei allen drei Spielen des Turniers überzeugte er. Ein Typ der sich voll reinhängt, gegen Schweden kassierte er kurz vor Schluss die rote Karte, eben ein Kampfschwein, dem kein Weg zu Schade ist. Genau mit diese Art macht sich Christian Dissinger im deutschen Team jetzt schon unersetzlich.

Er ist ein zurückhaltender, dunkelhaariger Kerl Mitte zwanzig. Er hat ein freundliches Grinsen und wäre er nicht 2,02 Meter groß, könnte man ihn als unscheinbaren Typen bezeichnen. Er gilt als Mega-Talent der deutschen Mannschaft und das er heute auf dem Feld brilliert, grenzt fast an einem Wunder. Denn am Anfang seiner Karriere war er kurz davor alles hinzuschmeißen.

Mit 19 zog Christian frohen Mutes aus dem Elternhaus in Lübbecke aus und ging in die Schweiz. Als Junioren-Weltmeister und den Auszeichnungen bester Rückraum Links, sowie Wertvollster Spieler der Junioren WM 2011 schien ihm die ganze Handballwelt zu Füßen zu liegen. Er war der neue Hoffnungsträger für die Schweizer Mannschaft „Kadetten Schaffhausen", das Ausnahmetalent. Christian Dissinger war dabei den Traum vom Profi-Handballer zu leben. Doch nur vier Wochen nach seinem Umzug kam die Schocknachricht: sein Vater verstarb völlig unerwartet. Plötzlicher Herztod. Alleine in einem fremden Land, in einem neuen Team musste der damals 19-Jährige den plötzlichen Verlust seines Vaters verkraften. Aufgeben war jedoch keine Option für ihn, er war zum Handspielen in die Schweiz gezogen und hatte es in die erste Liga geschafft, sein großes Ziel.

Doch der nächste Schicksalsschlag ließ nicht lange auf sich warten, sechs Wochen nach dem Tod seines Vaters riss sich Dissinger sein Kreuzband. Eine fatale Verletzung für einen Profisportler. Seine Welt schien zusammenzubrechen: „Ich fiel in ein Loch" erzählt der heute 24-Jährige auf der Website des THW Kiels. Kurz davor alles hinzuschmeißen fasste der Junge neuen Mut. Mit Aufbautraining, Krafttraining, Reha, Physiotherapie und eisernem Willen kämpfte er sich zurück und stand nach 351 Tagen wieder auf dem Platz. Die Leidenszeit schien vorbei zu sein, der Halblinke Riese war zurück.

Doch das Leben meinte es mal wieder nicht lange gut mit ihm. Im April 2013, gerade mal ein Jahr nach seinem Comeback, verabschiedet sich sein anderes Kreuzband. Eine weitere Katastrophe für den jungen Spieler, denn kaum einer schafft es nach zwei Kreuzbandrissen in so jungem Alter zurück auf den Platz. Doch eine neue Chance tat sich auf. Atletico Madrid klopfte an, trotz gerissenem Kreuzband. Dissinger unterschrieb und ein völliger Neustart stand an. Doch den Hoffnungen wurde ein schnelles Ende gesetzt. Nach der Sommerpause löste sich der Verein Atletico Madrid nach einer Insolvenz auf, die Verträge wurden aufgelöst. Dissinger war vereinslos. „Das war so ein Punkt, an dem ich mir ernsthaft Gedanken gemacht habe, meine Karriere zu beenden. Ich war verletzt, vereinslos und habe kein Licht am Ende des Tunnels gesehen", erzählte der jetzige Nationalspieler gegenüber dem Tagesspiegel.

Doch ganz ohne Handball ging es auch nicht, der Weg führte zurück nach Hause, wo alles anfing, zum TuS N-Lübbecke. Dort gab Dissinger im April 2015 sein Comeback. Er lieferte überragende Leistungen ab und erzielte in 27 Spielen 71 Treffer. Sein Talent bleib nicht lange unentdeckt, Erstligist THW-Kiel meldete sich an. Noch im April unterschrieb er einen Vertrag und ist seit dem nicht mehr aus dem Rückraum der Kieler Spitzenmannschaft wegzudenken. Trainer Gislason äußert sich sogar gegenüber der FA: „Ich sehe auf seiner Position keinen besseren Deutschen." Im Januar 2016 wurde sein Vertrag bis 2020 verlängert.

Zudem ergattert er sich einen festen Platz in der Nationalmannschaft und kämpft im Moment in Polen um den EM-Titel. Die bitteren Jahre scheinen für Dissinger nun ein Ende genommen zu haben, das Licht am Ende des Tunnels ist zu sehen und nichts, diesmal wirklich gar nichts, weist auf ein baldiges Ende der Glücksphase hin.