Sex

Wie mir ein Amateur-Doktor fast eine Spezialbehandlung verpasste

Field Notes: Anekdoten aus dem Arbeitsalltag bei VICE – Teil 2
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illustriert von Sina Schlerf
Field Notes: Anekdoten aus dem Arbeitsalltag bei VICE
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Dieser Artikel ist Teil von "The Final Issue", der letzten deutschen Printausgabe von VICE

Wir recherchierten 2015 für die Dokumentation "Monster Meat". Darin ging es um eine Szene, in der sich meist homosexuelle Männer medizinisch bedenklich den Genitalbereich mit flüssigem Silikon aufspritzen lassen. Wir wollten die darin involvierten "Doktoren" kennenlernen, um mehr über diese halblegale Praxis zu erfahren.

Eines Nachmittags erhielt ich einen Anruf, und jemand fragte mich ohne Kontext, ob mein Termin am kommenden Dienstag um 13:30 Uhr stehen würde. Ich bekam die Anweisung, zu einer Adresse in einer Stadt ein paar Autostunden von Berlin entfernt zu fahren. Welchem Termin ich da gerade zugestimmt hatte, wusste ich nicht. 

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"Sollte ich noch etwas beachten?", fragte ich ins Blaue hinein.

"Der Eingriff erfolgt dann direkt vor Ort nach Barzahlung. Die lokale Betäubung ist inklusive", erklärte man mir. Außerdem sollte ich mich danach schonen. Bingo. 

Ich hatte also ungeplant einen Termin für eine Silikon-Penisinjektion bekommen und setzte sofort alles in Bewegung, um mit einer kleinen Dreh-Unit dort am Dienstag vorzufahren. Meine Kollegin aus der Redaktion und ich stiegen nach ein paar Stunden Fahrt in einer ruhigen Seitenstraße aus. Das Team sollte nachkommen, sobald wir eine Dreherlaubnis hatten. 

Im richtigen Stock stand die Tür bereits offen. Der beißende Geruch von Katzenurin zog in meine Nase und mir wurde klar, dass das hier keine richtige Klinik war. 

Eine Frau mittleren Alters bat mich, eine Einverständniserklärung durchzulesen und zu unterschreiben. Damit würde ich jegliches Anrecht auf eine Klage bereits im Vorfeld abtreten, ähnlich wie in einem Piercing-Studio. 

Ich weiß nicht, ob es einen richtigen Zeitpunkt gegeben hätte, um nach einem Interview zu fragen. Die Situation lief jedenfalls schnell und drastisch aus dem Ruder, nachdem der "Doktor", ein androgyner Mann mit rasierten und nachgezogenen Augenbrauen, den Raum betreten hatte. 

Er wollte uns kein Interview geben, trotzdem unterhielten wir uns weiter. Über sein Coming-out in seiner Jugend und über seinen Vater. Das wühlte ihn sichtlich auf und die Stimmung kippte. Plötzlich stand er auf und lief im Zimmer hin und her. Als Kind und Jugendlicher habe ihn sein Vater oft niedergemacht, sagte er. Außerdem habe er ihm immer vorgehalten, dass er sich nicht wehren könne. 

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Es ist schwer zu sagen, was es genau war, aber irgendwas schien ihm das Gefühl zu geben, sich jetzt wehren zu müssen. Gegen uns. 

Er wechselte im Minutentakt zwischen Weinen, Lachen und kaum versteckten Drohungen. Er besitze eine Handfeuerwaffe und sei oft beim Schießtraining gewesen, sagte er. Ich versuchte, mich wie ein Tripsitter zu verhalten und ihn zu beruhigen, bis wir uns schließlich freundlich verabschiedeten, als wäre nichts gewesen. 

Draußen sprangen wir ohne viele Worte in unseren Van, in dem das Kamerateam auf seinen Einsatz wartete. Wir baten, erstmal schnell wegzufahren. Dann erklärten wir, was passiert war.

Im Nachhinein erfuhr ich, dass wir wohl in die "Behandlungsräume" eines in der Szene bekannten Mannes gelaufen waren. Über Gayromeo, Yahoo-Silikon-Injektions-Foren und Mundpropaganda bot er an, Menschen in einem medizinisch nicht vertretbarem Umfeld den Penis aufzuspritzen.

Zwar hieß es über ihn, dass dort alles steril, zuverlässig und zufriedenstellend ablaufen würde, er medizinisch ausgebildet und nur ein wenig "strange" sei. Nach einer weiteren Recherche fand ich jedoch heraus, dass er hauptberuflich in einem Friseursalon arbeitete.

Damals hielten wir es für sinnvoll, über diesen Teil der Recherche nicht zu berichten, zumal der "Doktor" mich danach noch bei Facebook kontaktierte. Was ich als eine Dohung verstand. In dieser allerletzten Ausgabe erscheint es mir aber passend, doch noch darüber zu schreiben. Es ist das letzte fehlende Puzzleteil des vollständigen Bildes, das wir damals über die Szene aufzeigen wollten. So, chapter is closed, once and for all.

Julius Theis war von 2009 bis 2019 bei VICE, zuletzt als Agency Producer.