Menschen

Diese Berlin-Touristen sammeln freiwillig Müll – Warum zur Hölle tun sie das?

Auf der verwirrendsten Sightseeing-Tour meines Lebens traf ich Berlin-Touristen, die Berlin für "wahnsinnig sauber" halten, und Berliner, die Berlin-Touristen "wunderbar" finden.
Menschen in orangefarbenen Warnwesten sammeln Müll

Es regnet in Strömen an einem nasskalten Septembertag und etwa 50 Touristen stehen in einem Berliner Park und sammeln Müll. Sie könnten in ein Spa gehen, in ein Café oder wenigstens zur Blue Man Group. Aber sie sammeln Müll. Freiwillig sogar. Warum? Oder wie mein Fotograf fragt: "Warum verbringen die ihren Urlaubstag so, wenn ich nicht mal meinen Arbeitstag so verbringen will?"

Der Sightseeing-Anbieter Sandemans New Europe veranstaltet schon seit 2016 in mehreren europäischen Großstädten Saubermach-Touren. Die Teilnehmenden bekommen eine kostenlose Stadtführung und ein Picknick mit Freibier. Im Gegenzug räumen sie für eine Stunde einen Park auf. Am ersten Berliner Event nahmen 75 Menschen teil, auch beim zweiten, bei schlechtem Wetter, sind es noch 50. So viele kommen laut Unternehmen auch in anderen Städten. Das Konzept funktioniert offenbar. Und das verstehe ich nicht.

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Also stehe ich ein paar Stunden vorher am Treffpunkt an der S-Bahnstation Nordbahnhof. Was ist so toll am Müllsammeln im Urlaub? Kamerateams von Pro7, RTL und N24 sind gekommen. Wohl ebenfalls, um zu gucken, ob die Menschen, die hier auf die Führung warten, ihren Verstand verloren haben.

Unterwegs mit der freundlichsten Reisegruppe der Welt

In kleinen Gruppen starten wir an der Gedenkstätte Berliner Mauer. Unser Guide Georgia manövriert elf Leute durch die deutsch-deutsche Geschichte und bis zum Ernst-Thälmann-Park. Unterwegs frage ich Young aus Singapur, was er sich dabei gedacht habe, freiwillig an der Saubermachaktion teilzunehmen.

Eine Person trägt einen Regenschirm und sammelt Müll

Young, zum ersten Mal in Berlin, sagt, er habe absolut keinen Plan, was ihn erwarte, aber generell versuche er, einen Ort immer sauberer zu hinterlassen, als er ihn vorfindet. Nicht sehr verwunderlich, wenn einer aus Singapur kommt, der Stadt in der Kaugummispucken verboten ist und an der Christian Kracht einmal kritisierte, dass ihre Straßen sauberer als die in Zürich seien – und "das Gegenteil von Anarchie und Irrsinn" herrsche. Aus dem Mund eines Bewohners dieser also sehr reinlichen Stadt ist das, was Young als Nächstes sagt, dann doch eine Überraschung: "Ich meine, wie schlimm kann die Aufräumaktion schon sein, so wahnsinnig sauber wie Berlin ist?" Außerdem gebe es danach Freibier, da sei also keine Arbeit.

Freibier hat auch schon andere motiviert, aber Erik, 22 und aus Taiwan, hat sich nicht deswegen entschieden, mit einem Müllsack durch einen grauen Berliner Septembertag zu stapfen: Er liebe die Natur und hasse es, wenn Menschen darin ihren Müll hinterlassen, sagt er. In den Bergen Taiwans habe er auch schon bei Müllsammelaktionen mitgemacht. Und jetzt eben in der Stadt. "Hier mit Menschen aus aller Welt zusammenzuarbeiten, das ist doch eine tolle Erfahrung."

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Auch Dania aus Sydney und Jamie aus Toronto, die sich gerade über den Berliner Mauerpark-Flohmarkt unterhalten ("einfach verrückt!", "Ja, oder? So vielfältig!"), finden nichts Schlechtes daran, in ihrem Urlaub Müll zu sammeln. "Es klang einfach nach einer verrückten Erfahrung", sagt Jamie, 22. Berlin habe ihn mit offenen Armen empfangen und da wolle er etwas zurückgeben: "Es fühlt sich einfach gut an, eine Pause vom Sightseeing einzulegen und ein bisschen mit anzupacken." Und Dania bestätigt ihn mit einem Satz wie ein Screenshot aus einem Couchsurfing-Profil: "Ich gebe gerne zurück und liebe es, neue Leute kennenzulernen. Und dafür bin ich hier genau richtig."

Ordnungsliebende Singapurer, naturverbundene Taiwaner, achtsame Backpackerinnen: Eins ist sicher, denke ich, unter all diesen Leuten bin ich der schlechteste Mensch. Aber erzählen kann man viel. Die Aufräumaktion kommt erst noch. Und wir werden schon sehen, wie ausgeglichen die Teilnehmenden reagieren, wenn sie eine volle Babywindel aus einem Ostberliner Gebüsch angeln.

Nicht jeder hat verstanden, worum es bei der Aufräumaktion geht

Kurz vor dem Park starrt eine Teilnehmerin den Boden an, als suche sie die Markierung zum Fluchtweg. "Ich würde wirklich sehr gerne bleiben", sagt sie. "Aber nicht so sehr?", fragt eine der Guides. Ja nun, das sei etwas blöd, aber die Freunde warten, sagt die Teilnehmerin, bedankt sich und verschwindet, kurz bevor die Aufräumaktion beginnt. Das sei jetzt sehr seltsam, sagt die Reiseführerin, aber die Frau sei vorhin wohl etwas zu spät gekommen und habe nicht mitbekommen, worum es bei der Tour geht. Also nur ein Kommunikationsproblem. Und ich hatte mich schon fast besser gefühlt, weil ich dachte, doch nicht der einzige zu sein, den Müllsammeln nicht glücklich jauchzen lässt.

Ein Mann sammelt Müll
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Aber es gibt noch andere Menschen, die hier etwas verloren wirken. Jasmin und Mariana aus Brasilien laufen mit nassen Haaren durch den gerade wieder einsetzenden Regen.

"Habt ihr schon mal so eine Aufräumtour gemacht?", frage ich.
"Was ist das?", fragt Mariana.
"Na, ihr sollt wohl gleich ein bisschen Müll aufsammeln. Wusstet ihr das nicht?”
Beide schütteln den Kopf.

Während ich noch erwarte, dass die Gruppe gleich um zwei weitere Teilnehmerinnen schrumpft, sagt Jasmin: "Ach, das ist OK. Es ist schön, etwas Gutes für die Stadt zu tun und für die Menschen, die darin leben." Offenbar bin ich nur von Leuten umgeben, die im Urlaub Bücher von Osho lesen. Alle sind gut drauf, aber warum auch nicht. Denn sie genießen schließlich – das vergisst man vielleicht – ihren Urlaub. Und im Urlaub will man was erleben.

Der ganze Touristen- und Medientross versammelt sich nun unter einem 15 Meter hohen Denkmal, der riesenhaften Rübe von Ernst Thälmann. Dem Kommunisten hätte der Anblick vielleicht gefallen. Denn nicht nur im Kommunismus sind alle gleich, sondern auch der Putztrupp in orangefarbenen Warnwesten sponsored by Berliner Stadtreinigung. Die Teilnehmenden werfen die Westen über, die Kameraleute versuchen, sich nicht gegenseitig durchs Bild zu laufen. "Ja, dieser Park sieht ziemlich sauber aus, und ehrlich gesagt, er ist es auch", sagt eine Mitarbeiterin des Tour-Veranstalters. Deshalb solle man kleine Dinge sammeln. Zigarettenstummel: ja. Spritzen: bitte nicht.

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Erik krempelt die Ärmel hoch und Young sagt: "Endlich geht's los." Mit einer übergroßen Holzpinzette zieht er konzentriert einen Kronkorken aus dem DDR-Pflaster, als würde er einen sehr großen Fisch filetieren. Den Spaß an der Sache scheint er immer noch nicht verloren zu haben und auch alle anderen beantworten meine Frage nach ihrer Laune mit: "Great!"

Müll

Ein paar Meter weiter macht sich Reinhard Kaiser bereit. Der 66-Jährige ist allerdings kein Tourist, sondern dessen natürlicher Gegner, also Einheimischer. Vielleicht kann er, so ganz ohne das schwebende Lebensgefühl eines Urlaubers, die Popularität dieser Aufräumaktion erklären?

Als Berliner ein bisschen mit aufzuräumen, das sei doch charmant, sagt Reinhard Kaiser. Und Touristen finde er "wunderbar", schließlich beleben sie die Stadt. Touristen-Bashing sei dagegen Unsinn: "Die Leute, die sich über den Berliner Tourismus beklagen, verbringen ihre Ferien sicher nicht auf ihrem Balkon. Kein Ort auf dieser Welt ist vor deutschen Touristen sicher. Ob in der Antarktis oder an irgendeinem einsamen Fluss in Ostsibirien." Überhaupt sei Berlin auch ohne Touristen ziemlich verdreckt und deshalb – Entschuldigung, er müsse jetzt ans Werk – packt Herr Kaiser hier mit an.

Berliner, die finden, dass Touristen die Stadt schöner machen, und Touristen, die genau das tun. Hier treffen sie aufeinander. Wenn man dem Veranstalter glaubt, hat die Tour ihren Zweck erfüllt – und das nicht nur, weil darüber mehr Medien berichten als über jede andere Tour. Als in Barcelona touristenfeindliche Graffiti auftauchten, habe man mit der Aktion zeigen wollen, dass Städte auch von Touristen profitieren. Und auch Rona Tietje, die Wirtschaftsstadträtin von Berlin-Pankow, hält diesen Nachmittag für einen Schritt in Richtung nachhaltigem Tourismus. In anderen Ländern seien solche Aufräumaktionen ohnehin längst Normalität, das hätten ihr bei der ersten Veranstaltung im Mauerpark Teilnehmende aus den USA und Großbritannien gesagt.

Müll

Bleibt noch die Frage, was das alles bringen soll, nachdem man mit seinem Flug nach Berlin doch tonnenweise CO2 in die Atmosphäre geblasen hat. Natürlich nichts, darüber macht sich auch keiner der Teilnehmenden Illusionen. Es wäre auch ein falscher Vergleich. Eine "Aber die Fridays-For-Future-Aktivisten essen bei McDonald's"-Erbsenpickerei. Auch so geben die Menschen hier genug zurück – obwohl sie es gar nicht müssten. Und sie scheinen aufrichtig Spaß dabei zu haben. Dass wir Journalisten das zuallererst mal kurios finden, sagt viel mehr über uns als Touristen aus als über alle Menschen, die hier gerade gut gelaunt im Regen ihr wohlverdientes Bier trinken.

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