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Kommentar

Die Streaming-Ära frisst meine Seele auf

Es scheint, als kämen jede Woche mindestens zwei Alben, zehn Singles und ein Capital-Bra-Song raus, auf die ich mich freuen sollte. Ich hasse es.
Kanye West make music great again
Symbolfoto: Imago | MediaPunch

Jedes Jahr um diese Zeit verfolgen sie uns: die Jahresrückblicke. Und dank Algorithmen und digitalem Fußabdruck werden wir immer persönlicher daran erinnert, was wir in den letzten 12 Monaten so alles erlebt haben und erleben mussten. So beschenkte uns neulich auch Spotify mit einem personalisierten Jahresrückblick auf unsere Hörgewohnheiten 2018. Für viele ein warmes, nostalgisches Nest, in das man sich allzu gern gen Jahresende reinkuschelt. Für mich war es eine Konfrontation damit, was ich dieses Jahr alles verpasst und womit ich meine Zeit verschwendet habe.

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Das bunt blinkende Musik-Karussell scheint sich immer schneller und schneller zu drehen. Streamingdienste sind ein Teil davon. 2018 drehte sich das Karussell gefühlt so schnell, dass seine Aberhunderte Lämpchen, Neonröhren und LEDs zu einer einzigen, leuchtenden Regenbogen-Schliere verzerrt wurden. Das ist zwar ziemlich trippy und irgendwie schön – aber macht es einem auch schwer, einzelne Highlights darin zu erspähen. Und das beginnt meine Seele aufzufressen.

Dieser kreiselnde, kreischende und dampfende Licht-Tornado scheint sich so schnell zu drehen, dass ein bloßes Blinzeln bereits Anxiety-Attacken auslösen kann, etwas in der Nanosekunde des Augenschließens zu verpassen. Und 2018 kann man es sich nicht erlauben, etwas zu verpassen – schon gar nicht als Musikjournalistin. Das ist anstrengend. Ja, die Streaming-Ära ist verdammt anstrengend.


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2018 wurde Lil Waynes schon mystisch anmutendes Tha Carter V releast. Ich habe es bis jetzt noch nicht zuende gehört. Und bis ich die 25 (!) Tracks von Skorpion noch einmal durchgehört habe, ist Drakes Sohn vermutlich alt genug, um einen eigenen vernichtenden Realtalk-Song gegen seinen Vater aufgenommen zu haben. Den ich dann vermutlich auch nur einmal anhören und dann vergessen werde.

Es geht so weit, dass ich bereits einen Vorab-Stream zum neuen Tua-Album bekommen habe und gerade mal sechs Songs davon gehört habe – was mein 20 Jahre altes Ich vermutlich mit Bambushieben auf die Fußsohlen bestraft hätte. Zu recht!

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Die Licht- und Schattenseiten der Technologie

Es scheint, als kämen jede Woche mindestens zwei Alben, zehn Singles und ein Capital-Bra-Song raus, auf die ich mich freue. Und ich komme nicht klar damit.

Jede große Erfindung hat Licht- und Schattenseiten. Christstollen? Rosinen und Marzipan. Instagram? Selbsthass und Internetsucht. Investitionen in deutsche Entertainment-Formate? Dogs of Berlin.

So geben Streamingdienste endlosen Zugriff auf Musik und das innerhalb von Sekunden nach deren Release. Für so gut wie gar kein Geld. Das ist toll. Aber wir können all die Musik nicht mehr verdauen. Es ist komplett paradox.

Ich möchte nicht wie euer Opa klingen, aber früher musste man für Musik arbeiten. Emotional und im eigentlich Sinne des Wortes. Seien das CDs gewesen, die im WOM direkt vergriffen waren und man Tage auf die nächste Lieferung warten musste. Oder Mini Discs, die man eigenhändig bespielen und rumschleppen musste und das trotzdem super komfortabel fand. Oder später MP3-Downloads, die bei jedem Song drohten, den eigenen Computer in einen Atomreaktor kurz vor der Kernschmelze zu verwandeln. Es verlangte Vorbereitung, Konzentration und Risiko, neue Musik zu konsumieren.

Musikhören wird zur Pflicht, die man schnellstmöglich erledigen muss

Heute kann ich das neue OG-Keemo-Mixtape runterladen, während ich den allmonatlichen Schwangerschaftstest in meinen Urin dippe und bete, weil ich schon wieder die Pille verschissen habe. Das ist theoretisch toll. In der Praxis nervt es absurderweise aber brutal.

Denn wenn Musik ein einziges All-You-Can-Eat-Buffet ist, dann ist es klar, dass unsere Generation Nimmersatt sich so vollstopft, dass wir gar keine Zeit mehr haben, die Musik richtig zu verdauen.

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Ich hetze mich heute durch Alben, als sei der Leibhaftige persönlich hinter mir her. Wenige schaffen es, über Wochen hinweg weiter gehört zu werden. Was nicht direkt wieder vergessen wird, hat Glück und landet fragmentarisch in einer meiner Playlisten. Ich hasse mich dafür. Meine musikalische To-Do-Liste ist so lang wie der Kassenbeleg eines Wochenendeinkaufs einer alleinerziehenden Mutter mit sechs Kindern. Und mein Nervenkostüm gleicht dem Ihren.

Und das Schlimmste ist, dass wir selbst daran schuld sind.

Die Künstlerinnen und Künstler würden wahrscheinlich nicht so viel Musik veröffentlichen, wenn die Fans (und ihre Vertragspartner) nicht danach verlangen würden. Sie versuchen den ständig wechselnden Anforderungen ihrer Fanbase gerecht zu werden. Einer Fanbase, die wie tollwütige Vogelkinder im Nest sitzt und mit weit aufgerissenen Schnäbeln danach verlangt, noch mehr in den Hals gestopft zu bekommen. Man will schließlich nicht riskieren, der Typ zu sein, über den Noisey irgendwann einen "Was wurde eigentlich aus …"-Artikel schreibt.

Der Druck der Fans und der Industrie lastet vor allem auf den Künstlern

Hinzu kommt, dass sich die Musikindustrie in den letzten paar Jahrzehnten stark gewandelt hat. Um von Musik leben zu können, muss ein Künstler deswegen heute mehr releasen, mehr touren, mehr Präsenz zeigen, von allem mehr, mehr, mehr, um am Ende ein Bruchteil des Geldes zu verdienen, das man früher wahrscheinlich schon mit einer Top-20-Single verdient hat.

Am Ende der Kette stehen wir als Konsumierende, die immer mehr essen wollen, aber dabei das Schmecken verlernt haben.

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Dass mit alldem auch ein qualitativer Verlust der Musik unvermeidbar ist, ist wie immer Ansichtssache. Ich für meinen Teil habe mir aber im letzten Jahr öfter die Frage gestellt: Ist Musik, vor allem Deutschrap, wirklich so scheiße geworden oder nur meine Hörgewohnheiten?

Ich liebe Musik. Ich habe ihr meinen Beruf, die Rettung vor Smalltalk und mein Seelenheil zu verdanken. Aber sie fühlt sich mehr und mehr wie eine Pflicht an. Wie Zwangsernährung. Und das hat sie bei Gott nicht verdient. Soulfood serviert man einfach nicht durch einen Schlauch.

Was also tun? Sich damit abfinden, dass man Musik nie wieder so konsumieren wird wie früher? Spotify-Entzugskliniken für Musikjournalisten eröffnen? Oder sich einfach mit dem individuell Schaffbaren anfreunden, auch wenn das bedeutet, dass die eigene Fomo ständig am Ärmel zupft und nach Futter kräht?

Ich weiß es nicht. Vielleicht warten wir einfach mal das neue Haftbefehl-Album ab. Generell ist das eine gute Antwort auf alle unbeantworteten Fragen, die euch 2018 noch so umtreiben sollten. Der hat sich mit Releases in den letzten Jahren nämlich gnädigerweise zurückgehalten. Meine To-Hear-Liste dankt ihm dafür.

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