Muskulöse Männer stehen oberkörperfrei und mit weißer Farbe bemalt an einer Mauer, in dem Kameruner New Bell Gefängnis gibt es ein Tonstudio und die Insassen drehen Musikvideos.
Insassen posieren nach einem Videodreh | Alle Fotos: Dione Roach
Popkultur

Jail Time Records: Das Label in Kameruns berüchtigtstem Gefängnis

Was als Beschäftigungstherapie begann, ist schnell eine Quelle für richtig guten Gangstarap geworden.

Jetzt, wo er wieder aus dem Knast ist, verdient Magloire Noumedem sein Geld auf den Straßen von Douala – wo immer er kann. In Kameruns Hafenmetroprole fährt der 31-Jährige Taxi, putzt und arbeitet als Atalaku DJ, eine Art Entertainer für Privatpartys. Dabei tritt er vor reichen Menschen auf und heizt das Publikum an. Manchmal werfen ihm Leute Geld auf die Bühne, dafür ruft er im Gegenzug ihren Namen aus.

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Das sind aber nur Jobs für Noumedem. Seine Leidenschaft gilt seiner eigenen Musik, einer Mischung aus Drill und Trap, die er unter dem Namen Kengol DJ macht. Angefangen hat er damit im Gefängnis.

Schwarz-Weiß-Foto von einem Korridor zwischen Mauern, am Ende trocknet Wäsche auf einer Leine

Der Gang vom Frauentrakt zum Flügel für minderjährige Straftäter | Foto: Dione Roach

Am 23. Dezember 2019 wurde Noumedem für "Vagabonding" verhaftet, also fürs Herumstrolchen. Das heißt, man hatte ihn beim Kiffen erwischt, außerdem hatte er keinen Ausweis. Dafür musste er sieben Monate ins New Bell Prison, eins der berüchtigtsten Gefängnisse Kameruns. "Es war eine sehr schlimme Erfahrung für mich", sagt Noumedem, wir unterhalten uns über eine wacklige Zoom-Verbindung, ein Übersetzer hilft uns bei der Verständigung. "Die Haftstrafe war nicht angemessen für mein Vergehen und mein Strafregister. Ich bin ein friedliebender Mensch. Zum Glück habe ich dort das Studio gefunden." 

Noumedem meint das Tonstudio des Non-Profit-Labels Jail Time Records, das es seit 2018 im New Bell Prison gibt. Er fing an, dort aufzunehmen, und schaffte es mit einem seiner Tracks auf dem 24 Songs umfassenden Label-Sampler Jail Time Vol.1 – alle Lieder sind im Gefängnis entstanden und wurden dort aufgenommen. Die Kompilation vereint verschiedenste Stile und Themen. Und sie ist vor allem richtig gut.

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Jail Time Records betreibt nicht nur ein Tonstudio im New Bell, sondern dreht dort auch Musikvideos. Regie führte bei fast allen die italienische Künstlerin Dione Roach, die Mitbegründerin von Jail Time Records.

Die 33-Jährige hatte vor ein paar Jahren mit einer Nichtregierungsorganisation Veranstaltungen im New Bell organisiert. Während eines Tanzunterrichts übernahm eine Rapcrew das Mikro. Bald übten sie täglich. "Das Gefängnis ist sehr überbelegt", sagt Roach, "also werden Orte zweckentfremdet. Wir haben dann in einem Raum im Todestrakt geprobt." 

Als die Rapcrew den Wunsch äußerte, eine CD rauszubringen, schlug Roach der Gefängnisleitung vor, ein Aufnahmestudio zu bauen. Sie bekamen die Erlaubnis, jetzt brauchten sie nur noch jemanden, der das technische Wissen hat, um es zu leiten. Zum Glück gab es Vidou H, den anderen Mitbegründer von Jail Time Records.

Steve Happi, wie Vidou H mit bürgerlichem Namen heißt, war zu dieser Zeit selbst Insasse in New Bell. Dem heute 34-Jährigen wurde damals vorgeworfen, seinen Vater umgebracht zu haben, der während einer OP an einem Herzinfarkt gestorben war. Happi, den man inzwischen von allen Anklagepunkten freigesprochen hat, hatte vor seiner Inhaftierung bereits als Tontechniker und Produzent gearbeitet. So wurde er schnell der Produzent des Studios und baute die Beats. 

"Wir haben ein MIDI-Keyboard, zwei Mikros, Lautsprecher und den wichtigsten Teil: unser Gehirn", sagt Happi. "Dione hat mir einfach den Schlüssel gegeben und bis heute haben wir über 1.000 Songs aufgenommen. Am Anfang war es vor allem Rap, aber inzwischen steht die Tür allen offen."

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Schwarz-weiß-Foto von Männern, die größtenteils mit nacktem Oberkörper und geschlossenen Augen in einem Gang stehen

Stone Larabik im Todestrakt bei einem gemeinsamen Gebet | Foto: Dione Roach

Seit Dezember 2019 lebt Happi wieder in Freiheit, aber er kehrt regelmäßig ins Gefängnis zurück, um mit den Insassen aufzunehmen. Er schätzt, dass bislang rund 300 Künstler das Studio genutzt haben, viele von ihnen hatten zuvor noch nie Musik gemacht. Er und Roach betonen, dass alle willkommen sind, egal welche musikalischen Fähigkeiten sie haben, welches Genre sie bedienen oder welches Verbrechen sie begangen haben.

"Wir müssen für alle offen sein", sagt Happi. "Manchmal verheimlichen Häftlinge dir Sachen. Ich weiß das. Ich kenne ihre Geschichten – Insassen reden." Es könne vorkommen, dass man mit jemandem im Studio stehe, von dem man weiß, dass er jemanden umgebracht und zerstückelt hat. "Der macht einen Take und du sagst: 'Bruder, das war hammer.' Du musst das einfach vergessen." 

Auch ein paar Frauen, die in New Bell einsitzen, nutzen das Studio. Jeje ist die erste Künstlerin des Labels. Für die 21-jährige Nigerianerin ist das Studio ein Zufluchtsort. Den Gefängnisalltag findet sie extrem hart. "Es ist sehr schlimm", sagt sie. "Es gibt eine Menge Regeln, die man befolgen muss und Leute versuchen dich immer, zu irgendwelchen Dingen anzustiften." Dass sie kein Französisch spricht, eine der zwei Amtssprachen Kameruns, macht es für sie nicht einfacher zu verstehen, was die Wachleute oder Mitgefangene von ihr wollen. 

Jejes Eltern hatten finanzielle Probleme und konnten ihre Schulgebühren nicht bezahlen, also schickten sie sie nach Douala, wo sie bei ihrem Onkel leben sollte. Dieser misshandelte sie und Jeje klaute ihm etwas Geld in der Hoffnung, nach Hause zurückkehren und eine Karriere als Musikerin starten zu können. Ein Jahr versteckte sie sich in Douala vor ihrem Onkel, der sie aber schließlich fand und den Behörden übergab. Seit 2020 sitzt sie eine dreieinhalbjährige Haftstrafe ab.

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Ein dunkles schwarz-weiß-Foto mit Männern in einem Gang

Foto: Dione Roach

"Als ich hörte, dass es ein Studio im Gefängnis gibt, das ich benutzen kann, fand ich es hier etwas weniger schrecklich", sagt Jeje. "Ich konnte dorthin gehen, mit Leuten abhängen und Songs machen. Das hat mir wirklich geholfen. Ich weiß nicht, was ich ohne das Studio gemacht hätte." Bislang hat sie mehr als 20 Lieder aufgenommen, darunter auch die Single "Show Me The Way", einen R'n'B-Song mit Drill-Einflüssen. Das Video dazu drehte die Regisseurin Roach nachts im Frauentrakt des Gefängnisses mit Jeje und anderen Insassinnen. Dieses Jahr soll ihr Debütalbum erscheinen.

Jail Time hat schon eine ganze Reihe Musikvideos im New-Bell-Gefängnis gedreht, das erste vor drei Jahren mit Stone Labarik. Der 37-Jährige sitzt seit sechseinhalb Jahren im Gefängnis. Das ehemalige Mitglied von Kameruns Präsidentengarde wurde wegen eines bewaffneten Raubüberfalls und Fahnenflucht zu zehn Jahren Haft verurteilt. Labarik beteuert seine Unschuld. Er habe seine Dienstwaffen bei einem Freund gelassen, ohne zu wissen, dass dessen Haus als Treffpunkt nach einem Raubüberfall benutzt werden sollte. Als die Polizei in das Gebäude eindrang, fand sie seine Waffen und beschuldigte Labarik, am Überfall beteiligt gewesen zu sein. "Ich habe im Gefängnis viel gelernt", sagt er. "Ich habe Gott gefunden. Das ist die einzige Hoffnung, die ich habe. Meine Freunde und meine Familie haben sich von mir abgewandt. Seit ich hier bin, habe ich viel fürs Leben gelernt." 

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Labarik hatte bereits während seiner Schulzeit angefangen, Musik zu machen. Als er zur Armee ging, hörte er allerdings damit auf. Während seiner Haft entdeckte er dann seine Leidenschaft wieder und veröffentlichte 2020 seinen Song "Fils du terre terre". Den Einfluss seines Kindheitsidols DMX hört man deutlich raus. An den Dreh zum Musikvideo erinnert er sich gerne zurück. "Es war das erste Mal, dass professionelle Kameras im Gefängnis erlaubt waren", sagt Labarik. "Wir drehten von morgens bis nachts. Es war total aufregend. Wir hatten viel Spaß." Der 37-Jährige schreibt weiterhin eigene Songs, aber unter Happis Anleitung hilft er jetzt auch anderen Künstlern bei ihren Aufnahmen im Tonstudio.

Schwarz-weiß-Foto von drei Männern, die lachend tanzen, zwei tragen dabei Kostüme, die an traditionelle afrikanische Gewänder erinnern

Insassen bei einem traditionellen Tanz aus dem Südwesten Kameruns. Die Kostüme haben sie aus Reissäcken gemacht | Foto: Dione Roach

Für viele Häftlinge gehen die Probleme draußen weiter. Deswegen gibt es ein zweites Jail Time Studio in Douala außerhalb der Gefängnismauern. "Im Gefängnis hat das Studio großen Einfluss, weil es den Insassen eine Aufgabe gibt: einen Fokus, ein Ziel, Hoffnung", sagt Mitbegründerin Dione Roach. "Es strukturiert ihren Tagesablauf und gibt ihnen die Möglichkeit, sich auszudrücken. Sobald sie wieder frei sind, ist das schwieriger. Die Resozialisierung ist kompliziert. Viele sind drogenabhängig und landen wahrscheinlich auf der Straße. Deswegen haben wir auch außerhalb des Gefängnisses ein Studio gebaut."

Männer in traditioneller Kleidung auf einer Treppe

Die Arab of Chicago Gang am letzten Tag des Ramadan | Foto: Dione Roach

Das Leben in New Bell ist hart und "sehr gewalttätig" wie Happi sagt, das Tonstudio eine willkommene Abwechslung. Jail Time Records ist ein solcher Erfolg, dass Roach und Happi demnächst ein Tonstudio in einer Haftanstalt in Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou eröffnen werden und ein weiteres in Ngoma, Kamerun. Sie hoffen, damit den gesellschaftlichen Blick auf die Häftlinge zu ändern und die Resozialisierung zu fördern. Schon jetzt ermöglicht Jail Time Records den Menschen hinter den Mauern, die Welt mit ihrer Kunst zu erreichen.

Hier unten kannst du dir den Jail Time Records Label-Sampler anhören.

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