Menschen

Eine Nacht in Zürichs Rotlichtviertel in Zeiten von Corona

Diese Straße will, dass du deine Frau betrügst, das Taxi vollkotzt, dich unsterblich verliebst. Aber: Pandemie.
Die Autorin bei Nacht in Zürichs Rotlichtviertel in Zeiten von Corona

Ich mache mir einen Tee, Sorte Ein glückseliges Bad in Gelassenheit, vielleicht in der Hoffnung, dass mich genau das erwartet. Heute verbringe ich eine Nacht in Zürichs Partymeile. Das Viertel um die Langstrasse ist auch bekannt für den illegalen Straßenstrich. Oder für teure Gentrifizierungswohnungen für hippe Webdesigner. Vor der Pandemie habe ich regelmäßig Nächte hier verbracht. In den Clubs, Bars oder in der 24-Stunden-Bäckerei Happy. In dem Laden an der Ecke hat mir ein Typ ein paar Sätze auf Spanisch beigebracht. Me llamo Anna y estoy super bien. Auf Spanisch bin ich auch immer noch 20.

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Doch wie sieht es an einem ausgelassenen Ort aus, wenn niemand ausgelassen ist? Diese Straße will, dass du deine Frau betrügst, dass du das Taxi vollkotzt, dass du dich unsterblich verliebst. Doch jetzt ist Pandemie. Ich biege vom Helvetiaplatz in die Langstrasse ein. Fast nichts los hier. Nur ein Auto steht an einer Kreuzung neben einem Kiosk, direkt davor macht eine Frau ungelenk Breakdance. 

Eine Frau fragt mich nach Kleingeld. Während ich Kohle und Kippen aus meiner Jackentasche fische, sagt sie: "Du hast ein süßes Gesicht." Eigentlich rauche ich nicht. Vor ein paar Wochen habe ich mir das erste Mal eine Packung gekauft, weil ich schlecht gelaunt war und Zigaretten zu kaufen die einzige Trotzreaktion, die sich richtig angefühlt hat.

In einer Vitrine an einer Hauswand hängt ein Plakat des Sorgentelefons über einem Werbeposter für Miley Cyrus' neues Album. Ein Polizeiauto fährt an mir vorbei. Darauf steht "Ereignismanagement" und ich frage mich, wo sie hier heute Ereignisse zum Managen finden wollen.

Miley Cyrus Poster und das Sorgentelefon für Kinder

Ich komme an der Ecke zur Lagerstraße an. Dort ist die Olé-Olé-Bar. Da ist es eigentlich immer ganz schön. Und das obwohl Benjamin von Stuckrad-Barre angeblich manchmal da abhängt. Aber da kann ja die Bar nicht so viel dafür. 

Ein Mann bleibt mit seinem Fahrrad vor mir stehen. Er erzählt mir, dass er auf einer Parkbank geschlafen habe und von Hooligans verprügelt worden sei. Er zieht den Kragen seines T-Shirts über seine Brust, um mir ein Pflaster zu zeigen. Er braucht Geld für eine Unterkunft. Ich gebe ihm 5 Franken.

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"Gib nie jemandem dein letztes Bier", sagt er. "Oh, hast du was zum Rauchen?"
"Nur Zigaretten, sorry."
"Nein, danke. Ich rauche sowieso nur American Spirit." 
Ich ziehe eine Packung aus der Jackentasche.
"Ich habe nur die." 
Er schwingt sich wieder auf sein Fahrrad und sagt zum Abschied:
"Oh Gauloise! Die hab ich früher auch geraucht."

Ein Mann geht rauchend vorbei und schaut die Langstrasse runter als würde er vom Bug eines Schiffs in den Horizont starren. Heute ist die See ruhig. Hier ist ein Club, aus dem ich manchmal mein halbvolles Glas unter der Jacke rausgeschmuggelt habe, weil ich etwas Verbotenes tun wollte und weil die Partys am Donnerstag manchmal so schlecht waren, dass ich keinen ganzen Drink lang durchhielt.

Ich komme auf den Platz an der Ecke zur Dienerstraße. Manche nennen ihn "Piazza Angelo" wegen eines verstorbenen Türstehers. Das Schild nennt den Platz "Piazza Cella". Als ich einem Freund vor ein paar Tagen von meinem Vorhaben erzählte, sagte er, dass er sich nach dem ersten Lockdown, als alles wieder gelockert wurde, auf diesen Platz gesetzt hatte. Ein Betrunkener hatte da aus Versehen der Freundin eines riesigen Typen auf den Schuh gepinkelt. Der Kasten holte darauf natürlich aus und boxte ihn mit einem Schlag K.O.. Und während der Betrunkene dann auf der Straße lag, pinkelte er einfach weiter. 

Ich setze mich auf eine Bank. Ich habe ein Superlike auf Tinder. Auf der anderen Seite des Platzes schaut ein Mann dem Wasser dabei zu, wie es in den Brunnen plätschert. Eine Gruppe Männer, die vorbeigeht, schaut mich irritiert an. Sie wissen, dass ich hier nicht hingehöre. Um 23 Uhr an einem Mittwoch während der Pandemie gehört dieser Ort nicht mir.

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Leuchtreklame Hähnchen Curryburger

Im geschlossenen Imbiss gegenüber preist eine Leuchtreklame Schnitzelbrot an.

"Ist hier noch frei?" Ein Mann stellt sich vor mich. Ich schüttle den Kopf. "Die ganze Bank ist besetzt?"
Gulasch mit Reis, meint die Leuchtreklame.
Ich nicke mit falschem Bedauern.
"Ich heiße Ralf."
Hähnchencurry.
"Und was machst du hier, Ralf?" Er sieht so aus, als hätte er heute Abend die Wahl gehabt zwischen einer Lan-Party und junge Frauen anbaggern auf der Langstrasse.
"Da kann ich dir keine schlüssige Antwort geben."
Wir lachen beide. Dann sagt er: "Wenn ich dich anschaue habe ich Fantasien." Ich stehe auf.

Meine Mitbewohnerin schreibt mir: "Viel Spaß bei deiner Sache." Und schickt mir ein Lied mit dem Titel "leichter//kälter".

"Ach, verdammt, mir ist so kalt", singen meine Kopfhörer, gefolgt von eine paar catchy Synthakkorden. Wenn ich schnell genug gehe, holt mich die Kälte nicht ein. Ein Mann fragt mich nach Geld. Ich frage ihn, ob er ein Foto von mir machen kann, irgendwie muss ich die Nacht ja dokumentieren.

Als ich in meiner Tasche nach Geld krame, versucht er zu verhandeln, wie viel ich ihm geben werde.

Sein Freund auf der anderen Straßenseite ruft ihm zu: "Boah, jetzt hast du aber Glück gehabt, dass du noch jemanden getroffen hast."

An der Ecke Langstrasse und Brauerstrasse haben sich die Leute zusammengefunden, die nicht ohne diesen Ort können. Wie im Protest gegen die ausgestorbenen Straßen. Auf beiden Straßenseiten stehen etwa zehn Leute. Ein Mann im Rollstuhl hat eine Boombox auf den Knien. 

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"Heut gehen sie beiseite, wenn die Haie durch das Becken ziehen. Auf Augenhöhe wie die Sonne da am Horizont", verkündet Sido.

Statt der Sonne geht der Cheeseburger der Leuchtreklame über der Langstrasse auf. Während ich an der Gruppe vorbeigehe verteile ich Münzen und Zigaretten.

"Geiles Leben, knallharte Champagnerfeten", sagt Sido.

In einer Parallelstraße höre ich die Musik nicht mehr. Die Lüftungen der Hinterhöfe atmen schwer, als würden sie das erste Mal seit Jahren aufatmen.

An der Ecke zur Dienerstrasse warten zwei Taxis. Kurz stelle ich mich auf die andere Straßenseite und tue dasselbe. Dass sich die Schweiz an Regeln hält, mag wohl wenige überraschen. Aber es ist nochmal was anderes, die Pandemie an diesem Ort zu sehen. Wenn im Kreis 8 nach 22 Uhr noch jemand auf der Straße ist, muss man sich schon sehr wundern. Doch an der Langstrasse kann man eine Waffe in einer Bar erwerben, um die eigene Frau zu erschießen, und in jede Seitenstraße reinlaufen und mit allen Drogen, die man sich wünschen könnte, wieder rauskommen. Regeln gibt es hier eigentlich keine. Aber die Pandemie scheint auch hier jeden Freigeist mit krimineller Energie in die Knie zu zwingen. Wir befinden uns seit März in einem Ausnahmezustand. Ich habe mich schon so sehr daran gewöhnt, dass ich manchmal vergesse, wie es davor war. Hier klappt das mit dem Vergessen nicht. Ich sehe die wartenden Taxis und die geschlossene Bäckerei und vermisse es, mal wieder nicht auf das Danach warten zu müssen. 

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Unterführung zwischen dem Kreis 4 und Kreis 5 Langstrasse Zürich

Ich mache mich daran, die Langstrasse rauf und runter zu gehen. Die Polizei, die durch das Viertel kreist, muss sich schon fragen, was ich hier mache. Ich gehe auf die Unterführung zu, die den Kreis 4 vom Kreis 5 trennt. Die Wörter "quirky" und "smile", die in Neonschrift ein Hotel zieren, scheint wie ein letzter kläglicher Versuch, mich an die einstige Unbeschwertheit dieser Straße zu erinnern.

Zurück am Helvetiaplatz setze ich mich auf eine Bank vor der Tramhaltestelle, weil meine Beine so müde sind. Am Lichtsignal hält irgendwann ein Auto und ein Typ beugt sich raus.

"Weißt du, wo ich Zigaretten finden kann? Ist hier irgendwo ein Automat?"
"Nö, aber ich kann dir welche geben."

Das Lichtsignal wechselt dreimal von rot auf grün und wir sprechen über meine Reportage. Er verspricht mir, dass er sich meinen Namen bis nach Hause zu merken versucht. Mit diesem Fremden zu sprechen, fühlt sich ein bisschen so an, wie die Gespräche, die man hat, wenn man den ganzen Abend im Raucherraum eines Clubs verbringt, statt zu tanzen. Als irgendwann die Polizei hinter ihm steht, verabschiedet er sich.

Jetzt muss ich dringend pinkeln. Ich habe die Wahl zwischen einer öffentlichen Toilette oder der Straße. Das letzte Mal, dass ich in der Öffentlichkeit gepinkelt habe, war im Tiergarten am CSD im Sommer 2019 – von zu viel Prosecco. Ich hasse dich 2020.

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Dann kommt ein Mann in grüner Regenjacke auf mich zu. Er fragt mich, ob ich ihm etwas zu essen geben kann. Einen Erdnussriegel ist das einzige, was ich habe.

"Können wir nicht zu einem Snackautomaten gehen? Da gibt es Eierwaffeln. Die machen satt."

Wir gehen fast zwei Kilometer zu Fuß. Es ist schon nach 2 Uhr und der Bahnhof ist nachts abgeriegelt, wir finden einen Automaten weiter weg. Er kommt aus Polen, sprechen kann er nur ganz leise, weil er Messerverletzungen am Hals hat. Er entschuldigt sich dafür, dass er seine Maske trotzdem trägt, er friere sonst im Gesicht. Ich schäme mich für meine kalten Hände. Er ist in Deutschland aufgewachsen und wir sprechen über Berlin.

Als ich wieder zurück auf die Langstraße komme, fährt mir ein Typ auf einem E-Roller entgegen. 
"Hey, where you going?"
Ich zucke mit den Schultern. "Home."
"C'mon, let's have a drink somewhere."
"No, I'm sorry. Next time, I promise!" Ich lache.
"Alright, have a nice time. I like the way you move." Er rollt davon.

Leuchtreklame auf der Langstrasse

Als ich zum vielzuvielten Mal an der Leuchtreklame (gerade Schnitzelbrot) vorbeigehe, fällt mir plötzlich auf, dass das ein hervorragendes Plattencover abgeben würde, wäre ich in einer Band. Für unser musikalisches Debüt würden wir darunter posieren, genau dann, wenn Schnitzelbrot zu Gulasch mit Reis wechselt und die Buchstaben ineinander fließen. Mein Band würde Anna & the Concussions heißen. Am Anfang eines jeden Konzerts würde ich einen glücklichen Fan auf die Bühne bitten, um ihm eine Kopfnuss zu verpassen. Ja, ich bin müde. 

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Es bleibt mir nichts anderes übrig, als weiter die Straße auf und ab zu gehen. Die Boombox läuft immer noch. Es sind auch immer noch dieselben Leute, die da an der Ecke stehen und Musik hören. Obwohl die Busse noch nicht fahren, suchen einige Zuflucht in den Bushäuschen, die ein bisschen Schutz bieten vor dem kalten Wind. Mittlerweile füllt sich die Straße wieder mit Leuten, die ich noch nicht gesehen habe. Eine Frau geht mit ihrem Hund Gassi.

Auf dem Weg zum Bahnhof um 5 Uhr fühlt es sich an, als würde ich aus einem Club kommen. Es ist zwar schon Tag, aber der nächste Morgen kommt erst noch. Dieses Gefühl der Freiheit, das man hat, wenn man sich, ohne den Freunden was zu sagen, aus dem Club schleicht. Für einen Moment scheint dann alles möglich zu sein. Man könnte in die S-Bahn zum Flughafen einsteigen und irgendeinen Flug nehmen, einer der kurz genug ist, dass der Rausch noch nicht nachgelassen und das Verantwortungsgefühl einen noch nicht eingeholt hat. Aber dann nimmt man doch nur den Bus nach Hause.

Im Oktober hat eine junge Frau namens Ida einen Shitstorm losgetreten, weil sie sich im heute journal darüber geäußert hat, wie sehr sie das Feiern vermisst. Wütende Twitterer bezeichnen ihre Aussage als ein "First World Problem". Und das, obwohl wir doch gerade alle nicht viel mehr tun, als vermissen. Das leere Langstraßenviertel sieht auch so aus, als würde ihm etwas fehlen.

Die Langstrasse bei Nacht

Wenn das Wort des Jahres Corona ist, dann ist das Gefühl des Jahres Sehnsucht. Wenn ich Bilder der leeren Reeperbahn, das Berghain ohne Schlange davor oder geschlossene Lokale mit den Stühlen auf den Tischen sehe, will ich mich mit tausend Freunden in einer Bar treffen und über Jungs reden oder mich auf der Tanzfläche eines Clubs mit einem Poetry Slammer über Allegro Pastell streiten oder Fremden in der Toilettenschlage ewige Freundschaft schwören oder mir in einem Moshpit das Handgelenk verstauchen. Doch heute nehme ich nur den Bus heim.

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