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Bundestagswahl 2017

Wir haben den Wahlabend mit Geflüchteten verbracht

"Jetzt albern wir vielleicht rum", sagt Alaa, "aber wir haben auch Angst."
Alle Fotos: Rebecca Rütten

"Natürlich finde ich die AfD nicht gut", sagt Qussai, 24. Er ist vor drei Jahren aus Syrien geflüchtet. Aber dann sagt er etwas, was man so nicht erwartet hätte: "Aber wenn zwölf Prozent der deutschen Bevölkerung so denken, ist es nur richtig, dass sie auch im Bundestag repräsentiert werden. Das ist Demokratie." Jeder, der an diesem Sonntagabend in Odays WG-Zimmer in Berlin-Neukölln sitzt, stimmt zu.

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Um den kleinen Couchtisch herum sitzen neben Oday, 26, und Qussai auch Odays älterer Bruder Alaa, 28, Hossam, 25, und die 21-jährige Venous. Oday hat ein arabisches Linsengericht gekocht, vor ihnen stehen Aschenbecher voller Kippen, Bier und Schüsseln mit Joghurt und Tahina.

Die fünf stammen alle aus As-Suwaida im Südwesten Syriens, dem Siedlungszentrum der syrischen Drusen. Zwischen 2014 und 2016 kamen sie nach Deutschland – auch weil die Regierung Merkel ihnen Zuflucht gewährt hat. Sie besuchen hier Deutschkurse, gehen zur Schule, studieren oder haben einen Job. Bis auf Alaa, der als Bauingenieur ein Arbeitsvisum hat, haben alle Flüchtlingsstatus. Geht es nach der AfD, soll Schutzsuchenden dieser künftig öfter verwehrt bleiben.

Oday: "Wer nicht wählen geht, gibt der AfD mehr Chancen."

"Für uns als Syrer ist dieses demokratische System total super", sagt Alaa. "In vier Jahren werden wir sehen, ob die Partei noch immer so viel Unterstützung bekommt." Dann fügt Qussai, 20 Minuten bevor der Wahlausgang feststeht, lachend hinzu: "Mehr als zwölf Prozent sollten es aber auf keinen Fall werden."

18 Uhr. Die ersten Hochrechnungen lassen einen besorgniserregend hohen, blauen Balken auf dem Fernseher aufleuchten: "Scheiße", rufen die Freunde. Richtig überrascht über das Resultat ist aber niemand. Während sich Oday die nächste Zigarette anzündet, jubeln im Hintergrund auf dem Bildschirm triumphierend die AfDler. "In Bautzen habe ich gesehen, wie viel Rassismus es in Deutschland gibt", sagt der 26-Jährige über den Ort, in dem er leben musste, als er vor zwei Jahren hier ankam. Im sächsischen Bautzen wurde die AfD mit 23,3 Prozent stärkste Partei.

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Eine Partei, deren Mitglieder sich in der Vergangenheit auch schon dafür aussprachen, die deutschen Grenzen mit Schusswaffen zu verteidigen, die die Ankunft Geflüchteter mit einem Wasserrohrbruch verglich und mit der Angst vor "Überfremdung" ihre Wähler köderte.

Alaa und Venous fühlen sich durch die Gesetze geschützt: "So einfach kann die AfD nichts verändern."

"Merkel hat schon ein bisschen zum Erfolg der AfD beigetragen", sagt Alaa, als die Kanzlerin im schillernden blauen Sakko auftritt und versucht, trotz historisch schlechtem Ergebnis Haltung zu bewahren. "Hätte sie einen Plan für die Geflüchteten gehabt, wären vielleicht weniger Leute zum Rechtspopulismus übergelaufen." Qussai widerspricht: "Es war ein Notfall. Was hätte sie da schon planen sollen?" Er hat viel über die deutsche Politik gelesen, droppt Namen von politischen Akteuren, kennt die wichtigsten Daten und leitet an diesem Abend quasi die WG-Zimmer-Debatten.

Als die Moderatorin "Merkel-Lager" sagt, wiederholt Qussai die Worte lächelnd

Wenn es um Politik geht, haben die fünf Freunde trotz ähnlichem biografischen Hintergrund unterschiedliche Meinungen: Einer findet die Grünen gut, ein anderer die CDU, der nächste würde die SPD wählen, vielleicht aber auch die FDP. Sie diskutieren über Merkels Flüchtlingspolitik, aber über das globale kapitalistische System und die Frage, wie Katar, Saudi-Arabien und Russland in den Krieg in Syrien involviert sind. Mittendrin kommentieren die jungen Syrer immer wieder die Spitzenkandidaten, die nacheinander von ihren Wahlpartys zugeschaltet werden: Merkel wird zur Mutter der Nation, Lindner zum "typisch Deutschen", jemand fragt, ob Schulz' Glatze eigentlich gepudert wurde. Dann kommt Gauland und er verkündet in seiner ersten Ansprache, dass die AfD Merkel und andere Parlamentarier jagen wolle. "Er ist wieder da", zitiert Hossam das gleichnamige Buch über Hitlers Rückkehr.

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"Warum wählen die Leute eine Partei, von der sie wissen, dass sie rassistisch ist?", fragt Venous. "Weil sie Angst haben und denken, dass die AfD ihnen Lösungen bietet", antwortet Alaa. Aus dem großen Sessel an der Wand ertönt Qussais ruhige Stimme: "Wenn du einen gemeinsamen Feind hast, folgen dir die Leute", sagt er und stopft sich eine Zigarette. "Die Nazis hatten dafür die Juden, die AfD Flüchtlinge." Unter dem Fenster fährt ein hupendes Auto vorbei. Selbst im multikulturellen Neukölln gibt es offensichtlich Menschen, die sich über das Wahlergebnis freuen. Hier haben rund zehn Prozent die AfD gewählt.

Wenn der Krieg in Syrien vorbei ist, wollen Qussai und Alaa selbst entscheiden, ob sie in Deutschland bleiben oder zurückgehen

In dem kleinen Zimmer liegt neben Zigarettenqualm eine komische Mischung aus Unbehagen und Resignation in der Luft: Immer wieder lacht die Gruppe über belanglose Scherze wie "Alternative für dein Frühstück". Als Lindner im blauen Anzug mit rosa Krawatte interviewt wird, pustet Hossam gleichgültig Rauchringe in Richtung des Fernsehers.

Trotzdem bereitet der Erfolg der AfD den Geflüchteten auch Sorge. "Jetzt albern wir vielleicht rum", sagt Alaa, "aber wir haben auch Angst." Zum ersten Mal an diesem Abend wird sein Gesicht ernst. Die AfD hat unzufriedenen Bürgern einen einfachen Schuldigen für ihre Probleme präsentiert: die Leute, die in diesem Raum sitzen. Ihnen ist bewusst, dass allein ihre Herkunft, ihre Haarfarbe oder ihr Akzent sie jederzeit zum Ziel rassistischer Angriffe machen könnten. "Ich hoffe, dass andere Leute unsere Angst wahrnehmen", sagt Alaa.

Aber: Wenn 12,6 Prozent eine Partei wählen, die Hass gegen Geflüchtete schürt, dann gibt es immerhin noch 87 Prozent, die Alaa, Oday, Venous, Hossam und Qussai beweisen können, dass sie sie genau davor versuchen bestmöglich zu schützen.

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