Halb tanzend, halb torkelnd: Die oft schmerzvolle Geschichte des Sommerhits

FYI.

This story is over 5 years old.

Features

Halb tanzend, halb torkelnd: Die oft schmerzvolle Geschichte des Sommerhits

Zwischen alten Sommerhits aus dem Songwriter-Camp Satans und fünf neuen Songs, die es dieses Jahr zum Sommerhit schaffen könnten.

Fotos: Screenshots von YouTube aus den Videos: "Haiyti – Italiano (Official Video) prod. AsadJohn" von HaiytiOfficial | "Gestört aber GeiL feat. Voyce - Millionen Farben (Official Video HD)" von Kontor.TV | "SXTN - Von Party zu Party (Official Video)" von SXTN Baila mi ritmo, hey Macarena, my heart beats like a jungle drum, Ma-Ma-Ma-Ma-Ma-Ma-Ma-Maria, como estas my sweet senorita, livin' so easy with Bacardi Rum und so weiter. Wer bereits beim Lesen etliche unfreiwillige Melodien im Kopf hatte, weiß um seine Macht. Natürlich ist der Sommerhit gemeint. Was hat er dieses Jahr mit uns vor – und gibt es ihn überhaupt noch? Linus Volkmann hat sich auf Spurensuche begeben.

Anzeige

Ja, was denn eigentlich?

Sommerhit, Sommerhit, Sommerhit … Diese Begrifflichkeit besitzt etwas zutiefst Diffuses, doch hat jeder zumindest eine Vorstellung davon, was gemeint ist – und sei diese nur runtergerechnet auf die Komponenten "Sommer" und "Hit". Doch ein wenig näher kann man dem Phänomen schon kommen: Ein Sommerhit steht sinnbildlich für einen großen Charts-Konsens der sonnigen Jahresmitte. Im Idealfall dreht sich der Text gleich schon um Strand, Cocktails und Ferien, so muss man nicht erst schwitzend abwägen, ob es sich nun um einen Sommerhit oder doch nur um einen Hit im Sommer handelt. Damit überhaupt keine Zweifel aufkommen, ist auch folgende Unsubtilität sehr hilfreich: Ein Rhythmus aus der Ecke Salsa, Latin, Samba – irgendwas mit Arschwackeln eben. Wikipedia benennt "In The Summertime" (1970) von Mungo Jerry als größten und "Summertime Blues" von Eddie Cochran (1958) als ersten Sommerhit. Ja OK, für alle Noisey-Leser, die noch nicht hundert sind, sei dennoch lieber mal verwiesen auf das prototypische "Bacardi Feeling" aus den Neunzigern. Dieser Hybrid zwischen Werbeblock und Charts bringt zudem den Sommerhit-Subtext gut auf den Punkt: Hart-Alk Saufen in gleißender Sonne und irgendwann halb tanzend, halb torkelnd von einem Boot (oder der Parkbank) fallen, während es den Freunden auch nicht viel besser geht. "Summer sun, it's time to play / Doing things that feel so good / Get into the motion". Ja, klar, whatever.

Anzeige

Warum es keine Sommerhits mehr geben kann

Der Sommerhit, das muss man in aller Deutlichkeit sagen, war schon immer vornehmlich der feuchte Traum der Musikindustrie. Schließlich kulminiert hier ihr liebstes Geschäftsgebaren: Mit total billigen Abziehbild-Liedchen einfach kurz ganz weit kommen und das trällernde, juristisch hoffnungslos unterversorgte One-Hit-Wonder auspressen wie eine matschige Orange. Davon erholt die sich nicht mehr, drop dead, egal, denn nächstes Jahr wird wieder ein neues Rhythmus-Opfer aus dem firmeneigenen Kerker gezogen.


Munchies-Video: "Die neue Kaffeekultur in China"


Doch der Einfluss der Musikindustrie-Krake hat sich über die letzten Jahrzehnte nicht gerade erweitert. Das Internet in all seinen Facetten veränderte das Business zumindest nachhaltig. So gibt es vor allem längst keine großen medialen Konsensmaschinen mehr – also keine Samstag-Abend-Shows wie Wetten, dass..?, bei denen man mit einem Auftritt tatsächlich einen Sommer-Song übergreifend bekannt machen konnte. Die Unterhaltungsindustrie ist heute diverser, jeder User bekommt vom Streaming-Dienst seine individuelle Playlist zusammengestellt. Ein One-Size-Fits-All-Stück, das irgendwie auf alle passt, ist ein überholtes Konzept innerhalb des punktgenauen Zielgruppen-Targetings. Daher wundert es auch nicht, dass die Reihung der wirklich bekannten Sommerhits die letzten Jahre fast abgerissen scheint.

Anzeige

Warum es trotzdem noch Sommerhits gibt

Das liegt natürlich daran, dass die Musikindustrie vornehmlich geführt wird von fantasielosen Typen nach dem dritten Schlaganfall. Ihre Einfallsarmut zwingt sie förmlich, immer wieder auf tote Pferde zu steigen und "Hüah!" zu schreien. Besonders das einigermaßen in Ehren und Rumba-Pop verstorbene Prinzip des Sommerhits ist der Branche offenbar so lieb, dass man es jedes Jahr einfach erneut probiert. Kostet ja auch nichts, wenn man versucht, bei seinen wohlweislich in die sonnige Saure-Gurken-Zeit hinein veröffentlichten Rohrkrepierern über den Claim "Sommerhit" den ein oder anderen Radio-DJ zu aktivieren, der tatsächlich noch abgehängter ist als man selbst. Man darf sich dennoch nicht täuschen lassen, Sommerhit ist mehr denn je nur noch eine bloße Behauptung denn Realität.

Was aber letztlich schade ist, denn ein echter Sommerhit funktioniert perfekt als Erinnerungs-Trigger. Sein plötzliches Hören nach einigen Jahren kann einem ganz leicht ein verdammt gutes Zeitfenster ins Gedächtnis rufen. Eines, in dem man zum Beispiel immer an diese eine Stelle zum Grillen ging, als man noch die alte Wohnung mit dem winzigen Bad hatte und wie bekloppt mit dieser einen Frau beziehungsweise diesem einen Typen knutschte – wie hießen die noch mal? Zu all dem lief jedenfalls ständig dieses eine Stück, ob man wollte oder nicht.

Markus Lanz, warum hast Du damals bloß Wetten, dass..? versenkt? Siehst du nicht, dass Du uns und den Zombies der Musikindustrie damit auch den quatschig schönen Sommerhit ruiniert hast?

Anzeige

Nun ja, vielleicht klappt es dieses Jahr dann doch mit dem fulminanten Comeback. Ein bisschen Macarena statt immer nur Death Metal und Karate Andi wäre zumindest auch mal wieder schön …

5 Sommerhits aus dem Songwriter-Camp Satans

1. Kaoma "Lambada" (1989)

Einen Sommer lang war die Welt gezwungen, sich an diesem besonders erotischen südamerikanischen Tanz zu versuchen. Kurzlehrgang: Einfach seinem Gegenüber einen Oberschenkel zwischen die Beine stellen, der tut selbiges, dann die Oberschenkel nach oben ziehen und sich gegenseitig die Geschlechtsteile durch die Hose reiben. Wer hierbei nicht all seine Würde verliert, macht es nicht richtig.

2. Bellini "Samba de Janeiro" (1997)

Dieser gelb schillernde Auswurf hat nicht nur eine Jahreszeit zu Schanden geritten, sondern findet sich auch immer wieder verknüpft mit stupiden Fußball-Großevents. Musik wie hartnäckige Akne.

3. Lou Bega "Mambo No.5" (1999)

Die Zuschreibung "nervigster Sommerhit" greift hier einfach viel zu kurz, handelt es sich doch vermutlich um den unerträglichsten Song, der überhaupt je geschrieben wurde.

4. Las Ketchup "Las Ketchup Song" (2002)

Hierzu gab es sogar eine rudimentäre Choreo, die auch mit zwei Promille noch halbwegs zu gestikulieren ist. Kleiner Trost: Las Ketchup sind mittlerweile sicher längst zur Hölle gefahren und müssen dort heiße Lava trinken.

5. Emilia Torrini "Jungle Drum" (2009)

Von kultureller Aneignung möchte man bei diesem Urwald-Kitsch gar nicht anfangen, hier ist einfach alles falsch. Musikjournalisten-Tipp: Den dazugehörigen Ohrwurm mit heftigen Schlägen gegen die Stirn zumindest abmildern.

Anzeige

5 Sommerhits, bei denen man zumindest nicht unmittelbar an Selbstmord denkt

1. Brian Hyland "Itsy Bitsy Teenie Weenie Yellow Polkadot Bikini" (1960)

So sah die Welt vor hundert Jahren aus? Bitte kein schlechtes Wort mehr über die Gegenwart nach Genuss dieses Videos! Der Song ist allerdings klasse. Diese seltsame Kunstsprache des Refrains könnte doch auch Haftbefehl mal aufgreifen. Den versteht man mittlerweile eh viel zu gut.

2. Righeira "Vamos a la playa" (1983)

Der Call to action für alle spanienfreundlichen Fickspechte. Darüber hinaus irgendwie auch der Soundtrack für ein imaginäres Primavera abgehalten in den 80er Jahren.

3. Laid Back "Sunshine Reggae" (1983)

Die besten Karibik-Rhythmen kommen immer noch aus Dänemark.

4. Culture Beat "Mister Vain" (1993)

Call me insane… aber diese Quintessenz von Eurodance sollte man auch Jahreszeiten übergreifend für einen Knaller halten.

5. Dante Thomas feat. Pras "Miss California" (2001)

Unbedrohlicher und körperloser R'n'B für all jene, die ohnehin immer verschämt denken, ihre toten Großeltern sehen ihnen beim Wichsen zu.

5 mögliche Sommerhits für 2017

1. Gestört aber Geil feat. Voyce "Millionen Farben"

Danke für Nichts! Mit solchen Typen haben wir früher unser Boot gestrichen, jetzt sind es erfolgreiche DJ-Attrappen. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, veröffentlichen sie nun auch noch dieses Stück Pop-Stuhl. Dann schon lieber Petting mit Los Del Rio!

Anzeige

2. SXTN "Von Party zu Party"

Ein richtig gutes, ja, sogar ziemlich smartes Stück – zwei Zuschreibungen also, die die Chancen auf einen Sommerhit enorm sinken lassen.

3. Haiyti "Italiano"

Es wird Pizza gegessen, im Hot Tub gesessen und Haiyti trägt einen Badeanzug. Vielleicht sind wir hier Zeuge der unheiligen Ehe zwischen Trap und Sommerhit? Das würde das Jahr 2017 nun wirklich unvergesslich machen.

4. Enrique Iglesias ft. Descemer Bueno, Zion & Lennox "Subeme La Radio"

Die Klickzahlen von an die 400 Millionen (!) verraten auf jeden Fall Potenzial in der Breite, dazu noch von Schweiß glänzende Bodys und irgendwas auf Spanisch. Melodisch besitzt die Nummer außerdem die Austauschbarkeit von "Menschen Leben Tanzen Welt" – mit anderen Worten also: Gute Chancen für einen großen Sommerhit!

5. Bibi H "How it is (wap bap … )"

OK, falls es aber dann doch der werden sollte, stürze ich mich in mein Schwert. Irgendwo hört's ja wirklich auf.

Folge Noisey auf Facebook, Instagram und Snapchat.