Wasserwerfer, besetzte Häuser und "Watschengassen": Wie sich Wiens Protestkultur entwickelt hat

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Wasserwerfer, besetzte Häuser und "Watschengassen": Wie sich Wiens Protestkultur entwickelt hat

Protestkultur ist einem stetigen Wandel unterworfen – auch in Wien. Wir zeichnen die Entwicklung der letzten Jahrzehnte nach.

Fotos, wenn nicht anders angegeben, mit freundlicher Genehmigung von der Arena

Es war ein skandalöses Urteil mit tragischen Folgen. Am 14. Juli 1927 wurden im burgenländischen Schattendorf zwei Frontkämpfer freigesprochen, die ein halbes Jahr zuvor bei Auseinandersetzungen zwischen dem Schutzbund und den Frontkämpfern im Gasthof Tscharmann ein 6-jähriges Kind und einen Hilfsarbeiter erschossen hatten.

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Tötungsdelikte an Arbeitern wurden zu dem Zeitpunkt vielfach noch als Kavalierdelikt behandelt. Am Tag darauf protestierte eine wütende Menge vor dem Justizpalast. Die Lage eskalierte, Steine flogen, die Polizei begann sinnlos in die Menge zu schießen. Am Ende starben 84 Demonstranten und fünf Wachbeamte, zusätzlich wurden hunderte Menschen verletzt.

Die Julirevolte ist ein trauriges und leider passendes Beispiel für das Gewaltpotential von spontanen und geplanten Demonstrationen der Vor- und Zwischenkriegszeit. So und ähnlich hat es an vielen Stellen in Europa ausgesehen. Nach dem Krieg unterlief die Demonstrationskultur einen tiefgehenden Wandel. Die Akzeptanz von Gewalt als Mittel zur Erreichung politischer Ziele wurde über Jahrzehnte geringer.

Foto: #unibrennt | flickr | by CC 2.0

Das war in Österreich nicht anders. Noch 1950 kam es im Rahmen der "Oktoberstreiks" zu Auseinandersetzungen zwischen roten und kommunistischen Gewerkschaftern. Ob es sich damals wirklich um einen ersthaften Putschversuch der KPÖ handelte, ist nach heutiger Lesart eher umstritten. Der Gewerkschaftsführer Franz Olah, der später eine wichtige Rolle bei der Wiedergründung der Kronen Zeitung spielen sollte, stattete sozialdemokratische Gewerkschafter mit Schlagstöcken aus, um den kommunistischen Rollkommandos "schlagkräftig entgegenzutreten".

Das ist heute nur noch schwer vorstellbar, es waren im Grunde aber ohnehin eher Nachwehen von Auseinandersetzungen der Zwischenkriegszeit. Paradoxerweise legte wohl Olah selbst, gegen dessen Absetzung in der SPÖ 1964 die Bauarbeiter auf die Straße gingen, die Grundlagen für Österreichs schwindende Protestkultur. Das Raab-Olah-Abkommen von 1961 gilt als Beginn der institutionalisierten Sozialpartnerschaft – und diese wiederum als Gift für die Protestkultur. Aber dazu später mehr.

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Die drei jungen Männer, die später einmal berühmt werden sollten, setzten die Borodajkewycz-Affäre in Gang

Wir sind immer noch in den 60ern. Jetzt folgt eine Geschichte, in der einige prominente Namen, aber leider auch ein toter Pensionist vorkommen. An der damaligen Hochschule für Welthandel in der Wiener Franz-Klein-Gasse, die später die Wirtschaftsuniversität (WU) werden sollte, lehrte der Professor Taras Borodajkewycz (nein, das ist noch nicht der prominente Name).

Borodajkewycz war nicht gerade ein Sympathieträgter. Er war bereits 1934 Mitglied der damals noch verbotenen NSDAP geworden, hatte es aber geschafft, nach dem Krieg als "Minderbelasteter" eingestuft zu werden und durch gute Kontakte zur ÖVP einen Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte zu bekommen. In seinen Vorlesungen machte Borodajkewycz aus seinen Sympathien für die Nazis kein Geheimnis, lobte Hitlers Rede am Heldenplatz und nannte Rosa Luxemburg eine "jüdische Suffragette und Massenaufpeitscherin".

Der 67-jährige Ernst Kirchweger wurde von dem Neonazi und Amateurboxer Kümel niedergeschlagen und starb auf der Stelle. Kirchweger gilt als das erste politische Todesopfer der 2. Republik.

Im Publikum saß Februar 1962 allerdings auch ein gewisser Ferdinand Lacina, der Mitschriften anfertigte und diese an einen gewissen Heinz Fischer weitergab. Dieser gewisse Heinz Fischer schrieb unter anderem in der Arbeiter-Zeitung darüber, gab die Mitschriften allerdings auch an einen gewissen Oscar Bronner weiter, dessen Vater eine Kabarett-Sendung im ORF gestaltete (und der bekanntlich später eine Zeitung namens Der Standard gründen sollte).

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Die drei damals noch sehr jungen Männer setzten damit die Borodajkewycz-Affäre in Gang. Im Jahr 1965 demonstrierten ein "Antifaschistisches Studentenkomittee" gemeinsam mit Gewerkschaftern und ehemaligen Widerstandskämpfern gegen die Beschäftigung Borodajkewycz.

Der 67-jährige Ernst Kirchweger wurde von dem 25-jährigen Neonazi und Amateurboxer Gunther Kümel niedergeschlagen und starb auf der Stelle. Kirchweger gilt als das erste politische Todesopfer der Zweiten Republik. Kümel, der bereits zuvor durch rechtsextremistische Taten aufgefallen war, wurde wegen Totschlags angeklagt, aber letztlich nur wegen Notwehrexzess zu 10 Monaten Haft verurteilt. 25.000 Menschen nahmen am Trauermarsch für Kirchweger teil, heute erinnert das 1990 besetzte Ernst-Kirchweger-Haus (kurz EKH) in Favoriten an den Toten.

In Österreich wurden ökonomische Konflikte über die Sozialpartner ausgetragen, nicht auf der Straße

Verglichen mit Berlin – und wenn wir schon dabei sind, auch mit dem Rest der Welt – war 1968 in Wien ein relativ ruhiges Jahr. Es ist bis heute umstritten, ob es das Jahr der Studentenunruhen in dieser Form in Wien überhaupt gegeben hat und welche Gründe ihr Fehlen haben könnte. Auch die 1970er, vor allem die frühen, waren ein innenpolitisch verhältnismäßig demonstrationsarmes Jahrzehnt. Politikwissenschaftlich ist das durchaus erklärbar und vor allem mit einem Namen verbunden: Bruno Kreisky.

Die Ära Kreisky wird mit gesellschaftlichem Fortschritt, Demokratisierung und zunehmender sozialer Gerechtigkeit verbunden. Sprich: Es gab vermehrt Möglichkeiten, seine Anliegen in institutionalisierten Kanälen vorzubringen und weniger Notwendigkeiten, seinen Protest auf die Straße zu bringen. Das ist durchaus etwas, das sich durch die österreichische Nachkriegsgeschichte zog. "In Österreich wurden und werden viele Interessen, insbesondere ökonomische, innerhalb des Systems selbst verhandelt", sagt Dr. Martin Dolezal.

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Der Politikwissenschaftler beschäftigt sich an der Uni Wien mit Protestkultur. "Ab den 70er Jahren hat sich dann gezeigt, dass das insbesondere im Bereich Umweltschutz so nicht mehr ausreichend möglich war." Dementsprechend sei die Quantität an Protestereignissen danach auch angestiegen, mit einem Höhepunkt rund um den Protest gegen die Schwarz-Blaue Regierung im Jahr 2000.

Österreich war lange ein Land, in dem ökonomische Konflikte über die Sozialpartner oder andere Institutionen ausgetragen wurden. Bei den Neuen Sozialen Bewegungen, insbesondere den Konflikten der Umweltbewegung, änderte sich das. Teilweise, weil die Sozialdemokratie sie unterschätzte, teilweise aber auch, weil die Forderungen der Umweltbewegung mit den Forderungen der Gewerkschaften kollidierten.

So trieben die Umwelt-, die Anti-AKW- und die Friedensbewegung in den späten 70ern und frühen 80ern die Menschen auf die Straße. 1980 versammelten sich am Rathausplatz in Wien für eine Friedenskundgebung zum Beispiel 70.000 Menschen. Die Besetzung der Hainburger Au und besonders der völlig überzogene Polizeieinsatz am 19. Dezember 1984, bei dem 800 Polizeibeamte auf knapp 3000 Besetzer trafen und mit Schlagstöcken knapp 20 Demonstranten verletzten, werden immer wieder als Anstoß für die (Wieder-)Erweckung von zivilem Ungehorsam in Österreich genannt.

Die Räumung der Aegidigasse/Spalowskygasse war ein Grüdungsmythos vieler politischer Organisationen

Parallel dazu entwickelte sich dann vor allem in den 80ern in Wien eine Hausbesetzer-Szene. Die Stadt versuchte sie anfangs einzuhegen, kapitulierte aber schnell vor den lokalen Problemen und ließ die Häuser gewaltsam räumen. Die Räumungen begannen 1983 öffentlichkeitswirksam mit Wiens erstem autonomen Jugendzentrum in der Gassergasse (GaGa), dem erst zwei Jahre zuvor von Bürgermeister Leopold Gratz hohe Subventionen zugesprochen wurden.

Es gab über 100 Festnahmen, Bewohner wurden krankenhausreif geschlagen. Es wird nicht die letzte Aktion gegen die Hausbesetzerszene im Wien der 80er bleiben: 1988 wird das Haus in der Aegidigasse/Spalowskygasse geräumt. Es kommen Wasserwerfer zum Einsatz, die gewaltsame Räumung erfolgte am 11. und 12. August und dauerte zwei Tage. Augenzeugen erinnern sich an Polizisten, die "Watschengassen" bilden, durch die die Bewohner getrieben wurden.

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Die Besetzung des Auslandsschlachthofs St. Marx im Jahr 1976.

Die Gassergasse und die Aegidigasse/Spalowskygasse verschwanden, ihre Bewohner aber nicht: Sie fanden Anschluss in der Arena, dem WUK, dem späteren EKH. Auch zahlreiche politische Gruppierungen in Österreich haben ihren Gründungsmythos in den Hausbesetzungen. Gemeinsam mit der überraschend gewaltsamen Demonstration gegen den Opernball 1987, die sich auch die nächsten Jahre durchziehen sollte, und den Anti-Waldheim-Protesten bildeten die gewaltsamen Räumungen und ihr Widerstand die Basis für die relativ wilden Spät-80er.

Das Gewaltpotential bei Demonstrationen in Österreich ist niedrig, aber das war es auch schon früher

Wie schaut die Situation heute aus? Selbstverständlich sind Überschriften wie "Demo-Schlacht war Vorstufe zum Bürgerkrieg" in der Krone ziemlich übertrieben. "Das ist alles eigentlich kein Vergleich mehr zu früher", sagt einer, der im Wien der 80ern viele Demonstrationen miterlebt hat. Dass Demonstrationen wie die rund um den Akademikerball 2014 so eine Aufmerksamkeit bekamen, würde zeigen, wie ruhig es in Wien geworden sei.

Grundsätzlich widerspricht dem keiner der Gesprächspartner, mit dem ich für diesen Artikel geredet habe. Allerdings gibt es durchaus Ergänzungen, die manches in ein anderes Licht rücken: Ja, das Gewaltpotential bei Demonstrationen in Österreich sei heute ziemlich niedrig, sagt einer, der sich professionell damit beschäftigt. "Es war im europäischen Vergleich aber auch eigentlich nie sehr hoch."

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Für die These, dass es auf den Demonstrationen selbst ruhiger geworden sei, gibt es viel Anekdotisches – und wenig wirklich Belastbares. "In Österreich ist die Datenlage in der Erforschung von politischem Protest leider eher schlecht", sagt Martin Dolezal. Man müsse mit allen Erkenntnissen vorsichtig umgehen. Dolezal arbeitet an der Uni Wien gerade daran, das zu ändern – und zwar im Rahmen des Projekts "Die österreichische Protestarena im 21. Jahrhundert", für das im Mai mit ersten Ergebnissen gerechnet wird. Aber grundsätzlich wird die schlechte Datenlage insbesondere für die letzten Jahrzehnte wohl gleich bleiben.

"Heute besteht das Publikum auf Demonstrationen mehr aus Studierenden, die nicht in verrohten Elternhäusern aufgewachsen sind und über bürgerliche Jobs verfügen oder diese einmal bekommen wollen, also – ganz wertfrei gesagt – mehr zu verlieren haben."

Wenn man nach Gründen für das schwindende Gewaltpotential sucht, hört man verschiedene Thesen, die für sich allein nicht alles, in der Kombination aber schon einiges mehr erklären. Zum einen sei in früheren Generationen sowohl die Utopie als auch die Apokalypse präsenter gewesen. Es gebe nicht mehr den sauren Regen, der die Wälder angeblich in 10 Jahren in Gerippe verwandeln würde.

Aber auch immer weniger den theoretischen Sozialismus, der sich Europa in 20 Jahren umsetzten ließe. Die Diskussionen sind vielschichtiger, realistischer – aber auch langweiliger und vielleicht weniger dringlich geworden. Genauso wie sich Herzen nicht mit einem Binnenmarkt gewinnen lassen, treibt die Aussicht, die Zahlen für die Obergrenze vielleicht um 10.000 Menschen nach oben treiben zu können, die Menschen nicht mehr auf die Barrikaden. Eine Generation, die mit als real empfundener Hoffnung auf Revolution und Gewalt als legitimen Mittel zur Herbeiführung aufgewachsen ist, ist abgetreten.

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"Die Linke" ist bürgerlicher geworden – auch durch die Bildungsexpansion ab den 60er Jahren

Die autonome Szene sei weitgehend verschwunden, was grundsätzlich kein österreichisches Phänomen ist. Auch im deutlich größeren Deutschland war das letzte "Hoch" militanter Demonstrationen in der 80ern. Heute kippen auch dort Demos potentiell immer dann, wenn sich das Potential aus dem Bundesgebiet und darüber hinaus versammelt. Davon profitiert teilweise auch Wien: Bei den Demonstrationen gegen den Akademikerball zwischen 2012 und 2014 waren viele Teilnehmende aus Deutschland.

Außerdem hat sich die Zusammensetzung innerhalb der "Linken" verändert. Die Jugendlichen, die damals in der Arena oder in den besetzen Häusern in der Aegidigasse/Spalowskygasse verkehrten, waren oft Ausreißer und Drogensüchtige vom Rande der Gesellschaft, die in den kleinen, semi-alternativen Gesellschaftsformen eine Heimat fanden. Nicht alle, aber doch viele.

Heute besteht das Publikum auf Demonstrationen mehr aus Studierenden, die nicht in verrohten Elternhäusern aufgewachsen sind und über bürgerliche Jobs verfügen oder diese einmal bekommen wollen, also – ganz wertfrei gesagt – mehr zu verlieren haben. Dass ist natürlich nicht automatisch schlecht; und auch eine Folge der Bildungsexpansion ab den 60er Jahren. Aber es verändert in Kombination mit dem Sterben der "Arbeiterkultur" die Zusammensetzung der "Linken" und macht sie tendenziell reicher und gebildeter. Das macht gleichzeitig auch die Wahrscheinlichkeit niedriger, ein Verbrechen zu begehen.

Beim Thema Asyl gehen die Rechten genauso auf die Straße wie die Linken

Viel interessanter ist aber eigentlich eine andere Entwicklung, erklärt Dolezal: "Beim Thema Asylpolitik erleben wir gerade das Phänomen, dass beide Seiten ihre Positionen auf die Straße bringen." Darin sieht der Experte eine eher neue Erscheinung: "Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass Rechtspopulisten die Straße eher nicht nutzen, solange ihre Positionen im Parlament vertreten sind."

Das habe sich geändert: In Deutschland war es vor allem Pegida als zwar lokal begrenztes, aber durchaus massentaugliches Gesellschaftsphänomen. Aber auch die Demonstration der Identitären mit knapp 800 Teilnehmern und 1000 Gegendemonstranten war von einer neuen Qualität.

Ins Wien der 80er wird es wohl nicht wieder zurückgehen. Dafür haben sich die Gegebenheiten zu sehr geändert – darin sind sich alle Befragten einig. Und trotzdem: Es bewegt sich immer noch etwas in Österreichs Demokultur.

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