Um nicht abgeschoben zu werden, lebt der 16-jährige Gardijan im Untergrund

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Um nicht abgeschoben zu werden, lebt der 16-jährige Gardijan im Untergrund

Um nicht wie die Mutter und die drei Jüngsten abgeschoben zu werden, ist Gardijan mit seinem Vater und vier weiteren Geschwistern untergetaucht. Wir haben ihn in seinem Versteck besucht—eine Asylrechtverschärfungs-Geschichte.

Gardijan und seine Schwester Suela

Seitdem Deutschland das Asylrecht verschärft hat, steigt die Zahl der Abschiebungen rasant. Die meisten Menschen, die zurückgeschickt werden, stammen aus dem Westbalkan. Ungefähr zwei Drittel aller ausreisepflichtigen Asylbewerber in Deutschland sind aus Serbien, Mazedonien oder Bosnien-Herzegowina. Deutschland stuft diese Länder seit 2014 als sichere Herkunftsstaaten ein, in denen es keine politische Verfolgung gibt. Allein Sachsen hat im ersten halben Jahr fast so viele Asylbewerber in die Westbalkan-Staaten abgeschoben wie im gesamten Vorjahr und die Zahlen steigen weiter.

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Darunter ist auch der 16-jährige Gardijan, der mit seiner Familie seit sieben Jahren in Riesa, nordwestlich von Dresden, wohnt. Gardijan und seine Familie sind Roma. Roma werden von der albanischen Mehrheitsbevölkerung massiv unterdrückt. Auf das Haus von Gardijans Familie verübten Attentäter einen Brandanschlag mit Molotowcocktails, zwei der Kinder erlitten schwere Verbrennungen und mussten mehrmals operiert werden, so erzählt es der Vater. Die Familie floh nach Deutschland, in der Hoffnung, hier ein Leben ohne Angst zu führen. Der staatenlose Vater, Sami, hoffte, die Ausländerbehörde würde ihm einen Pass ausstellen. Vergeblich.

Vor drei Wochen riss die Polizei die Familie aus dem Schlaf. Die Polizisten nahmen die Mutter und die drei jüngsten Kinder (zwei, fünf und sieben Jahre alt) mit. Der Vater, die drei älteren Brüder und zwei Schwestern (zwischen 12 und 21) ließen sie in der Wohnung. Gardijan, seine vier Geschwister und sein Vater sollten erst am nächsten Tag um 13.30 Uhr nach Mazedonien abgeschoben werden. Sie entschieden sich, noch in der selben Nacht zu flüchten und sich zu verstecken.Seitdem leben sie im Untergrund. Wir haben uns mit dem 16-jährigen Teenager in einer kleinen Wohnung in einer ostdeutschen Kleinstadt getroffen.

Wir sitzen zusammen mit Gardijan (16), seiner Schwester Suela (12) und dem Vater Sami (37) an einem alten Holztisch im Wohnzimmer in der Wohnung, in der sie untergeschlüpft sind. Gardijan wirkt unruhig, immer wieder blickt er nervös auf sein Handy. Der Vater Sami ist unrasiert und sieht müde aus.

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VICE: Vor einigen Wochen wurden deine Mutter und deine Geschwister mitten in der Nacht abgeschoben, du versteckst dich seitdem mit deinem Vater und deinen drei Geschwistern. Was ist in dieser Nacht genau passiert?
Gardijan: Das ist jetzt rund drei Wochen her. In der Nacht um zwei Uhr haben Polizisten an unserer Wohnungstür geklopft. Meine Mutter hat die Tür aufgemacht und die Polizisten haben einen Abschiebungsbescheid rausgeholt. Sie meinten, dass meine Mutter und meine drei jüngsten Geschwister jetzt abgeschoben werden. Darauf hat meine Mutter Panik bekommen und angefangen zu zittern und zu heulen.

Wo warst du zu dem Zeitpunkt?
Ich hab erst geschlafen, aber dann mitbekommen, dass irgendwas nicht stimmt, und bin auch zur Haustür gegangen. Ich hab nachgefragt, was passiert ist, und die Polizei meinte nur, dass meine Mutter und meine Geschwister abgeschoben werden. Sie sollten sich beeilen und ihre Sachen packen. Ich habe erst versucht, meine Mutter zu beruhigen und dann meinen Geschwistern beim Packen geholfen. Nebenbei haben über 20 Polizisten alles beobachtet und kontrolliert. Danach haben sie meine Mutter und meine drei Geschwister mitgenommen und gesagt, dass wir auch am nächsten Tag um 13:30 Uhr abgeholt werden. Wir haben noch kurz in der Wohnung gesessen, mit Freunden telefoniert und nachgedacht, was wir jetzt machen. Uns blieben nicht viel mehr Möglichkeiten, als erstmal zu flüchten und uns zu verstecken.

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Habt ihr geahnt, dass ihr abgeschoben werdet?
Wir waren alle total überrascht. Meine Mutter ist krank und braucht regelmäßig Tabletten. Außerdem sind wir mittlerweile seit über sieben Jahren in Deutschland und hätten nicht gedacht, dass wir auf einmal mitten in der Nacht abgeschoben werden. Wir hatten uns davor auch schon einmal bei einem Anwalt erkundigt, aber es gab nie irgendwelche Anzeichen, dass wir gehen müssen. Im Gegenteil: Eigentlich sollte mein Vater einen deutschen Pass bekommen, weil er staatenlos ist und wir hätten nach jahrelangem Warten dann endlich die Sicherheit gehabt, bleiben zu können.

Wie lang wart ihr jetzt schon in Deutschland?
Wir sind seit 2009 in Deutschland und davor waren wir neun Jahre in Bosnien. Ich kann weder die mazedonische Sprache sprechen, noch weiß ich, wie in Mazedonien irgendeine Stadt aussieht, und es hat für mich nichts mit Heimat zu tun—auch für meine Mutter und meine Geschwister nicht. Trotzdem wurden sie dahin geschickt.

Woher kennt ihr die Person, die euch jetzt bei sich schlafen lässt?
Über einen deutschen Freund. Er hat von unserer Geschichte gehört und uns geholfen. Wir kannten ihn schon ein paar Monate und als wir uns dann über Nacht verstecken mussten, haben wir ihn angerufen und er hat uns aufgenommen.

Wie schlaft ihr jetzt?
Mein Vater schläft mit meiner 12-jährigen Schwester und meinem 19-jährigen Bruder in einem Zimmer und ich teile mir ein kleines Zimmer mit meinem jüngeren Bruder Eduvan. Wir schlafen auf Matratzen und Sofas. Es ist OK.

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Bist du davor in Riesa zur Schule gegangen?
Ja, ich bin in der 9. Klasse und wollte eigentlich bald meinen Hauptschulabschluss machen. Ich wollte danach eine Ausbildung zum Tischler machen.

Wie sieht jetzt dein Alltag aus?
Ich steh früh auf, esse etwas und dann gehe ich vielleicht mal in den Park um die Ecke, eine Runde Tischtennis spielen oder kurz einkaufen, aber mehr passiert auch eigentlich nicht. Wir können nicht raus, da wir sonst entdeckt werden und uns dann die Polizei abholt und abschiebt. Ich spiele die meiste Zeit irgendwie mit dem Handy herum und versuche, mit meiner Mutter, meinen Geschwistern in Mazedonien oder eben mit meiner Freundin Kontakt zu halten. Wir versuchen, jeden Tag zu skypen.

Wie geht es ihnen?
Meine Mutter ist sehr krank und wir schicken ihr morgen ein paar Medikamente, weil es diese Tabletten in Mazedonien nicht gibt. Sie hat schwere Depressionen, eine koronare Herzkrankheit und drei Herzkatheter. Sie hatte wirklich sehr viel Glück, dass ihr bei der Abschiebung nichts passiert ist. Außerdem haben sie kein Geld. Meine Mutter und meine drei Geschwister wohnen momentan mit dem Bruder von meinem Vater, seinen Kindern und meiner Großmutter in einer 20-Quadratmeter-Hütte. Diese Hütte teilen sich insgesamt 13 Personen. Ähnlich wie mein Vater ist der Bruder von meinem Vater auch staatenlos und illegal in Mazedonien, damit er bei seiner Familie sein kann, und er hat auch kein Geld. Soweit ich weiß, verdient meine Großmutter im Moment ein bisschen Geld, indem sie Plastikmüll sammelt. Man bekommt dafür circa drei Euro am Tag. Meine Mutter braucht erstmal einen mazedonischen Pass, damit sie eine Krankenversicherung bekommt und Sozialhilfe beantragen kann.

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Hast du noch viel Kontakt zu deinen Freunden, seitdem du dich versteckst?
Nein, momentan habe ich keinen Kontakt zu meinen Freunden—das wäre auch viel zu gefährlich. Ich habe nur Kontakt zu meiner Freundin. Sie ist eine Deutsche und wohnt in Riesa.

Hast du keine Angst, dass sie ihren Eltern etwas erzählen könnte und euch die Polizei dann findet?
Nein, sie sagt nichts. Ich vertraue ihr und sie war auch schon ein paar Mal hier. Es ist aber trotzdem schwierig, weil wir uns nur selten treffen können und nur mit dem Handy Kontakt halten. Wir versuchen, uns wenigstens jede Woche einmal zu sehen, und dann besucht sie mich hier. Wir können ja nirgendwohin.

Wie fühlt es sich an, wenn du auf dem Weg zum Supermarkt die Polizei auf der Straße siehst?
Ich habe die ganze Zeit diese Angst im Kopf, dass die jeden Moment zu mir kommen könnten und mich nach meinem Ausweis fragen—dann bin ich im Arsch. Also sind wir vorsichtig und machen nur das Notwendigste draußen, um nicht aufzufallen. Wir gehen auch meistens einzeln in den Supermarkt, da eine große Gruppe vielleicht zu viel Aufmerksamkeit erregen würde.

Seid ihr schon mal aufgefallen?
Ich glaube nicht. Wir sind sehr vorsichtig.

Habt ihr überhaupt Geld zum Leben?
Na ja, um ehrlich zu sein, helfen uns momentan ein paar Leute. Sie legen zusammen, damit wir uns ein bisschen was zu essen kaufen können. Wenn sie uns nicht unterstützen würden, könnten wir uns auch nicht verstecken, da es ganz ohne Geld einfach nicht geht. Wir können uns nicht bewegen und können nichts machen. Auch zum Arzt können wir nicht gehen. Mein Vater hatte letztens Zahnschmerzen, aber nur durch einen Kontakt nach draußen konnten wir zu einem netten Zahnarzt gehen, der am Ende auch kein Geld haben wollte. Aber auf Dauer ist das keine Option und es ist auch viel zu kompliziert, das alles zu organisieren. Wir hatten einfach Glück gehabt mit dem Arzt.

Was vermisst du am meisten?
Freiheit. Einfach, mich frei bewegen können, ohne darüber nachzudenken, ob ich irgendwo entdeckt werden könnte. Und ich vermisse es, einfach mal wieder mit Freunden eine Runde Fußball spielen.

Was denkst du, wie lange ihr euch noch verstecken werdet?
Bis wir hier bleiben können und meine Mutter und meine Geschwister zurück nach Deutschland bekommen. Die Leute hier helfen uns momentan mit dem ganzen bürokratischen Zeug, weil wir ja nicht einfach zu irgendwelchen Ämtern gehen können. Falls das am Ende nicht klappt, werden wir uns wahrscheinlich in ein paar Monaten nach Mazedonien zu meiner Mutter abschieben lassen.