Politik

Wir sprachen mit der Familie des jungen Afghanen, der in den Tod stürzte, als er sich an ein US-Militärflugzeug klammerte

Der 17-Jährige hatte gehofft, den Taliban zu entkommen und in Nordamerika ein neues Leben zu beginnen.
Eine große Menschenmasse auf einem Flughafen vor einer Militärmaschine, am Montag klammerten sich Menschen an Flugzeuge, um den Taliban zu entkommen, mindestens drei stürzten in den Tod
Hunderte Menschen vor einer C-17 Frachtmaschine der U.S. Air Force am internationalen Flughafen von Kabul, Afghanistan, Montag, 16. August, 2021 | Foto: AP Photo/Shekib Rahmani

Am Montag verließen der 17-jährige Reza und sein 16 Jahre alter Bruder Kabeer das Haus ihrer Familie.

Am Tag davor hatten die Taliban Kabul erreicht, die afghanische Regierung kapituliert. Die Brüder hatten Angst vor einem Leben unter den Islamisten und flohen zum Flughafen. Sie sollten beide nicht wieder nach Hause kommen.

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Reza war einer von vielen verzweifelten Afghanen, die sich an die Außenhülle eines Flugzeugs klammerten und daran festhielten, als es abhob. Sein Bruder wird vermisst.

"Wir sind unfassbar traurig, zwei Menschen verloren zu haben", sagt ein Familienmitglied zu VICE. "Von einem haben wir die Leiche gefunden, der andere wird noch vermisst."

Rezas Tod wurde in Videos festgehalten, die am Montag viral gingen. In den grausamen Aufnahmen sieht man, wie am Himmel kleine Punkte von einer US-Militärmaschine fallen, die gerade vom internationalen Flughafen in Kabul gestartet war. Die Punkte waren Menschen.

Einer von ihnen wurde später von seiner Familie als Reza identifiziert. Von seinem Bruder Kabeer fehlt bislang jede Spur. Da beide minderjährig sind, und um ihre Familien zu schützen, hat VICE ihre Namen geändert. 

"Wir hoffen, ihn tot oder lebendig zu finden, damit unsere Familie Trost finden kann", sagt ein Familienmitglied über Kabeer. "Wir machen uns große Sorgen und sind von einem Krankenhaus zum nächsten gegangen, aber bislang haben wir keine Informationen bekommen."

"Seine Mutter ist am Boden zerstört. Sie bricht immer wieder zusammen."

Die Brüder hatten von ihren Nachbarn das Gerücht aufgeschnappt, dass 20.000 Menschen nach Kanada oder in die USA umgesiedelt würden. Sie wollten ihr Glück am Flughafen versuchen.

"Ohne jemandem im Haus Bescheid zu sagen, hat er seinen Ausweis genommen und ist zum Flughafen gegangen", sagt das Familienmitglied über Reza. "Alle versuchen zu fliehen. Aus Angst vor den Taliban, die töten Menschen. Alle sind zum Flughafen gegangen, weil sie keine Arbeit und keine Perspektive haben. Sie wollen ins Ausland."

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In einem neuen Video, das von einem jungen Mann aufgenommen wurde, der sich beim Start an das Flugzeug klammert, während es über die Piste rollt, sieht man junge Männer, die den Menschen am Rand der Startbahn freudig zuwinken. Sie sitzen teilweise auf den Landeklappen der Maschine, die nach dem Start eingeklappt werden.

Mindestens drei Menschen starben, nachdem sie von der fliegenden C-17-Militärmaschine stürzten. Im Fahrgestell eines Flugzeugs des gleichen Typs wurden menschliche Überreste entdeckt. Ob es sich dabei um dasselbe Flugzeug handelt, von dem Reza gestürzt ist, ist unklar.

Als die Lage in Kabul durch die Besetzung der Taliban immer chaotischer wurde, hätten sie Reza auf dem Handy angerufen, sagt das Familienmitglied, aber jemand anderes habe abgenommen. Die Person am anderen Ende habe die Familie informiert, dass sie Rezas Handy gefunden habe. Besorgt machten sich mehrere Familienmitglieder auf den Weg zum Flughafen, um die Brüder zu finden.

Augenzeugen, die gesehen hatten, wie Menschen vom Flugzeug gestürzt waren, fanden die Leichen und trugen sie aus dem Flughafen. Die Familie identifizierte Reza als einen der Toten.

"Ich habe ihn selbst zurückgebracht. Seine Beine und Arme waren weg", sagt das Familienmitglied. Jetzt hoffen sie, Kabeer über die Medien zu finden.

Die Brüder sind die ältesten von acht Geschwistern und gehören zu einer jungen Generation von Afghanen, die nie unter den Taliban gelebt hat. Junge Afghaninnen und Afghanen haben derzeit Angst davor, die Freiheiten zu verlieren, an die sie sich gewöhnt haben – etwa zur Schule zu gehen, Musik zu hören, Filme zu schauen und zu sagen, was sie denken.

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Fotos von Reza, die VICE gezeigt wurden, zeigen ihn als junges Kind im Schnee, in westlicher Kleidung und mit einem Cousin. Er habe gerne geboxt, mit seinen Brüdern gespielt und sei zur Schule gegangen, sagt das Familienmitglied. Auf Social Media trauern Freunde um ihn.

Die grausame Herrschaft der Taliban dauerte von 1996 bis 2001. Sie war geprägt von Menschenrechtsverletzungen und einer strengen Auslegung der Scharia, inklusive Steinigungen, öffentlichen Exekutionen und Straf-Amputationen.

Als die Taliban am Sonntag vor den Toren der afghanischen Hauptstadt standen, kam es am internationalen Flughafen von Kabul zu chaotischen Szenen. Während ausländische Regierungen hastig ihre Diplomaten und das Botschaftspersonal evakuierten, rannten Einheimische auf der Startbahn hinter Flugzeugen her und klammerten sich an Passagierbrücken – alles in der Hoffnung, das Land zu verlassen.

Am Mittwoch gelang es US-Truppen, den Flughafen von Kabul zu sichern, um die Evakuierungsbemühungen zu beschleunigen. Die Taliban haben um den Flughafen herum Kontrollposten errichtet. Wie die Tagesschau berichtet, gibt es auch für Bürgerinnen und Bürger westlicher Staaten dort kaum ein Durchkommen.

Mit Berichterstattung von Mohammed Rasool.

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