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Todesfälle

Wie lebt ein Boxer damit, wenn er seinen Gegner getötet hat?

Immer wieder sterben Boxer nach Boxkämpfen. Doch wie geht es eigentlich denen, die die tödlichen Schläge ausgeteilt haben?

Die Geschichte beginnt immer gleich: Ein Boxer ist zusammengebrochen.

Manchmal, wie bei Michael Norgrove, passiert es mitten im Kampf. Manchmal passiert es kurz danach, wie bei Choi Yo-sam, der sich in dem Moment nach seinem Punktsieg und der erfolgreichen Titelverteidigung vom Publikum feiern ließ.

Aber für gewöhnlich passiert es erst dann, wenn der Boxer schon lange die Umkleidekabine verlassen hat. Bei Pedro Alcázar passierte es erst zwei Tage nach dem Kampf, als er gerade eine Sightseeing-Tour durch Las Vegas, wo er zuvor seinen WM-Gürtel im Superfliegengewicht verlor, abgeschlossen hatte. Infolge einer nicht erkannten Kopfverletzung kam es bei ihm zu Gehirnblutungen, er fiel ins Koma und verstarb noch am selben Tag. Es war der erste und einzige Kampf, den er in seiner gesamten Profikarriere verlieren sollte.

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Ärzte versuchen in solchen Fällen immer alles, um das Leben des Boxers irgendwie zu retten. Doch in den meisten Fällen können auch sie nichts mehr tun: Der Kämpfer hat den wichtigsten Fight seines Lebens verloren, eine Familie trauert und der Boxsport steht mal wieder vor unangenehmen Fragen.

Dabei unterscheidet das Schicksal nicht zwischen Siegern und Verlieren. Robert Wangila und Braydon Smith waren beide Olympiasieger. Sonny Banks war der erste, dem es gelang, Cassius Clay auf die Matte zu schicken. Greg Page war ein ehemaliger Sparringspartner von Mike Tyson. Braydon Smith war im letzten Jahr seines Jurastudiums. Kein Boxer ist scheinbar davor immun. Und es ist immer tragisch.

Doch die Geschichte hat noch eine andere Seite. Denn für jeden Boxer, der im Streben nach Ruhm sein Leben verliert, gibt es immer auch einen anderen, der die tödlichen Schläge ausgeteilt hat. Klar, er ist es nicht, der infolge des Kampfes sterben musste, doch wie lebt es sich weiter, wenn man einen Menschen „auf dem Gewissen hat"? Und vor allem: Wie geht man in den nächsten Kampf? Wird man mit derselben Kraft zuschlagen, wenn man noch das Schicksal seines Vorgängers frisch im Gedächtnis hat? Und wie sieht es mit der eigenen Konzentration aus, wenn man ständig daran denken muss, dass man nächstes Mal selbst so enden könnte?

„Ich versuche damit so gut es geht umzugehen", erzählte Ray ‚Boom Boom' Mancini den vielen Pressevertretern nach seiner Rückkehr in Youngstown, Ohio. Nur wenige Tage zuvor hatte er in Las Vegas seinen WBA-Titel im Leichtgewicht verteidigen können. Man könnte glauben, „damit umgehen" spiele auf den Hype an, der auf den gerade einmal 21-jährigen Weltmeister von allen Seite einprasselte. Schließlich fand der Kampf in den für ihre Exzesse und Dekadenz bekannten 80ern statt.

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Doch mit dieser Formulierung meinte Mancini etwas ganz anderes.

„Ich bin sehr traurig und es tut mir sehr leid, was passiert ist. Zumal ich daran beteiligt war. Mir ist zwar klar, dass ich mir keine Vorwürfe zu machen habe, aber ich muss das trotzdem erstmal verdauen."

Als Mancini sprach, waren drei Tage vergangen, seitdem sein Gegner Kim Duk-koo kurz nach dem Kampf ins Koma fiel. Zu dem Zeitpunkt war Kim noch am Leben und lag in einem Krankenhaus in Las Vegas, doch schon am folgenden Tag, den 18. November 1982, erlag er seinen schweren Kopfverletzungen. Kim wurde nur 27 Jahre alt.

Mancini versuchte beim Pressetermin möglichst positiv rüberzukommen, indem er anfügte: „Ich habe jetzt nicht vor, mich aus der ?–ffentlichkeit zurückzuziehen. Ich werde mit meinem Leben weitermachen, wie ich es für richtig halte." Doch je länger er sprach, desto mehr wurde deutlich, welche psychischen Wunden der Kampf gegen Kim bei ihm hinterlassen hatte.

„Nächstes Mal könnte es mich treffen. Daran muss ich jetzt ständig denken… Ich weiß gerade nicht, ob ich wirklich weitermachen will. Boxen ist manchmal ein sehr gewalttätiger Sport. Bin ich bereit, das Risiko einzugehen? Ich bin schließlich der, der sein Leben aufs Spiel setzt. Ich bin aktuell ein mentales Wrack und kann nicht schlafen. Wer will sowas noch länger durchmachen? Ich kann keinerlei Freude spüren… Ich bin momentan nichts anderes als ein sehr ausgelaugter junger Mann."

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Mancini hat es am Ende doch noch zurück in den Ring geschafft, wo er insgesamt viermal seinen Titel erfolgreich verteidigen konnte, bis er nach zwei Niederlagen gegen Livingstone Bramble 1984 seinen offiziellen Rücktritt vom Boxsport bekanntgab (auch wenn er in den Folgejahren noch ein paar Mal in den Ring stieg).

Zu dem Zeitpunkt hatten sich schon Richard Green—der Ringrichter beim schicksalhaften Lee-Kampf—sowie Kims Mutter das Leben genommen.

Mancinis Rücktritt kam für seinen Promoter Bob Arum alles andere als überraschend. „Er war nach dem Kampf gegen Lee einfach nicht mehr derselbe", so Arum in einem Interview mit ESPN. „Er hatte nicht mehr den Schwung und den Enthusiasmus wie vorher. Seine Kampfeslust war einfach nicht mehr dieselbe."

Kims Tod war zumindest nicht „umsonst". Denn als Reaktion auf den Kampf hat man beschlossen, dass auch WM-Kämpfe maximal über 12 Runden gehen dürfen (vorher waren es 15).

Mancini scheint sich seinerseits vom tragischen Unglück Kims erholt zu haben, weil er nach seiner Boxkarriere ins Filmgeschäft ging und zudem ein erfolgreicher Geschäftsmann wurde. Auch wenn er weiterhin an den Kampf denken muss. „Der 13. November ist ein Tag der Trauer für mich", verriet er in einer ESPN-Reportage. "An diesem Tag gedenke ich jedes Jahr Kim und seiner Familie. Das wird sich auch nie ändern."

George Khalid Jones hat hingegen woanders seine Erlösung gefunden.

Jones hatte zwar nie die Klasse eines Mancini, doch auch er war ein sehr guter Boxer. Als er am 26. Juni 2001 gegen Beethaeven Scottland in den Ring stieg, galt er als vielversprechendes und bis dahin noch unbesiegtes Boxtalent. Um den nächsten Schritt in seiner Karriere zu machen, sollte Jones gegen David Telesco boxen, der sich nach seiner Punktniederlage im WM-Kampf gegen den legendären Roy Jones Jr. zurückmelden wollte. Doch Telesco musste verletzungsbedingt in letzter Minute absagen. Also musste schnell Ersatz her. Die Wahl fiel auf Scottland.

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Khalid Jones war der stärkere und bessere Boxer, doch Scottland hatte ein großes Kämpferherz und wusste, dass er nie wieder so eine Chance bekommen würde. Leider hat auch diese Geschichte kein Happyend, vor allem nicht für Scottland, der umso mehr in Bedrängnis geriet, je länger der Kampf dauerte.

„Nach dem Ende der siebten Runde ging Ringrichter Arthur Mercante Jr. in die Ecke von Scottland", erinnert sich ESPN-Journalist Tom Rinaldi. „Er würde den Kampf nicht mehr lange laufen lassen, wenn Scottland nicht mehr Gegenwehr zeigt. Doch aufzugeben kam für Scottland nicht infrage, weil Kämpfen einfach in seiner DNA steckte. Also biss er auf die Zähne und bewies bis zum Schluss beachtliche Nehmerqualitäten."

Der Schluss kam dann in der 10. Runde, als Jones seinen Gegner k. o. schlug.

Und dann nahm die Geschichte wieder ihren Lauf: Zusammenbruch, Krankenhaus, Koma, Tod. Beethaeven Scottland war gerade einmal 26 Jahre alt, als er wenige Tage nach dem Kampf starb. Er hinterließ eine Frau und drei Kinder.

Jones erste Reaktion war, die Boxhandschuhe an den Nagel zu hängen. Eine Entscheidung, die ihm nicht leicht fiel, schließlich hatte der Sport (und seine Konvertierung zum Islam, wie er stets betonte) ihn vor einem Leben am Rande der Legalität gerettet. Doch ein Anruf von Denise Scottland, der Witwe von Beethaeven, änderte alles.

Sie erzählte Tom Rinaldi, dass sie zu Jones gesagt habe, er solle sich keine Vorwürfe machen. Außerdem hätte ihr Mann gewollt, dass Jones weiterkämpft. Am Ende stieg Jones wieder in den Ring und zwischen Denise und ihm entwickelte sich eine besondere—und wohl einzigartige—Freundschaft.

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Jones schaffte zwar nie die Karriere, die ihm einige Experten vor dem Kampf gegen Scottland prophezeit hatten. Dennoch hat der Boxsport, und seine Beziehung zu Denise, sein Leben verändert.

„Ich habe vorher ein verrücktes und kaputtes Leben geführt", erzählte Jones Rinaldi. „Bis heute verstehe ich nicht, warum es nicht mich getroffen hat. Also muss es einen Grund dafür geben, dass ich überlebt habe. Ich wollte niemals hören, dass irgendjemand sagt: ‚Beethaeven wurde von einem Junkie oder Dealer getötet.' Darum habe ich mein Leben in den Griff gekriegt."

Auch andere betroffene Familien haben sich nach Unglücken dieser Art auf die Suche nach einem höheren Sinn gemacht. Wie im Fall des 2009 verstorbenen Francisco Rodriguez, dessen Familien beschloss, seine Organe zur Spende freizugeben.

„Ich glaube, er wäre enttäuscht gewesen, wenn sich all die Arbeit, die er in seinen Körper gesteckt hat, nicht irgendwie ausgezahlt hätte. Und er hätte sich gewünscht, dass sein kräftiges Herz über seinen Tod hinaus weiterschlägt", so sein Bruder Alex in einem Interview. Rodriguez' Witwe glaubt sogar, dass das, was passiert ist, „nicht umsonst war—es sollte geschehen, damit die Organempfänger überleben konnten."

Derweil versuchen die Verantwortlichen in der Boxsportszene, Unglücke dieser Art so gut es geht zu verhindern. Rund sechs Jahre nach dem Tod von Kim Duk-koo waren Titelkämpfe auf der ganzen Welt auf 12 Runden beschränkt. Weltweit—und vor allem in Asien—versuchen Boxverbände sicherzustellen, dass Athleten, die erst kurz zuvor die Gewichtsklasse gewechselt haben, nicht auf Gegner treffen, die ihnen (lebens-)gefährlich überlegen sind. Zudem wurden auch die medizinischen Standards am Ring verbessert. Nach dem Tod von Bradley Stone und James Murray hat Promoter Frank Warren die Murray-Stone-Stiftung ins Leben gerufen, mit deren Geldern MRI-Scans für alle britischen Profiboxer finanziert werden. Trotzdem kommt es immer noch zu Todesfällen.

Dass man die tödliche Gefahr nie ganz abstellen kann, ist natürlich auch den Boxern klar. Bevor feststand, dass George Khalid Jones auf Beethaeven Scottland treffen würde, soll er laut Tom Rinaldi nur einen Wunsch geäußert haben: „Gegen wen ich auch boxen muss, ich hoffe nur, dass ich ihn nicht töte." Und als Royce Feour von Las Vegas Review Kim in seinem Hotelzimmer interviewte, sah er laut eigener Aussage einen kleinen Zettel auf Koreanisch, auf dem „leben oder sterben" geschrieben stand.

Wenn der Tod also ein bekanntes und kalkuliertes Risiko ist, warum fällt es den meisten Boxern dann so schwer, nach dem Tod eines Kontrahenten wieder in den Ring zu steigen und genauso stark wie vor dem Unglück aufzutreten? Weil Tragödien dieser Art den Boxer ganz tief im Mark treffen und ihn für immer verändern. Denn wenn dein Gegner am Ende durch deine Schläge stirbt, wird aus einer vagen, theoretischen Gefahr, sein Leben zu verlieren, ein konkretes und bedrohliches ‚Nächstes mal könnte es mich treffen', wie es Ray Mancini ausgedrückt hat.

Dieser omnipräsente Hintergedanke führt bei vielen dazu, dass sie nicht mehr so zuschlagen, wie sie könnten, dass sie unterbewusst nicht mehr auf einen Knockout aus sind. Denn was wäre, wenn es noch einmal zu einer Tragödie kommen würde? Es nagt an Spaß und Leidenschaft im Kampf. Die nötige Aggression geht flöten—allesamt nicht gerade die besten Voraussetzungen, um eines Tages in einer Kampfsportart den Olymp zu erklimmen.

Denn das ist der wahre und wichtigste Kampf eines jeden Boxers nach dem Tod eines Kontrahenten: den Sinn in ihrem Leben zu erkennen, ohne dabei die eigene Karriere zu gefährden.