Der epische Fler-Artikel—Eine Bestandsaufnahme

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Der epische Fler-Artikel—Eine Bestandsaufnahme

Fler hat viel dafür getan, dass er heute mit einem gewissen Stolz sagen kann, „Keiner kommt klar mit mir.“

Berlin, kurz nach der Jahrtausendwende. Die Volljährigkeit als nächstes Ziel vor Augen, die eigenen Freunde das Nonplusultra, der Rest eher unwichtig. Ein Sofa voller Flecken als Mittelpunkt der kargen Einzimmerwohnung. Dazu ein alter Röhrenfernseher, ein Tapedeck vom Flohmarkt, eine Bong, jede Menge Sprühdosen, eine Matratze. Viel mehr war da nicht. Dennoch mehr als genug, hungern musste man eher selten. Wenn man nicht schon wieder sanktioniert wurde, gab es am 1. des Monats ein wenig Geld vom Jugendamt oder dem Jobcenter. Davon wurden Turnschuhe gekauft und manchmal auch der Kühlschrank voll gemacht. Durch die Boxen dröhnte das erste Carlo Cokxxx Nutten-Tape, wir verstanden größtenteils wovon die da erzählten. Geld war auch selten da, andere Währungen mussten einspringen. Die Dosen etwa wurden meist durch regen Tauschhandel finanziert.

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Besonders beliebt bei der Oldschool-Legende, die in unserem Graffiti-Shop hinterm Tresen stand, waren Rasierklingen, Kaffee und Alkohol. Alles Dinge, die man in einem regulären Supermarkt verhältnismäßig einfach stehlen konnte. Dass wir jedes Mal gnadenlos über den Tisch gezogen wurden, gehörte dazu. Die ersten Wochen des Monats waren immer ein Fest, wir waren temporär die Kings of Kottlet. Besäufnisse auf dem Bahnhof, sprühen im Schacht, Filmriss im Club. Die letzten zehn Tage dann oftmals Toastbrot, JA!-Wurst, Krümeltee, Pfennige aus der Sofaritze klauben, beim Ticker anschreiben, schnorren bei Mutti. Verhältnismäßig kleine Sorgen, aber man fühlte sich ziemlich verwegen. Taktloss, Bassboxxx, Frank White & Sonny Black. Später Aggro. Das war unser Soundtrack. Auch wenn wir (übrigens ähnlich wie die Interpreten) keine Koks-Deals abwickelten, waren das Texte, in denen wir uns wiederfanden. Eventuell ist das der Grund, warum ich trotz aller Ausfälle meine Sympathien für den Maskulin-Labelboss Fler nie verloren habe. Eine seltsame Form von Solidarität.

Knapp 15 Jahre später habe ich einen einigermaßen anständigen Beruf und Fler ist mit seinem neuesten Album auf #1 gechartet. Es ist nicht seine erste Spitzenplatzierung, aber der Zeitpunkt und vor allem das Produkt, mit dem ihm das gelang, sorgen für Aufregung. VIBE wird, da sind sich plötzlich alle Redaktionen und viele seiner Kollegen einig, „als vermeintliches Spätwerk zum Opus Magnum" (Juice Magazin). Dass der Autor vermutlich eher ein Magnum Opus meint, also das bedeutendste Werk eines Künstlers und nicht den von ihm verwendeten Begriff aus der Alchemie, zeigt neben der amüsanten Verwechslung eigentlich nur eins: Fler wird immer noch unterschätzt oder um es mit Money Boys nicht ganz ernst gemeinten, aber legendären Worten zu sagen: „zurückgehalten". Klingt komisch, ist aber so. Mal wieder traut man ihm nicht zu, das aktuelle Werk toppen zu können. Mal wieder wird er belächelt von den Leuten, die es nie nötig hatten sich mit Fäusten zu wehren und denen es deswegen eine helle Freude ist, jemanden wie ihn verbal zu demütigen. VIBE wird von vielen als Ausreißer in der ansonsten eher kläglichen Diskographie einen Bauerntölpels dargestellt. Das hat Gründe, auch abseits der Tatsache, dass man sich selber einfach etwas geiler fühlen will.

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Fler hat viel dafür getan, dass er heute, mit einem gewissen Stolz sagen kann, „Keiner kommt klar mit mir." Ob sein „Du bist hier nur Gast…"-Statement gegenüber Farid Bang, das Hochladen von Videos, auf denen seine ehemaligen Schützlinge nicht mehr Herr ihrer Sinne sind oder sein Umgang mit Journalisten. Was Niko von Backspin in dem „epischen Interview" ertragen musste, kommt des Öfteren vor, wenn Fler mal wieder das Gefühl hat, ungerecht behandelt zu werden. Dafür hat er immer wieder Kritik aus den eigenen Reihen bekommen, was vollkommen in Ordnung ist. Problematisch wird es, wenn musikalische Qualität plötzlich unter Einbeziehung von Rachegelüsten beurteilt wird oder persönliche Fehden die eigentliche Diskussion überlagern.

In „postfaktischen Zeiten" (Merkel-Voice) spielt es nämlich offenbar keine Rolle mehr, was jemand in der Vergangenheit schon alles gerissen hat oder wie oft jemand musikalisch Trends gesetzt hat. Es geht darum zurückzuschlagen. Nachdem sich viele in unserer Branche jahrelang von diesen rabiaten Typen, die nie was anständiges gelernt haben, auf der Nase herumtanzen lassen mussten, nach all den CCN-Tapes, den AGGRO-Ansagen, den Goldplatten, den hunderten Covern und der Heavy Rotation auf VIVA und MTV, schlug vor einigen Jahren endlich die Stunde der zuvor untergebutterten Blogger, Kritiker, YouTube-Kommentatoren und Fanta 4-Fanatiker. Die Verkaufszahlen sanken, AGGRO fiel auseinander, Beef hin, Beef her, es wurde zäh. Jetzt hieß es die Chance nutzen. Flers Musik, ob man die merkwürdige Hinter blauen Augen-Phase jetzt feiert oder nicht, wurde vollkommen zweitrangig. Im Vordergrund stand die Demontage.

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Interessant war nun, ob Fler in seinen, zu Public Viewings mutierten Interview- und Blog-Auftritten mal wieder hanebüchenes Zeug über Mode, die Anschläge in Paris oder sein fragwürdiges Bild von positivem Nationalismus (ganz gleich, welcher Herkunft man ist) zum besten gab. Dabei ist der Mann Rapper. Musiker. Kein Soziologe oder Politiker. Wenn Serdar Somuncu über Rap redet, verkommt der ansonsten ziemlich helle Kopf und Satiriker ja auch regelmäßig zur peinlichen Witzfigur ohne Plan von der Materie. Ähnlich wie Fler, der immer wieder betont ganz absichtlich über die Stränge zu schlagen, gibt Somuncu dies auch vollkommen unumwunden zu. Es gibt ganz bestimmte Ursachen und Mechanismen, die In Flers Fall zu all dem Hate führen, die wesentlich tiefer liegen. Sozialchauvinismus ist einer von Ihnen. Der Junge von der Straße soll sich gefälligst dem Bild fügen, dass der durchschnittliche Medienwissenschaftler von ihm hat. Den Tanzbären spielen, das ist okay. Aber Tanzbären haben weder zu reagieren, noch zu antworten. Vor allem aber haben sie sich nicht zu wehren, wenn sie durch die Manege getrieben werden.

Es ist ein alter Kampf der da tobt. Ein durchaus infantiler Kampf, zugegeben. Der Kampf zwischen dem Jungen an der Ecke, der dem Kind mit den Markenklamotten den Pulli abzieht. Weil der eine auf dem Pausenhof die Ansagen machte, ließ ihn der andere im Gegenzug nicht abschreiben bei der Klassenarbeit. Die Backpfeife die er anschließend kassierte war ihm egal, dafür hatte er eben ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen, wenn die Zensuren kamen. Fler spielt dieses Spiel immer noch. Und wenn andere Menschen sich darauf einlassen und austesten möchten, wie weit sie gehen können, sollten sie die Regeln kennen. Wer mit Flers Welt nichts zu tun haben will, der muss sie ja nicht betreten. Es gibt genug schöne Wanderwege in der sächsischen Schweiz oder dem Frankenland.

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Fler hat es sich zum Geschäftsmodell gemacht, andere Leute einzuschüchtern, wenn sie seine persönlichen Grenzen überschreiten. Das kann oder sollte man verurteilen. Die elitäre Art und Weise mit der sich ein Böhmermann und die es ihm gleich tuenden Massen über jemanden wie Fler stellen, ist jedoch nicht besser. Im Gegenteil. Hier offenbart sich einfach nur der Frust der kleinen Jungs, die auf dem Schulhof Backpfeifen bekommen haben. Wenn beispielsweise ein Frédéric Schwinden, der seine Kindheit als „nicht ganz so schlimm wie in Nordkorea" beschreibt, weil er von Bonn nach Muggendorf ziehen musste, der Meinung ist, sich mit seinen Mitteln über Fler lustig zu machen, dann ist das sein Recht. Dass er in der Springer-Presse dafür ausgerechnet den angeblich geringen Verdienst des Künstlers in den Mittelpunkt rückt, zeigt die gesamte Misere. Der anschließende Hausbesuch wird dann als Skandal betitelt, von genau denen, die sonst immer sagen, diese Rapper seien doch in Wirklichkeit ganz harmlose Milchbubis. Paradox.

Zurück in die Berliner Wohnung meiner Jugend. Ecken wie die unsere gab es in Großstädten unzählige, nichts besonderes. Das waren keine brasilianische Favelas, schon klar. Aber es war eben auch keine Hamburger Villengegend oder irgendein westdeutsches Kaff mit Schützenverein und Marktplatz. Wohnungen, Zustände und Zeiten wie diese wurden von Aggro-Künstlern wie Sido, B-Tight und Fler im Nachhinein dutzendfach beschrieben, lyrisch nachgezeichnet, verklärt. Meist mit etwas zu viel Pathos, so wie es auch in diesem Text geschieht. Das gehört dazu. Woraus zieht ein Künstler seine Inspiration und seine Geschichten, wenn nicht aus dem Erlebten? Und was prägt einen Menschen mehr als seine Kindheit und Jugend?

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Von den „Realkeepern" wird den Jungs von der Straße bis heute vorgeworfen, gar nicht wirklich im „Ghetto" aufgewachsen zu sein. Was immer Ghetto auch bedeuten mag. Das sei alles nur Show. Ganz so als sei es eine besondere Leistung oder etwas erstrebenswertes, in Compton, Harlem oder Long Beach zwischen Crack-Babys und Drive-by-Shootings zu leben. Da kommen nämlich die Rapper her, die der Oldschool-Fan als credibil betrachtet. Beinahe alles was im amerikanischen Rap abgefeiert wird, gilt den selbsternannten Veteranen und Gewalt-Verächtern als niveaulos, sobald es ihnen zu nahe kommt. Dass sich die meisten der sogenannten Ankläger trotzdem nie in die entsprechenden Bezirke Hamburgs, Berlins oder Frankfurts getraut haben, ist da nur ein weiterer Treppenwitz.

Die Jugendlichen in den Kleinstädten jedenfalls, sogen die vertonten Geschichten aus den gefährlichen Gegenden bereitwillig auf. Als Aggro übernahm, war alles andere erst einmal weg vom Fenster. Entweder kamst du aus Berlin oder du konntest im JUZ auftreten. Zumindest gefühlt war das so. Das passte nicht jedem, vor allem nicht den Bewahrern des urtümlichen Sprechgesangs, die schon damals immer pikiert waren, wenn die Berliner Meute auf ihrer Jam oder in ihrem Radio auftauchte. Die Schmuddelkinder von der Straße waren eben „Asoziale" oder „Prolls". Dass letzteres Wort einfach nur die Kurzform des Begriffs „Proletarier" ist und seit seinem Aufkommen während der Industrialisierung als Schmähbegriff des Bildungsbürgertums für Arbeiter galt, fällt kaum noch jemandem auf, sagt aber eine Menge über den heutigen Diskurs. Es gibt nur einen einzigen Kontext, im dem „Proletarier" positiv genutzt wird: Im Klassenkampf. Und spätestens seit Mach One weiß man: Guter Rap gedeiht im Dreck.

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Fler kam damals aus dem Herzen dieser proletarischen Berliner Szene. Er hatte—wie so viele—keine leichte Kindheit und sich als Sprayer einen Namen gemacht, in einer Millionenstadt. Als er begann zu rappen hieß es nicht „Da gibt es jetzt einen neuen Rapper der Fler heißt", sondern „Fler rappt jetzt". Daraus entstand offenbar ein gewisses Selbstverständnis. Er hält sich für den Besten, in beinahe allem. Eine im Rap gängige Sichtweise. Nur würde niemand Samy DeLuxe selbiges vorwerfen. Bei Fler hingegen gelten andere Regeln, kaum eine Aussage die nicht dutzendfach ins lächerliche gezogen wird. Ganze YouTube-Kanäle befassen sich mit seinem Output, es gibt Cartoons, Best-Ofs, in den alltäglichen Sprachgebrauch übernommene Aussagen etc. Daran ist er natürlich nicht ganz unschuldig, genügend seiner Aussagen lassen an seinem Verstand zweifeln. Wer jedoch ernsthaft behauptet, dass seine Grundthesen den deutschen Rap betreffend vollkommen aus der Luft gegriffen sind, der tut das meist aus Prinzip oder einer generellen Antipathie.

Foto: Peter Stelzig

2016 ist Fler an einem Punkt angekommen, an dem er seit Jahren sein wollte. Verfeindete Rapper geben ihm öffentlich Props, er hat eines der besten Alben des Jahres abgeliefert, die Verkaufszahlen stimmen wahrscheinlich auch, die Redaktionen preisen sein Werk. Mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit wird er sich auch in Zukunft mal wieder um Kopf und Kragen reden. So wie es täglich unzählige Rapper, Musiker, Literaten, Journalisten, Maler oder sonst welche Personen der Öffentlichkeit tun. Das zu kritisieren ist Recht oder Pflicht, je nachdem. Wer sich jedoch aus falschen Gründen, von oben herab über jemanden echauffiert und denkt mit intellektueller Überheblichkeit punkten zu müssen, sollte auch das Echo vertragen. Fler wiederum muss lernen, mit Kritik umzugehen wenn sie berechtigt ist. Es wäre ihm und seinem musikalischen Werk zu wünschen, dass es eine Zukunft gibt, in der Fler ohne Probleme auf dem Splash! spielen kann und sich kritische Journalisten keine Sorgen machen müssen, wenn sie sich mit ihm auf einen Kaffee treffen, um ihm ein paar unbequeme Fragen zu stellen.

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