Die vierzehn Männer und sechs Frauen schenken dem Serienmörder an der Wand nicht mehr Beachtung als unbedingt nötig. Sie lehnen sich in die dicken, orangefarbenen Polster ihrer Stühle zurück. Die Tische bilden ein U, auf ihnen stehen Namenskarten. Vorne zwei Tafeln, an der Decke ein Beamer, an den Wänden Metallhaken – der Raum wirkt wie das Klassenzimmer einer Berufsschule in Oberursel.Die Männer und Frauen machen sich Notizen, zwei von ihnen klatschen per Fistbump ab, nachdem sie ihre Klausur zurückbekommen haben. In der hintersten Reihe snackt eine Frau Studentenfutter, neben ihr kritzelt ein Mann Notizen in einen Spiralblock. Die Powerpoint-Präsentation springt zur nächsten Folie: Grimmig blickt Fritz Haarmann – Spitzname: "Der Schlächter" – auf sie herab. Das Schwarz-Weiß-Foto des Serienmörders zeigt einen Mann mit Hitlerbart und Hut. Mindestens 24 Menschen hat Haarmann Anfang des 20. Jahrhunderts ermordet, die meisten waren minderjährige Jungs. 1925 wurde er hingerichtet. Die Schüler scheint er nicht zu beeindrucken.
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Im Nordwesten Berlins lassen sie sich zu Justizvollzugsbeamten ausbilden – als "Gefängniswärter" wollen sie nicht bezeichnet werden. Ihr Klassenzimmer befindet sich auf dem Gelände der JVA Plötzensee. Gerade werden sie in Kriminologie unterrichtet, sie beschäftigen sich mit der Frage, was Menschen zu Verbrechern macht. Schon bald wird aber aus Theorie Praxis – und die Unterrichtsteilnehmer schließen Mörder und Vergewaltiger in Gefängniszellen ein. Während der zweijährigen Ausbildung zum Justizvollzugsbeamten folgen auf einen Monat im Klassenzimmer drei Monate im Schichtdienst von Gefängnissen.
Im Klassenzimmer tragen die Schüler Uniform: dunkle Hosen und hellblaue Poloshirts, auf die das Wort "Justiz" gestickt ist. Ein paar hundert Meter weg von ihnen verbüßen 344 Häftlinge Haftstrafen in ihren Zellen.Oliver A. zum Beispiel. Der heute 47-Jährige missbrauchte 1987 eine 12-Jährige. Zehn Jahre später erschlug er einen Kumpel im Suff, im Sommer 2002 ermordete er ein Ehepaar aus Weißensee. Laut Anklage lauerte er der Tochter des Ehepaars nachts auf, verfolgte sie zu ihrem Elternhaus, brach dort ein und erstach dann Mutter und Vater in der Küche. In zwei Jahren werden die Azubis Männer wie Oliver A. betreuen, jetzt während der Ausbildung dürfen sie nur bei Gefängniswärtern mitlaufen.Justizvollzugsbeamte werden im Beruf durchaus mal mit einer Gabel angegriffen und als "Hure" beleidigt. Spätestens seitdem im Dezember und Januar neun Häftlinge innerhalb von fünf Tagen aus der JVA Plötzensee ausgebrochen sind, stehen sie in der Kritik. Zudem herrscht in den Berliner Gefängnissen Personalmangel: Mehr als 300 der fast 3.000 Stellen in acht Berliner Gefängnissen sind nicht besetzt, wie der Justizsenat VICE gegenüber bestätigte. In den nächsten zwei Jahren werden außerdem 600 Beamte in Rente gehen. Die Zellen dagegen sind gut besucht. Zu 95 Prozent sind die Gefängnisse des geschlossenen Männervollzugs in Berlin ausgelastet.
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"Wir müssen die Psyche der Täter kennen"
Auch bei VICE: Ein verdeckter Ermittler erzählt von seiner Vergangenheit
Es sind zwei Welten, die in der JVA aufeinander prallen
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Es sind überraschend differenzierte, reife Männer und Frauen, die sich da gerade auf eine Karriere im Strafvollzug vorbereiten. Fritz Haarmann, der Serienmörder, habe auch deshalb morden können, weil er zwischen zwei Weltkriegen gelebt hätte und viele seiner Opfer Straßenjungs gewesen seien, hatte in der Aussprache zum Referat vorhin ein Azubi eingeworfen. Die Schüler wirken reflektiert: Im Bewerbungsverfahren wird hart ausgewählt. Nur jeder zwölfte Bewerber wird genommen, auf die 20 Plätze des aktuellen Jahrgangs bewarben sich 2017 mehr als 250 Menschen.Kürzlich musste der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) die Bewerbungsfrist verlängern, weil sich nicht ausreichend qualifizierte Bewerber fanden. Damit sie an der JVA ausgebildet werden, müssen die Bewerber durch ein langes Bewerbungsverfahren: Ein Test fragt Allgemeinbildung, logisches Denken und raäumliches Vorstellungsvermögen ab; es folgen Gruppentest und persönliches Gespräch, eine ärztliche Untersuchung und ein Sporttest. Die Auszubildenden verdienen amtliche 1.750 Euro brutto im Monat, danach zwischen 2.000 und 3.000 Euro Beamtensold. Zum Vergleich: Tischler-Azubis kassieren zwischen 400 und 800 Euro während der Ausbildung."Es ist wichtig, sich mit den Motiven der Täter auseinanderzusetzen", sagt Nadja Berg, eine 41-jährige Mutter, die vor ihrer Ausbildung in einem Autohaus gearbeitet hat. "Wir müssen die Psyche von Intensivstraftätern kennen – oder Konflikte von rivalisierenden Rockergangs kommen sehen, wenn sie im Vollzug aufeinandertreffen."Berg arbeitet während der Ausbildung im offenen Vollzug. Dort trifft sie täglich auf verurteilte Häftlinge, die sich frei bewegen können. Im Umgang mit ihnen benötige es viel Menschenkenntnis und Empathie, sagt sie. Nur jeder zwanzigste Häftling in Berlin ist weiblich – aber etwas mehr als 30 Prozent der 288 Auszubildenden in Berlin sind Frauen.
Kaffee im Besucherraum, Süße?
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Dabei sei sie als Frau im Vollzug unverzichtbar, meint Nadja Berg. Zum Beispiel, wenn sie Frauen abtasten oder mit männlichen Häftlingen über Themen wie Trennung und Schwangerschaft sprechen müsse. Eine Liebeserklärung habe sie während ihrer Arbeit zwar noch nicht bekommen, sagt Berg, es komme aber vor, dass Häftlinge sie auf einen Kaffee im Besucherraum einladen. Berg ist schmächtig, sie spricht mit gefasster Stimme, während sie ihre Schultern nach hinten durchdrückt. Sie macht nicht den Eindruck, als fürchtete sie sich vor den tätowierten Kriminellen auf der anderen Seite des Hofes. Im Notfall wüsste sie sich auch zu wehren.