Parkour in Tschernobyl: Einmaliges Abenteuer oder absurder Wahnsinn?
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abenteuer oder wahnsinn?

Parkour in Tschernobyl: Einmaliges Abenteuer oder absurder Wahnsinn?

Wenn man die Todeszone von Tschernobyl betritt, kann das bis zu zwei Jahre Gefängnis bedeuten. Eine französische Parkour-Gruppe namens Hit the Road hat sich davon nicht beeindrucken lassen.

Erst 50 Tote gleich bei der Explosion, dann zehn Tage Feuer, die die Evakuierung von 350.000 Menschen nötig machten. Und dann haben bis zu einer Million Menschen vor Ort (die sogenannten „Liquidatoren") geholfen, die Katastrophe irgendwie einzudämmen, wovon mehrere Hunderttausend Menschen gestorben sein könnten. Die Überlebenden werden im Durchschnitt deutlich kürzer leben als ihre Verwandten, die nicht als Ersthelfer abbestellt wurden.

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Die Rede ist vom verheerenden Tschernobyl-Unglück aus dem Jahr 1986. Es wurde von Expertenseite gesagt, dass die betroffene Gegend für die nächsten 40.000 Jahre unbewohnbar sein wird. Trotzdem haben sich einige geweigert, ihre Häuser zu verlassen und damit buchstäblich ihr eigenes Todesurteil unterschrieben.

Oder vielleicht doch nicht?

„Hit the Road", ein Parkour-Kollektiv bestehend aus vier jungen Pariser Freerunnern, ist letzten Sommer zu den havarierten Reaktoren gereist. „Wir wollten mit eigenen Augen sehen, wie die Natur die urbanen Orte, die wir nur von Fotos und Videos kannten, zurückerobert hat", erzählt uns Clément Dumais, ein Mitglied der Gruppe, in einer Kneipe in Paris.

Dumais hat das Freerunning-Kollektiv 2012 zusammen mit Nico Mathieux und Paul RBD gegründet. Zwei Jahre später hat sich den drei Jungs mit Leo Urban ein weiterer Freerunner angeschlossen. Und kaum war die Gruppe komplett, hatten sie nur ein Ziel: den Eiffelturm erklimmen.

Ein öffentliches Schwimmbad in Pripyat, die erste evakuierte Stadt nach dem Unglück. Foto: Hit the Road.

„Nach Tschernobyl zu gehen, hat sich auf jeden Fall gelohnt", sagt Leo, „auch wenn wir nicht wirklich wussten, was wir zu erwarten hätten. Am Ende waren wir alle sprachlos". Bevor sie die Geisterstadt ansteuerten, machten sie noch einen Zwischenhalt in Kiew, um dort andere Parcours-Künstler zu treffen.

Während ihres Aufenthalts in der ukrainischen Hauptstadt suchten sie nach verlassenen Bunkern—und wurden fündig. „Dort haben wir auch die Anzüge und Gasmasken gefunden, die wir dann in die Sperrzone mitgenommen haben", verrät uns Nico und zeigt mir eine der hollywoodreifen Masken. „Die stammen alle aus dem Kalten Krieg. Wir haben sie noch originalverpackt gefunden".

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In Kiew haben sie auch jemanden kennengelernt, der schon drei-, viermal mit einem GPS-Gerät in Tschernobyl gewesen war. „Er war ortskundig und kannte die Polizei-Kontrollstellen. Vor allem wusste er, wie man ihnen aus dem Weg gehen kann", erklärt Paul. Es gibt rund um die Reaktoranlage auch militärische Kontrollstellen, die den Zugang zum Sperrgebiet abriegeln sollen. Wer ohne Erlaubnis einbricht, kann ohne richtigen Prozess im Gefängnis landen.

„Wir sind von Kiew aus zu einem Ort rund 12 Meilen vom ersten Checkpoint gefahren. Dort sind wir durch ein Loch im Zaun geklettert und losgelaufen", sagt Leo. In der ersten Nacht sind sie zwölf Stunden lang gewandert.

Am Reaktor finden noch immer Isolierarbeiten statt, was mit dem Risiko einer hohen Strahlenbelastung einhergeht. Darum gibt es dort auch die Patrouillen und das Verbot für Zivilpersonen.

„Um bestimmte Posten zu umgehen, mussten wir auch besonders verstrahlte Abschnitte durchqueren, was uns sehr beunruhigt hat", gibt Clément zu. „Als sich Leo einmal an der Hand geschnitten hat und wir die Radioaktivität mit einem Geigerzähler gemessen haben, stellten wir extrem hohe Werte fest". Ein Teil der Vegetation, mit der sie in Berührung kamen, lag 14-fach über den zulässigen Höchstwerten.

Willkommen in der „Todeszone". Foto: Hit the Road.

Der Grenzwert liegt bei 0,3mSV. Die Gruppe erlebte zwischenzeitlich bis zu 5,2 mSv in den Wäldern. Sie schliefen an Orten, wo die Radioaktivität nicht über dem Grenzwert lag, trotzdem mussten sie sehr vorsichtig sein. „Wir waren davon überwältigt, was wir sahen und wir freuten uns darauf nach Hause zu kommen", sagte Leo.

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Um nach Pripyat, der Geisterstadt drei Meilen entfernt von Tschernobyl, zu gelangen, musste Hit the Road Flüsse und Wälder überqueren und den Bahngleisen folgen. „Wir waren vom Laufen so erschöpft, sodass wir wenig Parkour gemacht haben. Wir haben hauptsächlich die Stadt und die Umgebung erkundet", erzählt Nico und schaut währenddessen auf die Turnschuhe, die er trägt. „Die Schuhe trage ich die ganze Zeit. Sie sind für Parkour sehr gut geeignet, nicht aber fürs wandern. Jedenfalls nicht für so viele Kilometer."

Die Gruppe lief fast 100 Meilen durch radioaktive Zonen in nur vier Tagen. Foto via Hit the Road

„Das Schwierigste daran war zu akzeptieren, dass wir die ganze Zeit der Strahlung ausgesetzt waren und dass wir trotzdem weiter gelaufen sind", erklärt Leo. Die Anderen nicken. Parkour ist ihr Leben: eine Disziplin, die weit über die eigenen mentalen und physischen Grenzen geht. Und genau diese Disziplin übten sie in einer der radioaktivsten Zonen des Planeten aus.

Von Paris nach Tschernobyl zu fahren, bedeutete auch, aus dem 21. Jahrhundert in die unveränderte Realität einer Landschaft der Sowjet-Achtziger zu reisen. Es ist eine unberührte Gegend: alles sieht aus wie von Familien, die flohen und nie wieder zurück kommen würden. Es gibt überall noch kommunistische Symbole.

Bäume und Pflanzen sprießen aus jeder Ecke von Pripyat. Foto vie Hit the Road

„Wir dachten, dass nach der Arbeit der Liquidatoren in Tschernobyl nicht mehr viel zu tun war. Gleichwohl haben wir realisiert, dass, wenn die Ukrainer den Ort nicht beobachten und absichern würden, die Radioaktivität sich immer weiter verbreiten würde", sagte Paul.

„Es fühlt sich an, als ob die Katastrophe eine Ewigkeit her wäre… dabei waren es nur 30 Jahre", sagt Clément noch bevor er geht

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