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Popkultur

Wenn Matthias Strolz mit seiner Bodycam unser einziger Lichtblick ist, sind wir erledigt

In Österreich reicht es schon, kein intrigantes Arschloch zu sein, gerade Sätze sprechen zu können und hin und wieder zu grinsen.

Das Stammtisch-Video von Christian Kern! Das Warten auf das Wahlprogramm von Sebastian Kurz! Das totale Verschwinden von Heinz-Christian Strache! Dazu eine kampfschwimmende Ulrike Lunacek! Und das Live-Streaming-Wunder Matthias Strolz! Was waren das noch für Zeiten – damals, 0,5 Jahre vor Silberstein. Alle bisherigen Einträge zurück bis zum 1. September könnt ihr hier nachlesen. Und jetzt auf in den Endspurt!

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13. 10. 2017: Misstraue der Stille, feiere den Strolz

Liebes Tagebuch,
wie es aussieht, ist der Wahlkampf vorbei – aber ich misstraue der Ruhe. Gestern Abend fand die letzte TV-Debatte mit einer Elefantenrunde der fünf Spitzenkandidierenden statt und schon hier war ich anscheinend der Einzige, der das Ganze nur durch skeptisch zusammengekniffene Augen schauen konnte. Alle anderen fanden die Diskussion sachlich, lobten die Zurückhaltung der Kandidaten. Tarek Leitner lobpreiste sogar: "Es gibt einen Ort, wo zivilisiert diskutiert werden kann. Es ist der ORF."

Zu diesem Zeitpunkt war mein Blick längst auf 16:9 verengt und das Bild genauso weichgezeichnet und dubios wie der Aufbau der ORF-Sendung. Wie konnte es sein, dass ich das sehr leise Schreien von Strache als einziger nicht zivilisiert fand? Wieso störte es niemanden außer vielleicht ein, zwei Journalisten, dass die Kandidaten ihre Themen selbst auswählen durften und damit eine noch reinere PR-Show abziehen konnten als in allen TV-Debatten davor?

Vielleicht lief bei mir als einzigen eine ganz andere Sendung als bei den anderen Zuschauern. Es ist wie eine Folge Black Mirror, nur dass die Szene mit dem Schweine-Ficken nur ich sehen kann. Kurz gesagt, ein Jammer. Und zwar nicht nur wegen Dialogfetzen wie diesem hier:

Strolz: Einspruch!
Lunacek: Laungsaum!
Strolz: Langsamer Einspruch! Einspruch.

Mein nicht ganz wortwörtliches, psychohyienisch bereinigtes Transkript zur gestrigen Sendung findet ihr hier. Und ja, ich bin womöglich ein, zwei Male zum neuen Star Wars-Trailer abgedriftet, aber ist es nicht die Aufgabe der Politik, genau dieses Desinteresse gar nicht erst aufkommen zu lassen? Wenn es seit dieser Wahl eine neue Art von Politikverdrossenheit gibt, dann sicher nicht, weil sich die Menschen nicht für Politik interessieren – eher, weil sie es in der Vergangenheit zu viel getan haben und es nicht mehr packen, wie wenig ernst sie von Lobbyisten, Großspendern und Dirty-Campaignern genommen werden.

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Selbst die Wahlplakate sind diesmal nicht mit kreativer Inbrunst verschandelt, sondern nur halbherzig mit Edding beschmiert. Als hätte die Jugend endgültig aufgegeben. Der einzige Lichtblick – und ich hätte nie gedacht, dass ich das jemals sagen würde – ist Matthias Strolz.

Foto via Twitter

Der NEOS-Chef hat nicht nur bei der TV-Debatte sein bestes NLP-Einmaleins ausgepackt und die wiederkäubarsten Ein-Satz-Sager für unsere Social-Media-atrophierten Gehirne geliefert; er hat sich erst heute mit Bodycam und dem Hashtag #Perspektivenwechsel in den Wahlkampf-Endspurt begeben und sich ein bisschen meinen Respekt für seine Verspieltheit und Leichtfüßigkeit erarbeitet. Ich meine, letzte Woche hatte er sogar FREI und hat das Ereignis live von einer Schaukel im Park gestreamt. Heute war er außerdem bei seiner Mama zum Frühstück und auch DAS hat er auf Facebook gestellt.

Gut, vielleicht wird er für so viel unösterreichische Entspanntheit auch von den Wählern gerügt und mit einem nassen Fetzen aus dem Parlament gejagt. Aber bis dahin ist Matthias Strolz mein Spirit Animal. Auch, weil man sich als Bildunterschrift zu seinem Bodycam-Foto denken kann, wie er so etwas sagt wie: "Schau her, Sobotka, so kannst du überwachen und sonst gar nicht. Ich geh jetzt meine Flügel entfalten, einen wunderschönen Tag noch!" So viel gute Laune ist fast schon unpatriotisch.


12. 10. 2017: Facebook hilft beim Wählen, Stenzel hilft beim Wahlkämpfen, Kurz vs. Kern hilft beim Wähler-Frustrieren, Plazenta-Essen hilft bei genau gar nichts

Liebes Tagebuch,
heute veröffentlichte die Medizinische Universität Wien eine Pressemitteilung mit dem Hinweis, dass sich Plazenta nicht als Superfood eignet – und ich kann nicht anders, als es politisch zu verstehen. Vor allem, weil die Med-Uni nicht nur darauf hinweist, dass die Plazenta ein Abfallprodukt ist, sondern, wie der Gynäkologe Alex Farr sagt: "Nachdem die Plazenta genetisch zum Neugeborenen gehört, grenzt das Verspeisen der Plazenta an Kannibalismus." Boom!

Könnte es sein, dass nicht nur die Revolution ihre Kinder frisst, sondern auch wir? Sind wir die Revolution? Wollten wir eigentlich den Aufbruch, die Veränderung, das Aufbegehren – und haben uns am Ende selbst statt einer neuen toleranten Gesellschaft eine Terrorherrschaft errichtet, genau wie in Georg Büchners Theaterstück Dantons Tod, wo das Zitat "Die Revolution frisst ihre Kinder" herkommt?

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Der Wahlkampf ist inzwischen zu einem Rorschach-Test geworden und ich habe Angst davor, was das alles über mich aussagt. Dantons Tod wurde übrigens erst 68 Jahre nach seiner Veröffentlichung uraufgeführt, weil es lange als unspielbar galt. 68 Jahre! Revolution!! Versteht ihr!!! Die Presseinfo geht aber noch weiter: "Das Baby einer Mutter, die Plazentakapseln gegessen hatte, erlitt mehrmals eine lebensbedrohliche Blutvergiftung durch Streptokokken." Wie das jetzt zum Revolutionsvergleich passt, weiß ich auch nicht, aber ich schätze, die Moral hat irgendwie body-horror-mäßig mit Soylent Green zu tun ("Soylent Green is people!").


Auch auf VICE: 10 Fragen an Roland Düringer, G!LT


Gestern fand außerdem das letzte TV-Duell zwischen Sebastian Kurz und Christian Kern statt. Endlich. Laut Kern ist klar, dass einer der beiden der nächste Kanzler wird. Laut Wikipedia ist ein Duell übrigens "ein freiwilliger Zweikampf mit gleichen, potenziell tödlichen Waffen […], um eine Ehrenstreitigkeit auszutragen. Das Duell unterliegt traditionell festgelegten Regeln. Duelle sind heute in den meisten Ländern verboten." Das mit den traditionell festgelegten Regeln wäre zumindest eine Idee. Das mit den tödlichen Waffen vielleicht auch. Von der Ehre will ich lieber gar nicht erst anfangen. Und das mit dem Verbot … eh auch.

Ich will dich hier nicht mit einer Nacherzählung der 42. TV-Konfrontation langweilen, drum exemplarisch nur zwei Sätze aus der Sendung (es ging ursprünglich um Kampagnen-Großspender der ÖVP):

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Kern: "Den Leuten bleibt viel zu wenig netto von ihrem Brutto übrig."
Kurz: "Tal Silberstein sitzt im Gefängnis und das Dirty-Campaigning hört nicht auf."

Mein Highlight war übrigens Christian Kerns Mappe mit einem Aufkleber seiner Tochter drauf. Auch kalkuliert, klar, aber zumindest netter als das restliche leidige House of Cards-Spiel. Lasst uns mehr über diese Mappe reden. Es ist eine schöne Mappe, mit einem sehr lieben Gesicht in Herzform. Weißt du, wer auch ein Gesicht in Herzform hat? Sebastian Kurz. Ich kann das Foto hier aus rechtlichen Gründen nicht zeigen, aber wenn ihr einfach hier klickt und euch ein Herz dazu denkt, das seine zwei Flügel dort hat, wo bei Kurz die Ohren liegen, und das in Kurz' Kinnspitze zusammenläuft, werdet ihr mir sicher zustimmen.

Womit wir wieder beim freien Assoziieren wären. Und damit auch bei all den Meldungen der letzten paar Stunden, die mein wahlgeschwächtes Herz ein bisschen angeknackst haben. Da ist zum einen Peter Puller, der Mitarbeiter von Tal Silberstein, der mit einem zwielichtigen Lügendetektor-Test auf YouTube beweisen wollte, dass die ÖVP ihm 100.000 Euro für einen Seitenwechsel geboten habe. Das Ganze war so "shady", dass Puls4 die Geschichte gleich ganz fallen ließ und Der Standard auch nur abfällig darüber berichtete.

Dann ist da ein FPÖ-Nationalratskandidat, der auf WhatsApp Fotomontagen von sich versendet hat, die ihn neben Nazi-Größen unter anderem bei den Nürnberger Prozessen zeigen. Wie DerStandard.at berichtet, hat er das Ganze auch noch mit dem Text "Don't cry because it's over, smile because it happened" versehen.

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Und dann ist da außerdem noch Ursula Stenzel. Grundgütiger Gott. Die ehemalige Bezirksvorsteherin der Inneren Stadt, die sich selbst als "politisches Animal" bezeichnet, hat im 2. Bezirk die Enthüllung einer jiddischen Gedenktafel gestört: Zuerst musste sie explizit erwähnen, dass die FPÖ die Initiative unterstützt habe, dann beschwerte sie sich, weil sich der Präsident der israelitischen Kultusgemeinde Oskar Deutsch ziemlich deutlich gegen die FPÖ aussprach; ein Affront, der im Protokoll gar nicht vorgesehen war!

(Ein Freund von mir sagt gerne, Stenzel wäre mit ziemlicher Sicherheit auch die einzige, die einen "Heil Hitler"-rufenden Nationalsozialisten zuerst wegen Anstandsverletzung und Ruhestörung und dann erst wegen Wiederbetätigung anzeigen würde. Ich halte das natürlich für Wahnsinn und habe ihm für diese unschickliche Aussage einen flachen Schlag aufs Ohr verpasst. Die einzige Sprache, die diese Linken verstehen.)

Du siehst, liebes Tagebuch: Die Nerven liegen blank. Und das nicht nur bei mir. Als vorhin gerade das Internet im gesamten VICE-Haus ausgefallen ist, hat uns das in der Redaktion zu zwei Dingen veranlasst: Erstens zu einer Wette, wer bei der Wahl auf wie viele Prozent kommen wird und zweitens zu einer Debatte darüber, mit welchem Tier man am ehesten Sex hätte, wenn man müsste.

Und es sind nicht nur wir. Das ganze Land befindet sich in einem Zustand der konstanten Überreizung, wie eine Gesellschaft, der das naive Zahnpasta-Grinsen endgültig aus der Visage geschlagen wurde und die jetzt mit halb abgebrochenen Zähnen und freiliegenden Wurzeln in der Warteschlange vor den Wahlkabinen steht, statt einfach zum Arzt zu gehen.

Und glaub mir, wir alle hätten einen Arztbesuch inzwischen dringend nötig. Meine bevorzugte Anlaufstelle wäre ein Psychiater, der uns lustige Pillen verschreiben kann, damit bald alle so ausschauen wie das Herzgesicht auf Christian Kerns Mappe – mein einfacher Traum …